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dein sound andere ära

Tapes, Techno, Teletubbies—eine musikalische Jugend in den 90ern

Um erwachsen zu werden, war das hedonistische Vakuum zwischen Kaltem Krieg und drittem Jahrtausend eine großartige Zeit.

Im Sommer 1990 verbrachte ich einen nicht unwesentlichen Teil meiner Freizeit damit, meine Lieblingskassette zum Anfang von David Hasselhoffs “Looking for Freedom” zu spulen. Ziemlich genau zehn Jahre später lag ich auf meinem Pausenhof und kotzte mir zu Eminems Marshall Mathers LP die Seele aus dem Leib, weil ich mein Abitur bestanden und darauf einen ganzen Liter Korn getrunken hatte. Ich war, mit anderen Worten, ein ganz normaler Teenager, der mit der Musik der 90er Jahre aufgewachsen war.

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Mag sein, dass es in der Musikgeschichte bedeutendere Jahrzehnte gab, aber hey, wir waren nur einmal jung und hatten uns die 90er nicht ausgesucht. Sie waren einfach da und nahmen uns in ihren kumpelhaften Schwitzkasten. Um erwachsen zu werden, war dieses hedonistische Vakuum zwischen Kaltem Krieg und drittem Jahrtausend allerdings eine großartige Zeit: Eine goldene Ära, in der man sich noch nicht vor Terroristen, Bankencrashs oder Vladimir Putin fürchten musste, sondern höchstens vor den Teletubbies oder einer Modern Talking-Reunion. Echte Sorgen hatten wir eher keine. Ins Unendliche wachsende Börsenkurse wiesen uns wie Leuchtraketen den Weg ans Ende der Geschichte und der Sound der Spaßgesellschaft wummerte fröhlich-alternativlos.

Aus heutiger Sicht lag der größte Unterschied natürlich darin, dass es kein Internet gab. War wirklich so: Keine MP3s, keine Blogs, kein YouTube, kein Spotify. Das führte zu der paradoxen Situation, dass Musik zwar allgegenwärtig, mitunter aber auch verdammt schwer zu bekommen war. Vor allem wenn man als Zehnjähriger mit zwei Mark Taschengeld die Woche auskommen musste. Als ich einmal im Handschuhfach meiner Tante ein Genesis-Tape entdeckte und realisierte, dass ich von nun an immer wann ich es wollte „Land of Confusion” hören konnte, fing ich vor Glück auf der Stelle an zu weinen. Denkt mal drüber nach, wenn ihr das nächste Mal auf den Repeat-Button eurer Lieblingsplaylist clickt.

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Da ich keine älteren Geschwister hatte und meine Informationen im Wesentlichen aus öffentlichem Rundfunk und der wöchentlichen BRAVO-Lektüre bezog, war meine ästhetische Urteilskraft zu Beginn der 90er Jahre nicht sonderlich ausgeprägt. Die erste Schallplatte, die ich mir mühsam vom eigenen Taschengeld abgespart hatte, war dann auch „Step by Step” von den New Kids on the Block. Ansonsten verbrachte ich meine Sonntagabende vor dem Radiorekorder, wo ich auf die Hitparade wartete, während mein Zeigefinger nervös auf der Aufnahmetaste lag.

Auf diese Weise gelangte ich immerhin zu Perlen wie MC Hammers „U Can’t Touch This” oder Roxettes „It Must Have Been Love”. Snaps „The Power” hatte ich sogar zweimal, weil bei der ersten Aufnahme der Moderator mit einer dieser verfluchten Geisterfahrer-Warnmeldungen dazwischengequatscht hatte. Aber natürlich war mein armes prä-pubertäres Selbst auch den Niederungen der frühen 90er-Massenkultur schutzlos ausgeliefert. Der Eurodance-Tsunami erwischte mit voller Wucht und ich nannte schon bald eine beachtliche Sammlung der immer beliebteren Maxi-CDs mein eigen. Ich behaupte jetzt nicht, dass ich zu Dr. Alban, Culture Beat, Haddaway und Ace of Base vor dem Badezimmerspiegel meine ersten Tanzmoves ausprobiert habe. Aber ich streite es auch nicht ab.

Wenn ich mich zu Eurodance ein letztes Mal in kindlicher Unschuld suhlen konnte, dann stand Nirvanas „Nevermind“ für eine häretische Jugendweihe, die unweigerlich den Anbruch der Adoleszenz einläutete. Ich trug jetzt zerrissene Jeans und Frotteehemden, ließ mir die immer längeren Haare ins Gesicht hängen und nickte anerkennend jenen Klassenkameradinnen zu, die sich vor lauter Seelenschmerz die Unterarme aufritzten. Alles schien also seinen geregelten Gang zu gehen, tja, und dann passierte diese Sache mit der Schrotflinte und nichts sollte mehr so sein wie zuvor. Ich versuchte es noch eine Weile mit Bush, Silverchair oder gar Hole, aber niemand konnte uns Kurt zurückbringen.

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Da stand ich nun, von meinem Idol im Stich gelassen, aber dafür immerhin gerüstet, musikalische Welten jenseits des Mainstreams zu erkunden. Schnell aber merkte ich, dass die Wahl der neuen Lieblingsband plötzlich mit komplizierten Lebens- und Identitätsentscheidungen verknüpft war. Durch Musik, so versprach es die blühende Konsumgesellschaft der 90er, konnte ich sein, wer ich wollte. Aber wer zur Hölle wollte ich eigentlich sein? Und wie konnte ich endlich all die anderen Dinge ausprobieren, die man laut BRAVO in der Pubertät ausprobieren sollte?

Für einen etwas introvertierten Brillenträger wie mich schien Britpop zunächst die beste Chance, eine hübsche Freundin zu finden. Wer sich in der entscheidenden Frage “Oasis oder Blur?” einig werden konnte, war ja quasi schon verlobt und konnte sich fortan gemeinsam der Interpretation von im breitesten Manchester-Slang vorgekauten Songtexten widmen.

Wer allerdings den Absprung verpasste, landete irgendwann bei Tocotronic und Blumfeld, stand plötzlich mit ernstem „Ich-bin-schon-längst-erwachsen”-Blick und zusammengerollter SPEX unterm Arm auf dem Schulhof und rauchte selbstgedrehte Zigaretten. Diese verquere Mischung aus Depression, Snobismus und demonstrativ zur Schau gestellter Diskursintelligenz war dann doch nicht meine Welt, auch wenn ich natürlich ab und zu Radioheads „OK Computer“ anmachte. Aber eigentlich nur, wenn ich alleine war oder Mädchen dabei waren.

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Etwas lebendiger ging es dann schon in der Punk- und Hardcore-Szene zu, zumal die Nähe zur regen Skateboardkultur der 90er für einen zusätzlichen Coolness-Boost sorgte. Kaum jemand würde es zugeben, aber für die meisten von uns war Green Days „Dookie“ so etwas wie die Einstiegsdroge, von der man sich dann zu den härteren Sachen vorarbeitete. Bald pflasterte ich meinen Eastpak mit Pennywise- und Millencolin-Aufnähern und knutschte das erste Mal zu „Kill All The White Man“ von NOFX. Als ich schließlich Fugazi, Snapcase und Shelter entdeckte, erklärte ich Green Day zu den größten Fakern und bestritt fortan, jemals etwas von „Dookie“ gehört zu haben.

Dem legendären Crossover-Sound der 90er (Downset, Dog Eat Dog, Beastie Boys) war es dann zu verdanken, dass auch Hardcore-Kids noch mit den letzten Ausläufern des „Golden Age of Hip Hop“ in Berührung kommen konnten.

Dass es sich tatsächlich um ein goldenes Zeitalter handelte, konnte ich natürlich nicht ahnen, ich fand aber trotzdem, dass Wu Tang, Dr. Dre und EPMD ziemlich freshe Musik machten, die irgendwie auch ganz gut in meine, nun, nennen wir es mal „grüne Phase“ passte. In Deutschland sorgten Acts wie die Stieber Twins, Massive Töne, RAG oder Absolute Beginner für eine Blütezeit, in der noch keine Mütter beleidigt, sondern vielmehr Realness und die Heiligkeit der vier Elemente gepredigt wurden. Deutschrap in den 90ern war ein harmonischer Streichelzoo voller eloquenter Wortakrobaten, bis Westberlin Maskulin schlussendlich die gesamte Szene mit einer Vierspur-Schlafzimmerproduktion erledigten.

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Und Techno? Tja, Techno fand tatsächlich statt, aber definitiv ohne mich. Ich kannte eigentlich nur einen Typen, der regelmäßig auf Technopartys ging und der von Woche zu Woche verschallerter wurde, auch dann noch, als ich dachte, es geht gar nicht mehr schlimmer. Für den Acid- und Trance-Untergrund war ich ein paar Jahre zu jung und alles, was unter Bezeichnungen wie “Happy Hardcore”, “Schranz” oder “Gabber” zu mir durchdrang, klang auch genau so. Als dann plötzlich Millionen wasserstoffblonder Raver mit Army-Hosen und freiem Oberkörper ihren schweißtriefenden Höhlen entstiegen, durch den Tiergarten stampften und alles mit seltsam toxisch riechendem Urin vollpissten, ahnte ich zwar, dass ich irgendwas verpasst hatte. Mein Bedauern hielt sich aber in Grenzen.

Erst durch meine Freundin, die ich auf meiner Odyssee durch die Subkulturen der 90er tatsächlich irgendwann erobert hatte, fand ich schlussendlich doch noch Gefallen an elektronischen Klangsphären. Wir lagen mit geschlossenen Augen nebeneinander und hörten Massive Attack, Portishead oder DJ Shadows unerreichte „…Endtroducing“. Und in diesem Moment spürten wir zum ersten Mal etwas von der digitalen Zukunft, die sich langsam abzuzeichnen begann. Über Aphex Twin und Squarepusher landete ich bei Mille Plateaux und Force Inc. und war plötzlich überzeugt, dass sich die Welt am besten mit diesen kleinen Merve-Büchern verstehen ließ. Bücher, die in kryptischer Sprache von einem nahenden Zeitalter kündeten, in dem ein rhizomatisches Elektronengehirn unser Leben durchdringen und alles sehr viel besser und zugleich sehr viel schrecklicher machen würde, als in den sorgenfrei dahinplätschernden 90ern.

Und genau so ist es dann ja auch gekommen.

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