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'Fake News'-Debatte: Warum wir die Wahrheit nicht relativieren dürfen

Ein Kommentar von Stefan Niggemeier.

Was "Fake News" sind, ist theoretisch nicht einfach zu beantworten, aber im Alltag ganz leicht zu definieren: "Fake News" sind immer die anderen.

"Fake News" sind das, was die politischen Gegner verbreiten, die Trolle in Russland, die komischen Kids in Mazedonien, die dubiosen Internetseiten, die Reporter, die Donald Trump mit lästigen Fragen nerven. Der Begriff "Fake News" ist schon kurz nach seiner Ankunft im allgemeinen Sprachgebrauch ein Kampfbegriff geworden: Er wird nicht mehr benutzt, um ein konkretes, klar umrissenes Phänomen zu beschreiben, sondern um ihn jemandem um die Ohren zu schlagen.

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Folgt Motherboard auf Facebook, Instagram, Snapchat und Twitter

In diesem Sinne lässt sich der Begriff "Fake News" auch gut fürs eigene Marketing benutzen. Verlage werben damit für sich, dass sie keine "Fake News" verbreiten. Regionalzeitungen schmücken sich mit dem Satz des SPD-Politikers Sigmar Gabriel: "Wer etwas gegen 'Fake News' machen will, soll einfach Regionalzeitungen abonnieren." Mathias Döpfner, der Präsident des Zeitungsverlegerverbandes, sagt: "'Fake News' ist eben nicht professioneller Journalismus, sondern genau das Gegenteil", und das stimmt natürlich. Aber es klingt gleichzeitig auch nach: Wir machen sowas nicht. "Fake News" erkennt man ganz einfach daran: dass sie die anderen verbreiten.

Schön wär's. In Deutschland hat die Bild-Zeitung einen jahrzehntelangen Vorsprung im viralen Verbreiten von Falschmeldungen, der von den schlimmsten "Fake News"-Online-Schleudern erst einmal aufgeholt werden muss. In Großbritannien gibt es das besonders eindrucksvolle Beispiel, dass viele hartnäckige Mythen über den angeblichen Irrsinn der EU Anfang der neunziger Jahre von einem jungen Brüssel-Korrespondenten des vermeintlich seriösen Daily Telegraph in die Welt gesetzt wurden. Sein Name: Boris Johnson – heute ist er Außenminister.

Auch große Medien verdienen kritische Aufmerksamkeit

Als das Recherchebüro Correctiv Anfang des Jahres als erste Redaktion in Deutschland bekannt gab, in Zusammenarbeit mit Facebook gegen "Fake News" kämpfen zu wollen, klang es, als müsse man sich um die etablierten Medien gar nicht kümmern. Die seien eher "Vorbilder im Umgang mit Falschmeldungen als Objekte der Fake-News-Entblößung", hieß es damals. Das war treuherzig.

Nicht nur, weil die etablierten Medien eine lange eigene Tradition der Falschmeldung haben, sondern weil die neuen Mechanismen, die die Verbreitung von Falschmeldungen begünstigen, für alle gelten. Deshalb ist es eine gute Idee, sich bei einer Untersuchung von "Fake News" auf Facebook nicht auf die üblichen Verdächtigen zu konzentrieren.

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Dass die irre Verschwörungstheorie sich besser verbreitet als die traurige, gefährliche Wahrheit über jemanden, der auf sie hereinfiel und deshalb mit einer Waffe ein Restaurant stürmte, zeigen die Zahlen der von "Epoch Times" geteilten "Pizzagate"-Geschichten.

"Fake News" – das zeigt die Auswertung von Motherboard – zahlen sich aus. Auf Facebook lohnt es sich, eine Geschichte zu versprechen, die nicht oder nicht ganz stimmt: Sie wird dann häufiger geteilt, findet größere Verbreitung. Das ist natürlich weder eine Überraschung noch eine neue Erfahrung. Journalisten haben immer schon versucht, ihre Nachrichten möglichst aufregend klingen zu lassen, damit sie sich besser verkaufen. Die gleiche Strategie gilt auch im Social Media-Zeitalter – nur, dass der Effekt sich dadurch noch potenziert, dass der eingefangene Leser die Schlagzeile durch einen Klick gleich noch weitervertreibt. Die mächtigsten "Fake News" sind die, die unglaublich erscheinen, aber bestätigen, was wir immer schon geahnt haben. Sie geben einem vorhandenen Vorurteil eine neue Dimension.

Es ist, einerseits, schwer, der Verführung zu widerstehen, von solchen klicktreibenden Tricks Gebrauch zu machen. Insbesondere wenn sich ihre Wirkung mit modernen Analysetools, die wie Chartbeat die eigene Reichweite in Echtzeit anzeigen, sofort messen lässt. Andererseits sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, den Boden der Wahrhaftigheit nicht zu verlassen, wenn das Geschäft der Journalismus ist und nicht die Propaganda und auch nicht die Klickmaximierung.

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Nicht jede falsche Zuspitzungen zahlt sich gleichermaßen aus

Zwei Posts von RT Deutsch, links aus Kategorie C, rechts aus Kategorie A. Screenshots: Facebook

Was bringt die Übertreibung, die aus einer wahren Aussage eine unwahre macht? Die Wirkung ist nicht immer so groß, wie ich sie erwartet hätte. Es wundert mich nicht, dass ein Artikel mit der (falschen) Überschrift "Europa verabschiedet sich von der Pressefreiheit" der meistgeteilte bei RT Deutsch im Untersuchungszeitraum war. Es wundert mich, dass der Artikel mit der (richtigen) Überschrift "EU-Parlament stimmt für Resolution, die zum Kampf gegen 'russische Propaganda' aufruft" nur ein paar Dutzend Mal seltener geteilt wurde.

Dass die irre Verschwörungstheorie sich besser verbreitet als die traurige, gefährliche Wahrheit über jemanden, der auf sie hereinfiel und deshalb mit einer Waffe ein Restaurant stürmte, zeigen die Zahlen der von "Epoch Times" geteilten "Pizzagate"-Geschichten.

Screenshot: Facebook

Bezeichnend ist auch, dass es eine (falsche) Geschichte über die Abschaffung von Weihnachten unter die meistgeteilten Facebook-Posts im Untersuchungszeitraum geschafft hat: "Wir sind ein muslimisches Geschäft" heißt es in dem Facebook-Anreißer der Huffington Post. Der Anreißer baut auf der Mär auf, dass seit ein paar Jahren an allen Stellen im Land alles, was mit Weihnachten und unserer traditionellen christlich-hyperkommerziellen Version davon zu tun hat, im vorauseilenden Gehorsam entfernt wird. Dieser Glaube wird durch immer neue und überwiegend falsche oder mindestens missverständliche oder übertriebene Beispiele genährt.

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Das Beispiel zeigt auch, dass es falsch ist, sich beim Kampf gegen "Fake News" auf die Facebook-Mechanismen und die einzelnen übertriebenen Schlagzeilen zu konzentrieren. Die erfolgreichsten Lügengeschichten stehen auf den Schultern vieler vorhergehender Lügengeschichten.

Man weiß als Journalist oft nicht, was die "Wahrheit" ist, aber man kann anerkennen, dass es sie gibt und sie nichts Relatives ist: Man kann versuchen, ihr so nahe wie möglich zu kommen.

Auch dabei spielt wieder Bild eine größere Rolle: Immer wieder sind es ihre Aufreger-Geschichten, die von anderen Medien geteilt werden, im schlimmsten Fall noch weiter zugespitzt. Klassische übertrieben reißerische, irreführende oder falsche Medien-Meldungen sind oft der Treibstoff für die "Fake News"-Maschine Facebook.

Bei Medien wie RT Deutsch oder Sputnik kommt natürlich noch ein klarer propagandistischer Spin hinzu.

Den Verführungen der Verzerrung widerstehen

Nach der Auswertung von Motherboard sind von den untersuchten nachrichtlichen Facebook-Posts rund zehn Prozent falsch, rund zwanzig Prozent "na ja". Das ist ein erschreckend hoher Wert. Aber auch die 15 bzw. 11 Prozent, die bei Focus Online Politik bzw. Bild als irreführend oder falsch klassifiziert wurden, sind viel zu hoch.

Das Beispiel Spiegel Online zeigt, dass es kein Naturgesetz ist, dass jedes sechste oder neunte Ei faul sein muss. Es ist keine unvermeidliche Tatsache, dass ein erheblicher Teil dessen, was ein Nachrichtenmedium auf Facebook postet, ein bisschen "drüber" ist, weil es so verführerisch ist. Diese Kritik bedeutet nicht, dass nicht auch Fehler passieren dürfen. Die werden immer vorkommen. Es bleibt aber, wie es immer war, eine bewusste Entscheidung und ein Ausdruck von Qualität, ob ein Medium sich der Wahrheit verpflichtet fühlt.

Und damit fängt es an: Als Nachrichtenseite dem Leitmotiv, die Wahrheit zu berichten, zu folgen. Ja, den Wert der Wahrheit nicht zu relativieren. Obwohl es im Nachrichtenalltag unübersichtlich, schnell und schmutzig zugeht. Man weiß als Journalist oft nicht, was die "Wahrheit" ist, aber man kann anerkennen, dass es sie gibt und sie nichts Relatives ist: Man kann versuchen, ihr so nahe wie möglich zu kommen. Und man kann anerkennen, dass Kategorien wie "richtig" oder "falsch" klare Kategorien sind und keine subjektiven Labels.

Damit fängt es an.

Autorenbild: Imago