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​Warum hasst die Türkei zurzeit Deutschland?

Erdogan beschimpft deutsche Abgeordnete erst als Terroristen, dann will er ihnen Blut abzapfen. Was ist passiert?
Foto: imago | Xinhua

Ein ausgebrannter Polizeibus, Krankenwagen, überall Trümmer—das Titelblatt der türkischen Zeitung "Güneş" zeigt den Ort des Autobombenanschlags in Istanbul am Dienstag. Darüber, in fetten gelben Lettern: "Deutsches Werk", und "So denkt die Türkei". Die regierungsnahe Zeitung gibt Deutschland die Schuld an einem Terroranschlag im Herzen Istanbuls, bei dem mindestens elf Menschen getötet wurden. Und das ist nicht mehr lustig.

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Nach Güneş- einer türkischerZeitung -ist der Terroranschlag vom Istanbul ein 'Werk Deutschlands'. Krank im Kopf ! — Anwalt ERDEM (@AnwaltErdem)8. Juni 2016

Diese irre Schlagzeile kann sich die Zeitung nur leisten, weil sie weiß, dass sie in Regierungskreisen auf Wohlwollen stoßen wird. Staatschef Erdogan schießt seit einer Woche selbst aus allen Rohren auf Deutschland und seine Politiker. Erdogan fordert "Bluttests" von türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten. Er sagt, er glaube ihnen nicht, dass sie wirklich von Türken abstammen und wirft ihnen im nächsten Atemzug vor, als verlängerter Arm der Terrororganisation PKK zu arbeiten. Am Mittwoch kündigte die türkische Regierung an, einen "Aktionsplan" gegen Deutschland vorzubereiten, dazu gehören wohl auch Strafanzeigen gegen eine Reihe von deutschen Abgeordneten, darunter Grünen Chef Cem Özedemir und die Staatsministerin für Migration und Flüchtlinge Aydan Özoguz. Schon seit Tagen drucken regierungsnahe türkische Zeitungen immer wieder Bilder von Angela Merkel als Adolf Hitler. Was zur Hölle ist passiert?

Der Grund ist diesmal kein Böhmermann-Gedicht, sondern die Armenien-Resolution, die der Bundestag am Dienstag vor einer Woche verabschiedet hat. Eine überwältigende Mehrheit von Abgeordneten hat beschlossen, die Massaker an der armenischen Bevölkerung in derTürkei offiziell als das zu bezeichnen, was sie sind: ein Völkermord. Ähnliche Gesetze gibt es bereits in der Schweiz, in Schweden und in Frankreich, wo das Leugnen des Armenier-Genozids sogar unter Strafe steht. Warum regt sich die türkische Regierung also jetzt so auf?

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In der Türkei ist das, was 1915 mit den Armeniern passiert ist, immer noch Reizthema Nummer eins. Während die Mehrheit der Historiker auf der ganzen Welt übereinstimmt, dass die damalige türkische Regierung bis zu 1,5 Millionen Menschen systematisch verschleppt und ermordet hat, hat keine Regierung in der Türkei anerkannt, dass es einen Völkermord gegeben hat.

Armenische Zivilisten werden 1915 in Kharpert von türkischen Soldaten weggebracht. Foto: American Red Cross | Gemeinfrei

In der offiziellen türkischen Version heißt es, die Armenier hätten einen bewaffneten Aufstand versucht und seien deshalb reguläre Kriegsgegner geworden, außerdem sei die Opferzahl viel geringer als gemeinhin angenommen. Im Geschichtsunterricht lernen türkische Kinder, dass die Armenier versucht haben, einen Völkermord an den Türken zu verüben. Der türkische Staat verurteilt jeden, der sich öffentlich für die Anerkennung eines Völkermordes ausspricht, als "Beleidiger des Türkentums". Manchen Türken reicht auch das noch nicht: Der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink wurde 2007 auf offener Straße von türkischen Faschisten erschossen, weil er in einem Zeitungsartikel die Anerkennung gefordert hatte.

Armenier in Jerusalem fordern Anerkennung des Völkermordes. Foto: imago | ZUMA Press

Mittlerweile fordern auch türkische Intellektuelle wie die Schriftsteller Orhan Pamuk oder Elif Şafak, dass auch in der Türkei eine Diskussion über den Völkermord stattfinden muss. Die konservativ-islamische Regierung unter Erdogan ist davon jedoch mindestens genauso weit entfernt wie ihre säkularen Vorgänger. Und es scheint, als habe die deutsche Resolution sie besonders getroffen—vielleicht, weil Deutschland auch wegen der vielen hier lebenden Türken lange damit gezögert hat.

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Dass der türkische Botschafter noch am Tag der Entscheidung aus Berlin abgezogen wurde, hatten die deutschen Politiker deshalb schon erwartet. Aber die Töne aus Ankara werden seitdem immer schriller: "Die Entscheidung hat absolut keinen Wert", polterte Erdogan am Samstag, wahrscheinlich steuere eine mysteriöse Macht die deutschen Abgeordneten. Am nächsten Tag schimpfte er, die Deutschen sollten doch erstmal ihre eigene Schuld am Holocaust und an der Ausrottung der Herero aufarbeiten und ließ die eingangs erwähnten Tiraden gegen türkischstämmige Abgeordnete wie Cem Özdemir vom Stapel.

Cem Özdemir. Foto: imago | Jürgen Heinrich

So langsam wird das aber auch den deutschen Politikern zu bunt. Die Aussage der Kanzlerin, die türkischen Vorwürfe gegen Abgeordnete seien "nicht nachvollziehbar", finden viele zu zurückhaltend. Klarere Worte fand am Donnerstag Bundestagspräsident Norbert Lammert: "Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik an demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich nicht für möglich gehalten." Mindestens ebenso wütend ist Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments. In einem Brief an Erdogan bezeichnete er dessen Äußerungen über deutsche Abgeordnete als "absoluten Tabubruch".

Bei so viel offener Aggression könnte man glauben, dass das Flüchtlings-Abkommen der EU mit der Türkei kurz vor dem Zusammenbruch steht. Erdogan hat schon gedroht, die Türkei werde Europa nicht länger bei der Lösung seiner Probleme zu helfen. Überraschenderweise scheint das aber nicht so zu sein: "Der Abbruch steht nicht auf der Agenda", erklärte der türkische Vizeministerpräsident Numan Kurtulmuş am Montag. Experten glauben ihm das auch: "Ich bin überzeugt, dass die Türkei weiterhin ihren Teil des Flüchtlingsabkommens leisten will", sagte der Think-Tank-Leiter Gerald Knaus dem Focus.

Nur weil Erdogan gerade so wirkt, als habe er die Kontrolle über sein Stammhirn verloren, muss das also noch nicht heißen, dass die Türken wirklich den Bruch mit Deutschland und der EU wollen. Aber auch wenn es keine diplomatischen Folgen hat—die Hasstiraden, mit denen der türkische Staatschef vor allem die türkischstämmigen Abgeordneten bombardiert, zeigen Wirkung: Die Abgeordneten erhalten seitdem eine Flut von Morddrohungen, einige bekommen jetzt Personenschutz.