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Utopien, Konflikte und die Furcht vor der Räumung: Geschichten aus der Cuvrybrache

Mitten in der Stadt befindet sich mit "Berlins erster Favela" ein Ort für Aussteiger, Flüchtlinge und Alternative aus aller Welt.

Mitten im Herzen Kreuzbergs befindet sich mit der Cuvrybrache einer der letzten freien Plätze an der Spree. In Anbetracht der fortschreitenden Gentrifizierung scheint es aber nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch die fußballfeldgroße Freifläche zwischen der Schlesischen Straße und dem Spreeufer von ihrem Münchner Besitzer bebaut wird. Seit mittlerweile zwei Jahren dient die Cuvrybranche als Lebensraum für die unterschiedlichsten Menschen. Man könnte sagen: Es ist ein richtiggehender Mikrokosmos inmitten einer Großstadt entstanden, der seine eigenen Regeln hat—dadurch aber auch zum Sammelbecken vieler persönlicher Problemen wird.

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Anfang letzter Woche begannen Gerüchte über die Räumung des mittlerweile von 200 Menschen bewohnten Gebiets zu kursieren. All die negative Berichterstattung über „Europas erste Favela“, ihre slumartigen Zustände und der Wunsch auf baldige Räumung von Anwohnern und Händlern machte mich neugierig. Ich wollte mehr über die Leute erfahren—denn meist wird mehr über sie als mit ihnen gesprochen. Ich verbrachte eine Nacht und den darauffolgenden Tag an dem Ort, der Pöbler, Diebe und gewalttätige Junkies beherbergen soll. Und ich habe Erfahrungen gemacht, die viel von dem widersprechen, das bis jetzt über die selbst ernannten „Cuvryaner" berichtet worden ist.

Der Teenager Omar (Name geändert) ist von zuhause weggelaufen, wurde aus dem betreuten Wohnen geworfen und lebt jetzt auf der Brache.

DER ERSTE ABEND

Während ich durch das Eingangstor Richtung Spreeufer laufe, wo eine Gruppe von Leuten auf alten Sofas sitzt, treffe ich auf Peter. Peter ist aus Rumänien. Er lebt zwar nicht auf der Cuvrybrache, hat aber viele Freunde hier. Er spricht deutsch, fließend englisch und rumänisch. Gerade sei er dabei sein Jurastudium zu beenden, wie er sagt. Peter erklärt mir, dass es circa sechs verschiedene Gruppen gibt, welche die Cuvrybrache ihr Zuhause nennen.

Die Leute reichen von Künstlern und Ausreißern aus zerrütteten Familienverhältnissen über Wanderarbeiter bis hin zu Lampedusa-Flüchtlingen. Die mittlerweile größte Gruppe bilden aber die Roma. Von Zeit zu Zeit mischen sich auch noch ein paar Rucksacktouristen darunter. „Eigentlich ist es wie ein großer Park. Meine Freunde sind hier, deswegen hänge ich gerne hier ab. Aber es gibt natürlich auch viele Probleme. Wenn ich ehrlich bin, ist es ein Rattenloch—im wahrsten Sinne des Wortes. Ja, das beschreibt es am Besten.” Auf den ersten Blick scheint es wirklich so zu sein, dass hier viele Menschen leben, die man in der Außenwelt als gestrandete Personen bezeichnen würde.

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Als ich die Brache weiter erkunde, kommt mir plötzlich ein circa zwanzigjähriger Typ mit russischem Akzent, freiem Oberkörper und einer Bierflasche in der Hand entgegengerannt und schreit „Are you Paparazzi? No Pictures here!” Kurz vor mir bleibt er stehen und schimpft: „Die Drecks-Presse lässt uns nur schlecht aussehen. Ich habe eine Arbeit! Ich habe nix mit Drogen zu tun, das kannst du schreiben!” Ein bisschen perplex von dieser kurzen, aber doch relativ aggressiven Begegnung gehe ich weiter. Offensichtlich hat die negative Berichterstattung nicht nur das Bild der Außenstehenden beeinflusst, sondern auch das Verhalten der Anwohner. Sie sind vorsichtig geworden, mit wem sie sprechen und was sie sagen.

Roma Frau mit ihrem Sohn

Es beginnt dunkel zu werden. Regen prasselt auf die Zelte. Trotz allem schallt Musik über den Platz. Zwei mit Matsch und Dreck beschmierte Mädchen streiten sich lauthals. „Wenn es Nacht wird”, sagt Peter, “geht es hier richtig ab. Dann beginnt das richtige Leben auf der Cuvrybrache. Da hinten wohnen die Gypsies, da die Polen und da vorne die Künstler.” Hastig zeigt er mit seinem  Finger auf unterschiedliche Hütten und Zelte. Neben der Hauptstraße, die zur Spree führt, gibt es eine Seitenstraße, die ausschließlich von Sinti und Roma bewohnt wird. Wüsste man nicht, dass man mitten in Berlin ist, könnte man denken, es wäre eine kleine Dorfstraße in Rumänien. Selbstgezimmerte Hütten reihen sich dicht an dicht. Ausgestattet mit zusammengesuchten Fenstern, Kühlschränken und Fernsehern sind die dort lebenden Familien ihre eigene kleine Kommune inmitten des besetzten Gebietes. Strom beziehen sie meistens aus alten Autobatterien.

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Während ich die kurze Straße hinunter gehe, werde ich von goldbezahnten Frauen umringt. Sie lassen keine Gelegenheit aus, mich nach Windeln für ihr Baby zu fragen oder ihre Kinder vorschicken, um vielleicht doch noch einen Euro zu ergattern. Überall werde ich sorgfältig gemustert.

In Vorbereitung auf das große Fest schneidet Vasilli Fleisch

„Es ist ein rechtsfreier Raum hier. Klar wird mit Drogen gedealt und wenn es Auseinandersetzungen gibt, werden die auch geklärt. Da brauchen wir keine Polizei”, erklärt mir Peter, der mich begleitet. „Es gilt das Recht des Stärkeren, und das muss man akzeptieren.” Ein kultureller Mix aus Menschen, mit den verschiedensten Hintergründen und sozialen Problemen. Und alles an einem Ort, an dem sie eigentlich alle nicht gewollt sind—wahrlich kein leichtes Schicksal. Der Ausweg für viele ist die Flucht in Drogen und Alkohol. Bei ihren nächtlichen Exzessen kommt es oft zu Auseinandersetzungen, die meist schon aufgrund der schwierigen Kommunikationssituation schnell eskalieren.

Während ich mir über einen schmalen Pfad einen Weg durch die Büsche bahne, quiekt und raschelt es immer wieder um mich herum. Ich muss an Peters Worte denken: „Es ist ein Rattenloch.”

Ich stoße auf eine Gruppe von Spaniern, die mit dem Kanadier Nathaniel um ein Lagerfeuer an seiner Hütte sitzen. Er ist gelernter Tischler, der die Axt immer griffbereit hat. Seine Hütte, die eigentlich mehr aussieht wie ein schönes Gartenhaus in einer Berliner Kleingartenkolonie, hat er mit einem Freund zusammen gebaut. Ein Schild mit der Aufschrift „La Cantina del Pueblo” ziert die Außenwand. Innen gibt es ein Kochstelle, einen kleinen Tisch und ein Bett. „Ich hatte sogar einen kleinen Garten. Warte, ich zeige ihn dir.” Wir gehen hinter seine Hütte. „Anfangs hatte ich sehr viel mit den Romas zu kämpfen”, sagt Nathaniel. „Siehst du diese ganze leere Fläche?” Er zeigt auf eine zerwühltes Stück Land, auf dem vor allem Müll und menschliche Fäkalien liegen. „Das war bis vor kurzem noch mein Garten. Als die Roma kamen, wollten sie sich ausbreiten und haben angefangen alle Bäume abzuhacken und die Büsche herauszureißen, natürlich ohne zu fragen.” Mittlerweile beginnt ihr Areal direkt hinter Nathaniels Hütte. „Ich musste ihnen klarmachen, dass das hier mein Gebiet ist.” Wie er das getan hat, verrät er mir jedoch nicht.

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Nathaniel und seine Axt

Nathaniel ist kein Mensch, der andere aufgrund von vorherrschenden Stereotypen beurteilt, aber die persönlichen Erfahrungen, die er mit den Roma in seinem unmittelbaren Umfeld gemacht hat, machen ihn schon etwas nachdenklich. „Es ist ganz anders mit den Polen, die da drüben wohnen. Die haben irgendwie noch Moral. Die Roma, die benehmen sich manchmal…” Kopfschüttelnd geht er zurück zum Feuer. Nathaniel hat ein Visum, er tischlert gelegentlich auf Rechnung. Das Leben auf der Cuvrybrache bedeutet für ihn Freiheit. Über eine Räumung will er nicht nachdenken. Er freut sich über jeden Tag, den er in seiner Hütte verbringen kann, denn es könnte der letzte sein. Er wollte sich beweisen, dass es möglich ist, von fast nichts zu leben. Schaut man sich seine Hütte so an, hat er sich das nicht nur selbst bewiesen, sondern auch vielen anderen.

DER NÄCHSTE TAG

Die Räumung wurde für den heutigen Morgen erwartet, passiert ist aber nichts. Ich beginne dort, wo mein Abend gestern geendet hat: vor Nathaniels Hütte. Leere Bierflaschen zeugen von dem gestrigen Abend, das Feuer qualmt. Ich gehe den kleinen, dicht bewachsenen Pfad zur Hauptstraße zurück. Durch einen Türspalt sehe ich einen jungen Typen mit einem Cowboyhut in Deutschlandfarben auf einer Matratze liegen. Ich frage ihn, ob er von der Räumung gehört hat. „Klar hab ich das!” Auch seine Hütte kann man nicht als spärlich bezeichnen. Es gibt einen Fernseher und einen Platz für Gäste. „Wohnst du alleine hier?“, frage ich. „Ja,” antwortet er und winkt mich hinein. Innerhalb von einer Woche hat er seine Hütte gebaut, erzählt er mir. „Ich bin übrigens Abdullah“, und reicht mir die Hand.

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Abdullah wollte kein Foto, auf dem man ihn erkennt.

Dem 24-jährigen Türken gefällt es auf der Cuvry—obwohl er in den erst zwei Wochen, die er hier lebt, schon viel mitgemacht hat. In seiner ersten Woche entschloss er sich, einen Hilfesuchenden aufzunehmen, nach und nach begannen jedoch Dinge aus der Hütte zu verschwinden.

„Erst war der Gaskocher weg, dann fehlte eine Lampe.” Abdullah konfrontierte seinen Untermieter damit und forderte ihn zum Gehen auf. „Am nächsten Morgen war er weg, ohne ein Danke, eine Entschuldigung oder Ähnliches.“ Für Abdullah schien die Sache erledigt. Doch zwei Tage später, als er abends nach Hause kam, war seine Tür verriegelt. Der Untermieter hatte ihn nicht nur beklaut, er hatte auch seine Hütte an zwei afrikanische Flüchtlinge verkauft, die sich bereits in den vier Wänden breit gemacht hatten. Abdullah stellte sie vor die Wahl. „Entweder ihr geht freiwillig, oder einer von uns Dreien wird sterben!” Es war ihm ernst. „Es war schon eine sehr heikle Situation, die leicht hätte in einem Drama enden können. Ich war zu allem bereit.” Nach langem Hin und Her endete die Situation jedoch friedlich, und die ungebetenen Untermieter räumten die Hütte.

Eine Freundin half ihm bei der Außendekoration

Während das Leben in der Brache viele solcher Geschichten schreibt, gibt es vor allem ein Pärchen, das in der öffentlichen Wahrnehmung hervorsticht: Chiara und Yuki. Schon viel wurde über die italienische Architektin und ihren japanischen Freund berichtet, die so etwas wie die Vorzeige-Cuvryaner sind. Die Brache scheint für sie vor allem ein Ort der Inspiration zu sein. Ihr Haus mit der großen viereckigen Feuerstelle ist schon längst eine Attraktion, die vor kurzem sogar von einem japanischen Museum aufgekauft wurde. „Wir wissen nur nicht, wie wir es nach Japan bekommen sollen. Es besteht ja komplett aus Holz und Nägeln“, sagt Chiara. Seit eineinhalb Jahren leben sie auf der Cuvrybrache. Es ist mehr Überzeugung als Zwang.

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Yuki und seine Freundin Chiara

Feuerstelle und Terrasse ihrer Hütte

Ihre Hütte besteht aus zwei Räumen und der großen Terrasse. Es gibt die gut ausgestattete Küche, mit Waschbecken, Gaskochern und Regalen, dekoriert mit Blumen und Zeichnungen von Yuki, und den Wohnbereich mit einer Couch, Holzofen, Öllampe und einem Hochbett. Beide haben sich an das Leben ohne Strom gewöhnt. Weitaus mehr stört Chiara das Problem mit dem Müll. Oft ist sie einer der Ersten bei den Sammelaktionen, die von den Bewohnern durchgeführt werden. „Es ist unser Lebensraum, deswegen müssen wir uns auch um ihn kümmern.“ In der Tat ist der Abfall eine Sache die einem sofort auffällt, sobald man die Cuvrybrache betritt. Rostige Waschmaschinen, Essensreste und menschliche Fäkalien sind an jeder Ecke der Brache zu sehen. Von der Stadt aufgestellte Mülleimer quellen über. Kein Wunder, denn abgeholt werden sie nicht. Viele Bewohner meinen, es sei eine Taktik der Stadt, die Menschen in ihrem eigenen Müll ersticken zu lassen.

Roma Familienoberhaupt Vassilli

Zumindest am Geschäftssinn scheint es den Leuten hier nicht zu mangeln. Einer der hier lebenden Roma will mit mir um die Erlaubnis verhandeln, Fotos machen zu dürfen. Er will 50 Euro von mir, weitere 100 Euro würde es kosten, bei einem geplanten Fest filmen zu dürfen. Mit seinen Landesangehörigen zu sprechen, steht zu keinem Zeitpunkt zur Diskussion. Auch wenn mich diese Forderungen irritieren, verstehen kann ich sie schon. Gerade die Sinti- und Roma-Familien sehen sich von der Presse schlecht dargestellt. Viele von ihnen lebten in einer verlassenen Eisfabrik, bevor die zunehmende Berichterstattung über ihre Wohnsituation dazu führte, dass sie umsiedeln mussten.

Das Faszinierende an der Cuvrybrache sind nicht nur ihre abenteuerlich zusammengezimmerten Hütten oder die Tatsache, dass eine solche Fläche neben sanierten Altbauten mit stetig steigenden Mietpreisen existiert. Das wirklich Spannende an ihr sind ihre Bewohner, deren Geschichten und die Hintergründe. Egal ob selbstgewählte Alternative zum gängigen deutschen Lebensstil oder die letzte Option vor einem Leben auf der Straße: das Areal an der Schlesischen Straße ist mittlerweile einer der wenigen Orte, der an die alternativen Ursprünge des Berliner In-Bezirks Kreuzberg erinnert.