Menschen

Menschen erzählen, wie ihnen Fremde das Leben gerettet haben

"Ein durchschnittlicher Weißer Mann, fast schon unscheinbar, verhinderte, dass mich betrunkene Neonazis auf U-Bahn-Gleise schubsten."  – Christiana aus Wien 
Eine düstere U-Bahn-Station
Foto: Imago Images | CHROMORANGE

Machen wir uns nichts vor, 2020 ist ein beschissenes Jahr. So richtig gute News gibt es gerade keine. Die ganze Welt leidet unter einer Pandemie. Wir haben weder das Patriarchat gestürzt noch strukturellen Rassismus besiegt. Donald Trump bezeichnet seine Infektion als einen Segen Gottes, eine junge Frau erlebt einen Shitstorm, weil sie sagt, sie vermisse Partys – und wir wissen noch immer nicht, was wirklich bei Britney abgeht.

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Um unter dieser Lawine an schlechten Nachrichten nicht zu ersticken, haben wir Geschichten von Menschen gesammelt, denen Fremde das Leben gerettet haben. So verliert man den Glauben an die Menschheit vielleicht doch nicht ganz.


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Nina, 22, Studentin aus Mannheim

Ich war mit 18 mit meiner Mutter und meinem zwei Jahre jüngeren Bruder in Italien im Urlaub. Mein Bruder und ich stritten und ich ging daraufhin alleine ins Wasser. Anscheinend war ich schon eine Weile weg, denn ich habe zunächst nicht mitbekommen, dass die beiden nach mir suchten und meinen Namen riefen.

Die Wellen waren ziemlich hoch und ich weiter draußen, als ich geschätzt hatte.

Als mich meine Familie entdeckte, sprang mein Bruder direkt ins Meer, um mich rauszuholen. Ich wollte seine Hilfe erst nicht, wegen unseres Streits. Ich dachte, ich kann ohne große Schwierigkeit wieder raus und schwamm in Richtung Strand. Bis ich bemerkte, dass ich mich zwar mit vollem Körpereinsatz bewege, aber nicht vom Fleck kam. Da hatte ich zum ersten Mal Angst. Die Wellen zogen mich immer weiter raus – und meinen Bruder auch.

Ich sah mich um, die Wellen schienen höher zu werden. Mein Bruder war direkt neben mir, hielt mich fest, aber immer ging einer von uns unter. Versuchte er, mich hochzuziehen, blieb er dabei selbst nicht über Wasser. Ich hatte nur noch Panik.

Mittlerweile versuchten Rettungsschwimmer, mit einem kleinen Tretboot zu uns zu fahren, das klappte aber nicht. Sie kamen nicht voran, die Strömung war zu stark. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie verzweifelt meine Mutter am Strand stand.

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Dann sprang ein Mann ins Wasser, zusammen mit drei Jungs. Sie schwammen auf uns zu, der Mann packte mich. Ich war zu diesem Zeitpunkt völlig am Ende. Mein Bruder kam gut voran, jetzt, wo sich der Mann um mich kümmerte. Er zog mich ans Land und wir landeten auf einem Strand, Hunderte Meter weg von dem Abschnitt, an dem ich ursprünglich ins Wasser gegangen war.

Paul, 26, Student aus Wien

Ich hatte meinen Führerschein gerade vier Wochen und war auf einer Geburtstagsparty im Nebendorf eingeladen. Mein Plan war es, mein Auto stehen zu lassen. Ich trank drei, vier Bier und war schon leicht angetrunken, als ein Joint rumging. Ich wusste nur leider nicht, dass das kein normales Weed war sondern Spice, eine Droge aus synthetischen Cannabinoiden. Ich dachte aber noch, dass das Gras komisch schmeckte.

Nach ein paar Zügen war ich komplett hinüber. Ich hatte Kreislaufprobleme, Schweißausbrüche, Zitteranfälle und dann kam der Filmriss: Ich kann mich bis heute nicht an die zehn Stunden danach erinnern. Alles, was danach passierte, wurde mir erzählt.

Ich benahm mich anscheinend ziemlich daneben auf der Party, zerstörte Gegenstände und pöbelte Menschen an. Freunde haben mir erzählt, dass sie mich festhalten mussten und nicht verstanden, was los war. So kannten sie mich gar nicht.

Gegen vier Uhr morgens hatte ich dann die glorreiche Idee, mich ins Auto zu setzen. Ich schaffte ganze 300 Meter – keine Ahnung, wie. Es war minus zehn Grad kalt, die Scheiben waren vereist. Ich landete auf einer Verkehrsinsel im nächsten Kreisverkehr.

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Entweder schlug ich mir den Kopf am Lenkrad an oder ich pennte einfach weg, ich war auf jeden Fall bewusstlos. Es kamen schon die ersten Menschen zum Kreisverkehr, machten Fotos von meinem Auto, als ein Taxifahrer aus seinem Auto sprang und zu mir eilte.

Er zerrte mich raus und in diesem Moment soll ich aufgewacht sein. Der Taxifahrer erzählte mir später, dass ich auf ihn eingeschlagen hätte und dass er mich überwältigen musste, auch, um an meinen Autoschlüssel zu kommen. Als ich mich kurz beruhigt hatte, parkte er mein Auto um, steckte den Schlüssel ein und fuhr mich ins Krankenhaus.

Ich wachte am nächsten Morgen im Krankenhaus auf, ohne irgendetwas zu erinnern. Das medizinische Personal informierte mich über meine psychotische Episode, gab mir ein Antipsychotikum und ich durfte heim.

Sara, 23, Studentin aus Hannover

Ich machte gerade ein Auslandsjahr in Tel Aviv. Ich stand mit Kopfhörern an einer Bushaltestelle, direkt dahinter war ein Haus ohne Eingangstür, dafür aber mit einem dunklen, schweren Vorhang. Ich kann mich noch erinnern, dass viele Männer ein- und ausgingen, während ich auf den Bus wartete. Ich vermute, das war ein Bordell.

Ein alter, gebeugt gehender Mann kam auf mich zu und fragte auf Hebräisch, ob ich für ihn nachsehen könnte, ob seine Buslinie Verspätung hat. Er sprach sehr leise , also näherte ich mich ihm und sah auf meinem Handy für ihn nach. Auf einmal packten mich von hinten zwei junge Männer und zogen mich weg, in Richtung des Hauses hinter der Bushaltestelle.

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Die Straße war stark befahren, ich bin mir sicher, Menschen haben das mitbekommen, aber niemand half. Weil ich zu geschockt war, schrie ich nicht. Ich versuchte aber, mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die beiden Männer zu stemmen.

Da fing ein Taxifahrer an, laut zu hupen. Er schrie aus dem Beifahrerfenster, dass sie mich loslassen sollten oder er die Polizei rufen würde. Die beiden liefen davon, der Taxifahrer stellte sein Auto ab und kam zu mir. Ich war noch immer vollkommen perplex.

Er fragte mich, wie es mir geht und ob ich die Männer kenne. Ich verneinte. Er fuhr mich zur Arbeit, ohne dass ich dafür bezahlen musste.

Ich habe mich nie bei dem Taxifahrer gemeldet und bedankt. Er hat mir vielleicht mein Leben gerettet und ich bin ihm unendlich dankbar, auch wenn ich das erst im Nachhinein wirklich verstanden habe.

Anna, 36, Wien

Ich war mit einer Freundin im Kino verabredet, wir wollten uns Friends with Benefits ansehen. Es lief noch Werbung, als ich plötzlich merkte, wie es losgeht: Ich hatte einen schweren epileptischen Anfall. Den nennt man auch Grand mal.

Ich erinnere mich erst wieder daran, wie ich kotzend am Gang saß, umgeben vom Rettungsdienst. Meine Freundin erzählte mir später, dass mich zwei junge Männer aus dem Kinosaal getragen und in die stabile Seitenlage gebracht hatten. Sie hatten die Situation selbst im dunklen Kinosaal sofort erkannt und dementsprechend reagiert. Ich lernte die beiden nie kennen.

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Colin, 28, kaufmännischer Mitarbeiter aus dem Allgäu

Ich war als Teenager im Urlaub in Kenia und wurde beim Tauchen von einer Würfelqualle gestochen. Ich hatte noch nie in meinem Leben so schlimme Schmerzen, musste mich übergeben.

Nach dem Stich war alles schwummrig. Ich kam halbwegs zu Sinnen, als ich am Strand lag. Ein Passant sah mich und kam mir zur Hilfe, er war überaus nett. Er meinte, er hieße Johnny Cash, ich weiß aber nicht, ob das sein richtiger Name ist und ich werde es auch nie herausfinden. Auf jeden Fall organisierte er mir eine Fahrt zu einem sogenannten 'Witchdoktor' und der brachte mich dann in ein richtiges Krankenhaus in die nächstgelegene Stadt.

Christiana, 31, Influencerin aus Wien

Ich wartete auf die U-Bahn und hörte ziemlich laut Musik, deswegen bekam ich zunächst nicht mit, dass sich zwei Neonazis von hinten an mich heranschlichen.

In dem Moment, als die U-Bahn gerade am Eintreffen war, drehte ich mich instinktiv um – und bemerkte zwei sehr betrunkene Männer, die extrem rassistische Sprüche von sich gaben. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich auf die Gleise schubsen wollten.

Auf einmal stellte sich ein wildfremder Mann zwischen uns und fragte die Typen, was mit ihnen sei und was sie wollten. Er verscheuchte sie. Ein durchschnittlicher Weißer Mann, fast schon unscheinbar, verhinderte, dass mich betrunkene Neonazis auf U-Bahn-Gleise schubsten. Andere Menschen beobachteten die Situation, taten aber nichts. Ich vermute, sie hatten Angst.

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Der Mann und ich stiegen beide in die U-Bahn, er stellte sich in den anderen Waggon. Ich habe bis heute keine Ahnung, wer das war oder wie er heißt. Ich konnte mich nie so richtig bedanken, ich war in dem Moment zu schockiert.

Lisa, 30, Studentin, in Montreal

Ich hatte mich in Frankfurt mit einer Freundin verabredet und war ein bisschen spät dran. Ich hetzte zur Station, die Rolltreppe runter und sah, dass meine U-Bahn schon da stand. Also sprintete ich los, um sie noch zu erwischen.

Es war einer dieser alten Wagen, bei denen man die Griffe zum Öffnen nach unten ziehen musste und bei dem  sich die Türen nicht automatisch öffnen, wenn etwas darin stecken bleibt.

Die Tür schloss sich aber genau in dem Moment, als ich zum Schritt ansetzte, so dass mein Fuß in der Tür stecken blieb und ich von der Wucht zu Boden geschleudert wurde. Ich lag auf dem Bahnsteig und die Tür war nicht aufzubekommen. Die Bahn war bereit zur Abfahrt und in mir stiegen bloße Panik und Todesangst hoch.

Ein paar Leute im Waggon wurden hysterisch und zerrten an der Tür. Zwei Personen auf dem Bahnsteig zogen mich gemeinsam raus aus der Tür. Eine Frau, vielleicht Mitte 50, und ein Mann, an den ich mich kaum erinnern kann. Die Frau half mir auf die Beine und bot an, Hilfe zu holen. Ich zitterte am ganzen Körper und war so unter Schock, dass ich das Angebot ablehnte.

Ich weiß  gar nicht mehr, ob ich mich überhaupt bedankt habe. Kurz darauf war ich wieder allein und bin die paar Stationen dann, glaube ich, zu Fuß gegangen.

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