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Ein müdes, polarisiertes Österreich – Die letzten Tage des Wahlkampfs

Ist Österreich ein gespaltenes Land? Wir waren die letzten Tage viel unterwegs, und können sicher sagen: Es ist ein bisschen komplizierter. Wie so oft.

Foto der FPÖ-Wahlparty nach der Wien-Wahl. Von Hanna Herbst.

"It was the best of times, it was the worst of times", hätte Charles Dickens gesagt. Wochen der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: Es war der Frühling der Hoffnung und der Wahlkampf der Verzweiflung.

Fünf anstrengende, zehrende Monate Wahlkampf liegen hinter der oft so gemütlichen Republik Österreich. Und in dem lang erwarteten Moment, auf den seit Monaten alles hingearbeitet hat, passiert erstmal nichts. Die Balken schnellen gleich hoch. Die Entscheidung muss vertagt werden. Als hätte das Schicksal einen besonders grausamen Humor.

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Egal, welche Zeitung oder Nachrichtenseite man gerade öffnet, man kann der Analyse vom "gespaltenen Land" kaum entkommen. Sie ist ja auch nicht falsch. Aber Polarisierung hat es immer wieder gegeben, sie ist nur für sehr junge Menschen wirklich neu. Neu ist, dass das Land nicht nur gespalten ist. Es ist vor allem auch sehr, sehr müde.

Donnerstag, drei Tage vor der Wahl. Vor dem Deserteursdenkmal in Wien findet die letzte Demonstration gegen den freiheitlichen Kandidaten Norbert Hofer statt. Es treten Bands auf, Maximilian "Bezirkowitsch" Zirkowitsch hält eine Rede, es gibt Trommler, Ordner, Schilder, Meinungen. Es ist eigentlich alles da, was es für eine gescheite Demo für gewöhnlich braucht. Aber es fehlt ein bisschen das Feuer. Das ist ein überzeugter, leicht müder Haufen von ein paar Hundert Leuten, der sich am Ballhausplatz versammelt hat. Kaum zu glauben, dass man im Nachhinein mal geglaubt hat, diese Demo könnte eine Wahlhilfe für Hofer sein.

Ja, es gibt natürlich Warnungen, Wahlaufrufe, Widerstand. Aber irgendwie schienen sich viele innerlich damit abgefunden zu haben, dass ein Freiheitlicher Bundespräsident werden könnte. Dafür war der Schock nach dem überraschend großen Abstand im ersten Wahlgang vielleicht auch einfach zu groß.

Eine seltsame Stimmung hat das Land in Besitz genommen. In den sozialen Medien toben Schlachten. Menschen werfen alle Hofer-/Van der Bellen-Wähler aus ihren Newsfeeds, nur um danach Wahlaufrufe für Hofer/Van der Bellen zu posten, die nur Menschen lesen, die ohnehin sicher Hofer/Van der Bellen wählen würden. Aber die wirklichen Spaltungen im Land sind wie so oft viel komplizierter. Wer sie sehen will, muss genauer hinschauen.

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Auch auf seinem eigenem Wahlkampfabschluss spielt Hofer nur die zweite Geige.

Freitag, zwei Tage vor der Wahl. Am Viktor-Adler-Markt in Favoriten begeht die FPÖ ihren traditionellen Wahlkampfabschluss. Zwischen Burger King, Ein-Euro-Shops und dem "Yves Rocher" quetschen sich eine Bühne, Pavillons und viele, viele blaue Luftballons. Trotz des guten Wetters ist der Massenansturm ausgeblieben. Es sind maximal 1000 Menschen, zwischen der Menge und dem Ende des abgesperrten Bereich hinten ist doch eine größere Lücke geblieben. Die John-Otti-Band, die Hauskapelle der FPÖ, spielt seit anderthalb Stunden Udo-Jürgens-Medleys und Seiler & Speer, als Norbert Hofer die Bühne betritt. Er redet erstaunlich leise. Es geht recht schnell um die Angriffe auf seine Familie, die Angriffe aus dem ORF, den Teil des Landes, der sich gegen ihn zusammenrottet. Die Zeit wird die Rede einen Tag später treffend als „Opferfest" beschreiben.

Auch wenn es vereinzelt zu „Hofer! Hofer!"-Sprechchören kommt, spielt er auch bei seinem eigenen Wahlabschluss nur die zweite Geige. Hofer spult das Programm routiniert ab, bleibt—eventuell auch angesichts der zahlreichen internationalen Journalisten—in seinem freundlichen, biederen Abteilungsleiter-Modus, bei dem man sich immer ein bisschen fragt, wie es sein kann, dass dieser Mann eventuell bald einem Land vorsteht und nicht einer Billa-Filiale in Pinkafeld.

Direkt nach Hofer stapft Parteichef Strache auf die Bühne, um den Mann fürs Grobe zu geben. Während Nofer den ORF-"Skandal" vom Vorabend noch mit einer Schmerzensmadonna-Geste angesprochen und einem Seitenhieb versehen hat ("Wisst ihr, liebe Freunde: Sowas tut weh. Aber ich bin froh, dass wir in Österreich eine freie Presse haben. Anders als in der Türkei."), schlachtet ihn Strache genüsslich 10 Minuten lang aus. Alle sind gegen die FPÖ. Aber das reiche nicht, weil die Partei ja das Volk auf ihrer Seite habe. Das Narrativ der Schickeria, der "Hautevollee" des Systems, die sich gegen den Kandidaten der Menschen, des Volks stelle, taucht an diesem Tag in allen Reden auf. Dass natürlich auch Schauspieler und Musiker Menschen, Bürger und Wähler sind, fällt dabei unter den Tisch. Genauso wie die Tatsache, dass sich Vizebürgermeister Johann Gudenus, Absolvent des Theresianums und der Diplomatischen Akademie, vielleicht nicht ganz so laut über "die Eliten" beschweren sollte. Strache redet über eine Stunde, bei Hofer waren es nur 25 Minuten. Er hat die Menge im Griff. Strache ist kein begnadeter Populist, aber ein guter. Es sind die Kleinigkeiten, die das zeigen. Hofer beschwert sich gelegentlich, "den Steuerzahler" koste dies und das zu viel Geld. Strache sagt immer "euch Steuerzahler".

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In einer Stunde kann man viel reden, und das tut der FPÖ-Parteichef auch. Nicht alles interessiert die Leute, die mit den rot-weiß-roten "Donaustadt für Norbert Hofer!"-Schildern vor der Bühne stehen. Wenn es um Unternehmenssteuern geht, steigen sie aus. Besonders frenetischer Jubel brandet dann auf, wenn es um die U6 geht, um kriminelle Flüchtlinge, um Vergewaltigungen durch Asylbewerber. Dann schreien die Menschen, und die roten Köpfe der älteren Männer werden noch roter. Höchstwahrscheinlich hat niemand hier irgendetwas von diesen Dingen live jemals mitbekommen. In der "No-Go-Area" rund um den Brunnenmarkt in Ottakring wird Van der Bellen am Sonntag 83 Prozent bekommen. Aber für die Wut im Bauch ist das unerheblich.

Parallel zu den wütenden Menschen am Viktor-Adler-Markt lassen sich in den sozialen Netzwerken durchaus kluge Menschen darüber aus, dass es doch OK wäre, weiß—also bewusst ungültig—zu wählen. Man sei halt mit keinem der angebotenen Kandidaten zufrieden. Und in Amerika kristallisiert sich immer mehr heraus, dass der Kern der Trump-Wähler nicht aus sozialen Verlierern besteht, sondern aus einer Mittelschicht, die den Abstieg fürchtet. Das ist das Stimmungsbild im Mai 2016. Die westliche Demokratie ist nicht kaputt, aber erschöpft. Unten ist die Wut, in der Mitte die Angst, noch weiter oben die Ungeduld.

Das Gefühl, dass am nächsten Tag irgendwas zu Ende gehen könnte, ohne zu wissen was.

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Samstag, der Tag vor der Wahl. Am Heldenplatz haben sich die Anhänger Van der Bellens zu einem "Presidential Rave" versammelt. Das heißt im Klartext: Ein Sound-System steht zwischen der Hofburg und dem Reiterdenkmal, DJs legen auf, eine Moderatorin motiviert gelegentlich. Junge Menschen trinken Bier, sitzen im Gras und rauchen selbiges. Ein paar versprengte Wahlhelfer vom Team Van der Bellen gehen unmotiviert durch die Reihen. Verständlich: Wer hier ist, würde sich wohl nie für einen Norbert Hofer entscheiden. Die Gefahr ist eher, dass Leute nicht hingehen oder ohnehin aus Paderborn zum Publizistikstudium nach Wien gekommen sind.

Am Morgen ging ein Foto von Hitlergrüßen auf der FPÖ-Abschlußkundgebung des Vortags durch die Newsfeeds. Routinierte Empörung, die schnell wieder abflaut. Der amerikanische Journalist David Roberts hat vor ein paar Tagen auf Twitter das Phänomen des "Outrage Fatigue" beschrieben. Wenn eine Organisation oder Partei fast jeden Tag etwas tut, was eigentlich eine lange Auseinandersetzung nach sich ziehen müsste, stößt das System an seine Grenzen. Der politmediale Komplex verfügt nicht über die institutionellen Kapazität, mit Ungeheuerlichkeiten in so hoher Schlagzahl umzugehen.

Dieses Phänomen hat sich die FPÖ, ob bewusst oder unbewusst, über Jahre hinweg zunutze gemacht. Es gibt einen sinnvollen Ablauf, wie man mit Skandalen umgehen sollte. Aufregung—Beruhigung—Nachdenken—eventuelle Konsequenzen. Wenn aber nach der Aufregungsphase schon die nächste Ungeheuerlichkeit ins Haus flattert, verkommt die notwenige Auseinandersetzung mit Skandalen zur Schnappatmung. Und es ist sehr schwierig, aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden.

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Am Heldenplatz tanzen die Menschen, jubeln, wedeln mit gelben Ballons herum. Sie haben sich Van der Bellen-Buttons angeheftet. Und sind doch sehr skeptisch, wenn man sie direkt fragt. Das könne sich eigentlich nicht ausgehen, sagen viele. Und so ist das Ganze hier gleichzeitig sehr viel: Wahlkampfveranstaltung, eine Party, eine Selbstvergewisserung. Und vielleicht auch schon ein klein bisschen eine Entschuldigung. An uns hier hat es zumindest nicht gelegen.

Die Sonne senkt sich langsam. Es hängt ein bisschen was in der Luft. Die Leute spüren, das morgen etwas zu Ende gehen könnte. Also vielleicht. Und es weiß niemand so genau, was. „Solange es noch Hoffnung gibt, darf man sie nicht aufgeben", sagt mir eine junge Studentin im Blumenrock und Sonnenbrille. Ein gutes Motto, eigentlich.

Die Schickeria, die Größe der Spritzer und die Wien-Frage.

Sonntag, der Tag der Wahl. Um 17:00 Uhr schnellen die Balken hoch, und das Land weiß nicht genau, was es mit diesem Ergebnis jetzt anfangen soll. Die Entscheidung ist vorerst ausgefallen. Und doch sind die Leute im Palais Auersperg, wo Van der Bellens Wahlparty stattfindet, ziemlich zufrieden. Nach dem 24. April hätte man ja auch damit rechnen müssen, dass der FPÖ-Kandidat durch das Land fegt. Auch die Grünen, mit denen man redet, sind vorsichtig optimistisch. Niemand weiß, wie es ausgehen wird. Aber die knapp 60 Prozent für Van der Bellen bei den Wahlkarten, das sei im Bereich des Möglichen.

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Durch die Hallen des Palais brandet immer wieder Jubel, wenn sich nach neuen Hochrechnungen Van der Bellen ein bisschen nach oben schiebt. Aber sonst gibt man sich überwiegend der Erleichterung hin—auch weil recht schnell klar ist, dass es erst am Montag ein Ergebnis geben wird, Familien sitzen in der Wiese, Kinder rennen herum, der Spritzer in Weingläsern perlt. Wenn man sich die Erzählung der letzten Wochen zu eigen machen möchte, ist das hier das helle, das weltoffene Österreich. "Ich hab für Van der Bellen gekämpft, weil ich so leben möchte", erzählt jemand. Man kann das aber natürlich auch anders erzählen, wenn man böse sein will: Die relativ gut verdienende, liberale Schickeria trifft sich in einem 300 Jahre alten, prunkvollen Barockpalais, eine möglichen Sieg über den Kandidaten der einfachen Leute zu feiern, der ein paar Kilometer weiter seine Anhänger auf volkstümlichem Terrain begegnet.

Im Alpendorf im Prater, einem Biergarten mit Pseudo-bayrischer Gemütlichkeit, in dem auch die Identitären letztes Jahr den Abschluss ihrer Kundgebung feierten, kommen die Spritzer in 0,5l-Krügen. Und das Bier geht auch nicht schon um 18:30 Uhr das erste Mal aus. An den Tischen sitzen die klassischen FPÖ-Kader: Männer in Sakko und Jeans, mit einer hohen Dichte an Einstecktüchern, Gelfrisuren und blondierten Begleitungen. Um sie herum hat sich ein Spalier aus nationalen und internationalen TV-Journalisten gebildet, die jetzt um ihre Story umgefallen sind und jeden interviewen, der nicht bei drei auf den Bäumen ist.

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Das sagen Norbert-Hofer-Wähler in eigenen Worten über ihre Motive

Die unvermeidliche John-Otti-Band spielt routiniert ihr Programm ab und schüchtert zwischendurch die Medien ein, indem sie gelegentlich ins Mikro kommentiert, was Journalisten gerade machen. Das ist alles auf einer halbwegs scherzhaften Ebene, aber natürlich verfolgt ein Aufruf an die Menge wie "Schaut mal rechts da unten. Das ist der ORF. Der filmt immer dann mit, wenn wir etwas sehr Heimatverbundenes spielen" das Ziel, dass sich die Journalisten nicht zu sicher fühlen, während sie ihrer Arbeit nachgehen.

Die Stimmung bei der FPÖ ist vordergründig gut, aber ein wenig gedrückt. Die Redner bereiten die Leute sehr subtil darauf vor, dass es sich eventuell nicht ausgehen könnte. Der Europaparlamentarier Harald Vilimsky redet viel davon, dass das ein starkes Symbol für die freiheitliche Bewegung und ihre Politik sei, "unabhängig, wie das Endergebnis dann ausschaut". Niemand würde hier in eine Kamera oder ein Mikro zweifeln, aber insgesamt fallen die Beteuerungen, wie super das auch bei einer Niederlage gewesen sei, doch zwei, drei Mal zu häufig.

Der Star des frühen Abends ist Johann Tschürtz von der FPÖ Burgenland, wo Hofer mehr als 60 Prozent geholt hat. Natürlich auch, weil Hofer Burgenländer ist. Auf der Bühne dürfen er und der Kärtner Darmann ausführlich und lange ihre guten Bundesländerergebnisse loben. Auch, wenn das hier niemand so offen sagt, ist das natürlich auch eine kleine Spitze gegen Wien. Sollte Hofer am Ende hinten liegen, hat die FPÖ Wien Erklärungsbedarf. Die 37 Prozent sind ein wirklich mageres Ergebnis. Das schlechteste aller Bundesländer. Holt man hier ein oder zwei Prozent mehr, ist die Sache gegessen. An dem Abend sind mehrfach gedämpfte, aber emotionale Diskussionen darüber zu hören, was denn in Wien schief gelaufen sei. Darüber wird zu reden sein. In welchem Ton, wird der Montag entscheiden.

Auf der Bühne malt Vilimsky die große Verschwörung des Systems an die Wand. Alle wären gegen sie gewesen. Man hätte Hofer am Anfang ja nur 10 bis 15 Prozent zugetraut. Das ist natürlich Blödsinn, aber eine wichtige Erzählung. Denn ob ein Ergebnis als gut oder schlecht wahrgenommen wird, liegt ja nicht an objektiven Kriterien, sondern ist eine Frage der Erwartungen. Eine mögliche Hofer-Niederlage in der Stichwahl ist vom Jänner aus gesehen ein Riesen-Erfolg. Vom 24. April aus gesehen schon deutlich weniger. Lustigerweise wird später auch Van der Bellen im Palais Auersperg genau dieselbe Erzählung vom Underdog, der sich in den letzten vier Wochen zurückgekämpft hätte, bemühen. Gerade in diesem langen Wahlkampf mit seinen Favoritenwechseln kommt es ganz entscheidend darauf an, wo ich den Bezugspunkt setze.

Es gibt kein gutes und kein böses Österreich, aber eine Menge Bruchlinien.

Es geht ein Riss durch Österreich. Genauer gesagt sind es viele kleine Risse, die von dem bemühten Bild des weltoffenen auf der einen und des engstirnigen Österreichs auf der anderen Seite nur unzureichend erfasst werden. Man braucht sich nur die Ergebnisse des zweiten Wahlgangs anzuschauen. Männer wählten zu 60 Prozent Hofer, Frauen zu 60 Prozent Van der Bellen. Bei Menschen mit (mindestens) Matura kam Van der Bellen auf knapp 75 Prozent. 86 Prozent der Arbeiter entschieden sich für Hofer. Und natürlich die geographischen Unterschiede: Van der Bellen gewinnt die Ballungsräume und die Blase Wien, während Hofer auf dem Land konkurrenzlos ist. Das sind sehr viele kleine Bruchlinien. Vieles davon ist erklärbar und auch nicht wirklich neu. Kein gutes vs ein böses Österreich. Aber das Gesamtbild hakt.

Wie geht es aus? Das kann aktuell niemand sagen. Am Montag zwischen 17:00 und 19:00 Uhr wissen wir mehr. Aber egal, wie es ausgeht: Man wird miteinander reden müssen. Man kann nicht 50 Prozent eines Landes verdammen. Zumindest nicht auf die Dauer. "Jeder Wahlkampf reißt Gräben auf. Danach gilt es, diese wieder zuzuschütten", sagt Van der Bellen bei seiner Pressekonferenz. Nicht unschaffbar. Aber eine Mammutaufgabe.

Der Autor ist auf Twitter: @L4ndvogt