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Eine Bummelfahrt mit dem „Drogentodeszug“ der U7

Als angeblich längste Drogenmeile Berlins soll die über fast 32 Kilometer verlaufende, hellblaue U-Bahn-Linie mit ihren knapp 40 Stationen eine der am stärksten von Dealern und Junkies frequentierten Routen der Stadt sein.

Letzte Woche erschien in den Boulevardmedien ein Artikel, der die Berliner U-Bahn-Linie 7 als „Todesstrecke“ beschrieb. Als angeblich längste Drogenmeile Berlins soll die von Rudow bis Rathaus Spandau über fast 32 Kilometer verlaufende, hellblaue U-Bahn-Linie mit ihren knapp 40 Stationen eine der am stärksten von Dealern und Junkies frequentierten Routen der Stadt sein. Brennpunkt sei hierbei nicht nur die Station Hermannplatz, vor allem das Gebiet rund um Wilmersdorfer Straße und S-Bahnhof Charlottenburg—der Stuttgarter Platz—sei Mekka aller Dealer und Konsumenten. Wir wollten uns selbst davon überzeugen und ließen uns an einem Montagabend auf einen Trip mit dem hellblauen „Todeszug“ ein. Unser Ziel: Der „Junkie-Brennpunkt“ Stuttgarter Platz. Montag, 3. Dezember 2012, 17:00 Uhr—Hermannplatz: Ein trostloser Bunker aus dreckig gelben und grauen Fliesen. ERWISCHT steht in großen Lettern auf den Stufen der breiten, zur Oberfläche führenden Treppe. Kinder spielen mit einem alten Pappbecher Fußball. Ein alter Mann sitzt auf der Bank, den Kopf in den Händen vergraben.
Sie warten auf die Hellblaue, die U7 Richtung Rathaus Spandau. Die Durchsage ertönt und unter lautem Rattern fährt der Zug ein—er ist bereits zum Bersten voll. Die Türen öffnen sich und die Wartenden quetschen sich hinein. Während der Zug die 13 Stationen bis Wilmersdorfer Straße abstottert, steigen weitere Passagiere ein, fast niemand verlässt den Zug—irgendwann ist es so eng, man ist der Person neben sich näher, als man jemals sein wollte.
Wechseln Drogen den Besitzer? Möglich, aber nicht ersichtlich.

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U-Bahn-Haltestelle Adenauerplatz: Zwei Jungs betreten das hinterste Abteil. Beide tragen Steppjacken—der eine in Signalblau der andere in Weiß. Während der kurzen Strecke bis zum „Stutti“ wirken sie wie unter Strom. Der Weiße flüstert dem Blauem etwas zu, der daraufhin sein Handy zückt, eine Nummer wählt und kurz telefoniert. Als die U7 an der nächsten Station hält, springen sie auf und verlassen das Abteil. Sie rennen nicht, aber sie gehen wahnsinnig schnell, schlängeln sich gekonnt an den anderen Leuten und an zwei Polizisten, die gerade etwas beim Kiosk kaufen, vorbei. An der Oberfläche wartet ein Dritter auf sie. Hände werden geschüttelt, dann ziehen die beiden Jungs weiter, werden von der Dunkelheit verschluckt. Seit sie die U-Bahn verlassen haben, ist noch keine Minute vergangen.

Stuttgarter Platz: Das ehemalige Rotlicht-Viertel soll angeblich immer mehr zum schmutzigen Fixer-Kiez verkommen. Am 20.11. fand im Rathaus Charlottenburg ein sogenannter „Runder Tisch“ statt, bei dem unter anderem die Drogenbeauftragte des Senats Christine Köhler-Azara, Sozialarbeiter, Bezirkspolitiker, Vertreter der Polizei, sowie betroffene Anwohner aufeinander trafen, um über die Problematik der „Drogenszene“ am Stutti zu diskutieren.
In den an den S-Bahnhof Charlottenburg angrenzenden Grünflächen würden massig Drogen konsumiert und am örtlichen Spritzenautomaten mehr umgesetzt werden als am Kottbusser Tor, heißt es.
Der am Eingang der Station stehende „Straßenfeger“-Verkäufer weiß davon nichts. Sein Deutsch ist sehr schlecht, aber sein Freund, der ihm in der Kälte des Abends Gesellschaft leistet, meint, es sei hier nicht so schlimm. „In Spandau passiert das“, sagt er.
Gleich nebenan parkt das „Druckmobil“ des Vereins Fixpunkt e.V.: Ein weißer Lieferwagen bemannt mit zwei Streetworkern, die Süchtigen saubere Spritzen, Beratung und einen warmen und sicheren Platz zum Konsumieren anbieten und seit Juli 2011 zweimal pro Woche am Stuttgarter Platz vor Ort sind.
Während der Platz in Charlottenburg von vielen Medien als einer der Brennpunkte der Berliner Drogenkriminalität bezeichnet wird, versucht Fixpunkt e.V. das in den Medien propagierte Bild einer vorherrschenden Drogenszene zu korrigieren: Der Stuttgarter Platz sei vielmehr ein Ort des kurzzeitigen Aufenthalts von Konsumenten zum Erwerb und zum Konsum. Es ist 17:40 Uhr und in den 20 Minuten bevor das Druckmobil gegen 18:00 Uhr dicht und die Streetworker Feierabend machen, wird noch dreimal an die Autotür geklopft.

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Wieder zurück im Untergrund, Adenauer Platz: Eine Frau, die um einiges älter aussieht, als sie vermutlich in Wahrheit ist, steigt in die Bahn, fährt zwei Stationen in Richtung Rathaus Spandau. Ein Großteil der anderen Passagiere wechselt schon beim ersten Halt mit zugehaltener Nase das Abteil. Bei der Station Wilmersdorfer Straße angelangt steigt sie aus, schaut sich kurz um, geht zum gegenüberliegenden Bahnsteig und fährt mit der U7 dieselben zwei Stationen wieder zurück.

Ein junger Mann gesellt sich zu ihr. Sie quatschen kurz. Dann steigt er in die Bahn Richtung Stutti. Während der Zug anfährt, stellt er sich in die Mitte des Abteils und sagt seinen auswendig gelernten Spruch auf. Sein Name sei Mario, er sei obdachlos und bitte um eine kleine Spende. Der alte Kaffeebecher in seinen geschwollenen Händen, den er den anderen Passagieren anschließend reihum hinhält, bleibt leer.
Er ist 26 Jahre alt und lebt seit vier Monaten auf der Straße, da er dank eines einmonatigen Gefängnisaufenthalts wegen Autofahrens ohne Führerschein sein Zimmer im Obdachlosenheim verloren hat. Es war das dritte Mal in diesem Jahr. „Ja, ich nehm was“, gibt er zu. „Aber ich versuche, so wenig wie nötig zu konsumieren.“ Die U7 ist seine Stammroute. Manchmal müsse er bis zu einer halben Stunde zwischen den Stationen pendeln, bis er auf einen Dealer trifft. Von Kinderdealern, wie etwa dem 2010 mehrmals in den Medien thematisierten, damals 11-jährigen Arub M., würde er nichts kaufen, sagt er.„Wenn ich einen Dealer sehe, gehe ich hin, drücke ihm das Geld in die Hand und er gibt mir den Stoff. Da wird nicht viel gesprochen.“ Zum Druckmobil gehe er auch. Er findet die Einrichtung toll und würde sich wünschen, es gäbe mehr solcher Angebote. Ob er den Berichterstattungen, die den Stutti und die U7 als Platz und Route des Todes bezeichnen, Recht gibt? Nein. „Die übertreiben alle. Hier isses auch nicht anders als im Rest von Berlin. Der Stuttgarter ist eher Hochburg der Besoffenen als Drogenbrennpunkt.“ Während er erzählt, zuckt seine Hand immer wieder zur Nase. Er wirkt nervös. Er hat es eilig.

Am Tag darauf gehen der Berliner Drogenfahndung mehrere mutmaßliche Dealer ins Netz. Seit August haben die Fahnder darauf hingearbeitet, das Treiben der straff organisierten Bande—allesamt aus dem Libanon stammende Jugendliche zwischen 16 und 22 Jahren—mit Hilfe der Bahnhofskameras observiert, Haftbefehle erwirkt. Dienstagmorgen ist es soweit. Bei einer großangelegten Razzia nimmt die Polizei acht Dealer noch in der U-Bahn fest, zwei weitere Mitglieder der Bande können am Amtsgericht Tiergarten und in einer Neuköllner Wohnung gestellt werden. Insgesamt werden 19 Kügelchen und knapp 1.000 Euro Bargeld beschlagnahmt. Das Spektakel findet mitten im Berufsverkehr bei der U8-Station Heinrich-Heine-Straße statt.

Fotos: Grey Hutton