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Adele und Grimes revolutionieren das Image des weiblichen Popstars

Weder Adele noch Grimes mussten sich ausziehen oder von irgendwelchen Produzenten sagen lassen, was sie tun sollen. Damit haben sie die Rolle der Frau in der Popmusik neu definiert.

Adele und Grimes sind total verschieden, aber dann auch wieder sehr ähnlich. Die Unterschiede—eben jene, die dazu führen, dass sich dein Gesicht unkontrolliert zu einer Grimasse verzerrt, wenn dir jemand sagt, dass beide doch eigentlich ziemlich ähnlich sind—betreffen eher oberflächliche Dinge und gehen kaum wirklich an die Materie. Klar, was die optische Komponente angeht, könnten beide nicht verschiedener sein. Adele verkörpert mit ihrem ausgeprägtem Amorbogen und dem eher eleganten Kleidungsstil eine klassische Schönheit. Grimes sieht dagegen eher wie eine Figur aus einem postapokalyptischen Film aus. Ästhetisch gesehen könnten beide also wirklich nicht unterschiedlicher sein. Das lässt sich auch über ihre Musik sagen: Adele bevorzugt emotionale, ausgedehnte Balladen, wohingegen Grimes auf treibenden, beatlastigen Pop setzt.

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Aber es gibt andere Dinge, wesentlich wichtigere Dinge, die diese beiden Frauen miteinander gemein haben. Beide sind vor Kurzem aus einer selbstgewählten Pause wieder ins Rampenlicht gerückt. Beide sind erstklassige, talentierte und ehrgeizige Musikerinnen. Wir werden sehr wahrscheinlich über beide im nächsten Jahr noch sehr viel reden—privat und in Artikeln—und in Scharen zu ihren Konzerten pilgern. Was ihre Karriereentscheidungen angeht, haben beide ganz klar die Zügel selbst in der Hand. Beide haben unsere Aufmerksamkeit auf sie ziehen können, ohne dafür ihre Körper einzusetzen—oder zuzulassen, dass sie eingesetzt werden. Und beide definieren momentan auf ganz ähnliche Weise neu, was es heißt, eine Frau im Pop-Geschäft zu sein.

Auch wenn es sich bei beiden Frauen zweifellos um Schönheiten handelt—ich habe das Gefühl, das an dieser Stelle erwähnen zu müssen, bevor mir ein paar selbsternannte Männerrechtler an die Gurgel gehen und mir sagen, dass ich in jeder Hinsicht falsch liege, weil sie sich zu besagten Damen schließlich immer noch gerne einen von der Palme wedeln und meine Meinung als Frau damit hinfällig ist—so bewegt sich allerdings keine von beiden auch nur in der Nähe der etablierten, willkürlichen Standards, die wir von unseren weiblichen Popstars zu erwarten gelernt haben—ultradünne Grazien, mit perfekt sitzenden Haaren, die in provokativ-aufreizender Unterwäsche über die Bühne stolzieren. Adele und Grimes erinnern uns beide daran, dass Durchschnitts-Sexy nicht unbedingt die aufregendste Art von Sexy ist und dass es auch durchaus „provokativ“ sein kann, einen Ansatz wie den ihren zu verfolgen und sie nicht zwangsläufig das altmodische Spiel mit körperlichen Reizen nötig haben.

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Spätestens seit Madonna in Perlen und spitzen Bustiers ihre Sexualität besang, haben wir damit angefangen, „Innovation“ und „Fortschritt“ bei unseren weiblichen Popstars daran zu messen, wie selbstermächtigend ihre Nacktheit ist. Das ist an sich schon fantastisch und Nicki Minaj hat wirklich eine Standing Ovation dafür verdient, wie abgebrüht sie ihren Hintern auf dem Albumcover präsentierte. Aber das ist eben nicht die einzige Möglichkeit, wie eine Frau die Zügel wieder an sich reißen kann. Sowohl Adele und Grimes liefern einen entgegengesetzten, aber nichtsdestotrotz gleichwertigen Beitrag zur Revolutionierung des Frauenkörpers im Pop

Unsere Perspektive auf Künstlerinnen zu ändern, muss nicht zwangsläufig auch mit ihren Körpern zu tun haben. Viel zu lange hat unsere Kultur die Körper derjenigen Frauen für sich vereinnahmt, die es wagen, ins Rampenlicht zu treten. Es lehrt uns immer wieder, dass eine Frau autonom sein kann, aber bitte nicht zu autonom. Es bleibt immer ein Teil von ihr—egal, wie groß ihr Imperium auch ist, wie viele hohe Chartplatzierungen ihre Tracks auch eingefahren haben (ja, sogar die, die sie selbst geschrieben hat), wie militant ihre #kats-, #barbz- oder #navy-Tags auch sind—,der ihr nie wirklich selbst gehören wird. Denn selbst Beyoncé, die vor einem gigantischen „Feminist“-Schriftzug tanzt, ist nicht immun gegen die sich berechtigt fühlende Hand, die ihr in den Hintern kneifen will. Mit unserem lüsternen Blick werden wir immer einen leichten Griff auf ihre Schenkel, ihre Hüfte und ihre Brust ausüben. Aber weder Adele noch Grimes haben es zugelassen, dass wir unsere Krallen in ihnen versenken.

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Das soll nicht heißen, wir hätten es nicht versucht. 2013, etwas mehr als ein Jahr nachdem Grimes mit Visions durch die Decke gegangen war, während sie sich still und heimlich in das, was Matthew Ismael Ruiz von Flavorwire „Claire Bouchers selbstauferlegtes Exil“ nennt, zurückzog, griff sie auf ihren Tumblr zurück, um zu erklären, wie schwer es ist, sich als Frau in der Musikindustrie zu behaupten. Auf ihrer Seite schrieb sie: „Ich will nicht infantilisiert werden, weil ich mich weigere, mich sexualisieren zu lassen. Ich will nicht bei Konzerten oder auf der Straße von Menschen belästigt werden, die mich als Objekt wahrnehmen, das nur zu ihrem persönlichen Vergnügen existiert. Ich will in keiner Welt leben, in der ich Bodyguards einstellen muss, weil derartiges Verhalten so allgemeingegenwärtig und akzeptiert ist und ich bin sauer, dass es oftmals ignoriert wird, wenn ich Sorgen über meine eigene Sicherheit äußere. Bis die Leute aus erster Hand mitbekommen, was los ist, und sich dann dafür entschuldigen, mich am Anfang nicht ernstgenommen zu haben […] Ich bin es leid, von Männern, die weder professionelle noch erfahrene Musiker sind, ständig Hilfsangebote zu bekommen (ohne darum gebeten zu haben), als würde ich das alles hier nur zufällig machen und ohne ihre Hilfe nicht mehr weiterwissen. Oder als würde es mir die Tatsache, dass ich eine Frau bin, unmöglich machen, Technik zu bedienen. Ich habe nie mitbekommen, wie meinen männlichen Kollegen etwas in der Art passiert ist.“ Grimes ist mit dem Patriarchat in Berührung gekommen—mit einer Öffentlichkeit, die die Körper von „Celebrities“ begrabscht—und sie hat sich geweigert mitzumachen, wohingegen die weiblichen Popstars, mit denen wir über die Jahre vertraut geworden sind, in denen sich Grimes eine Pause gönnte, es bevorzugt hatten, die von Männern dominierte Industrie, in der sie agieren, auszunutzen und zu manipulieren. Von Katy Perry, deren komplette Karriere quasi auf kitschigen Kostümen fußt, die ihre Brüste rotieren, leuchten oder Schaum spritzen lassen, bis hin zu Taylor Swift, die hypersexualisierte Mädchengangs glorifizierte und die wildesten Dessous/Kissenschlacht-Fantasien überhaupt bediente.

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Ganz ähnlich gab es auch eine kurze Periode während Adeles Aufstiegs, in der wir versuchten, ihren Körper zu vereinnahmen. Karl Lagerfeld hatte sich tatsächlich die Frechheit erlaubt, sie als „ein bisschen zu fett“ zu bezeichnen („Aber sie hat ein schönes Gesicht und eine göttliche Stimme."), während Lady Gaga in einem Interview sagte: „Adele ist dicker als ich. Wie kommt es, dass niemand etwas dazu sagt?“ („Sie ist so wundervoll und so ein Selbstbewusstsein wie sie muss ich erst noch erlangen.“) Beide Kommentare zeigen anschaulich, wie wir „dickere“ (ich hasse es, Frauen anhand ihres Körperumfangs zu definieren, deswegen die Anführungszeichen) Frauen behandeln. Mit fragwürdigen Komplimenten nehmen wir ihnen ihre Würde—und letztendlich ist das nur eine weitere Methode, mit der sich Frauenfeindlichkeit ihren Weg in unser visuelles Lexikon bahnt, um Frauen, die nicht dem maskulinen Standard weiblicher Schönheit entsprechen, absichtlich zu verunsichern (vor allem da, wo sie ganz offensichtlich so viel mehr zu bieten haben als ihre Schönheit—was nebenbei das Schlimmste ist, was eine Frau tun kann). Aber Adele weigert sich, sich von kalkulierten Angriffen auf ihren Körper beirren zu lassen. „Ich wollte nie wie die Models auf den Magazinen aussehen. Ich repräsentiere die Mehrheit der Frauen und ich bin sehr stolz darauf“, sagte sie People 2012.

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Beide Frauen merkten, wie sie gegen eine Glasdecke stießen und keine von beiden nahm das auf die leichte Schulter. Beide wählten den Peggy Olson-Weg, um als Frau in einer Männerwelt Erfolg zu haben: Wenn die Arschlöcher versuchen, dich runterzumachen, dann sei besser als sie. Anstatt sich auf die Männer in ihrem Umfeld zu verlassen, macht Grimes einfach alles selbst: vom Schreiben der Musik, über das Erlernen der Instrumente, die sie zur Umsetzung braucht, bis hin zur Sound-Produktion. Ruiz schreibt: „2015 hat sie die volle Kontrolle. Boucher hat ihre ganze Karriere lang für diese Autonomie gekämpft und an diesem Punkt hat sie sich auch wirklich verdient. Egal, wie viel ihre Musik oder ihre Kunst jemandem von uns etwas bedeuten, wir werden sie niemals besitzen können—wir haben kein Mitspracherecht darüber, was Grimes sein oder nicht sein soll.“

Grimes ist mit eben dieser Kontrolle auch an ihr neues Album herangegangen und Art Angels wird von allen Seiten dafür gelobt. Jessica Hopper von Pitchfork schreibt: „Art Angels ist der vergoldeter Sargnagel für ausgediente, sexistische Argumente, dass Frauen im Pop konstruierte Produkte sind—nicht mehr als ein Aktionsrahmen für die Talente männlicher Producer. Ihre Musik ist demnach makellos und gilt dementsprechend als weniger authentisch.“ In der Tat ist Grimes, trotz ihres alternativ gefärbten Images, eine Popkünstlerin, die eine Menge Inspiration aus lupenreinem modernen Pop von Künstlerinnen wie Christina Aguilera, Beyoncé, Katy Perry und Mariah Carey zieht, während sie gleichzeitig gegen die Konformität auf die Barrikaden geht, die von Frauen in der Industrie erwartet wird. Hopper fährt fort: „Ihre hin- und hergerissene, schwindelerregende Erfahrung mit dem schnellen Ruhm, der nach Visions kam, scheint sie zu einer befreienden Scheißegal-Einstellung gebracht zu haben. Manche Songs wie ‚Kill V. Maim’ sind voll von ergreifender Wut—ja, selbst beiläufiger Misandrie [„I’m only a man / I do what I can“, singt sie zu der Hook]. Was am Ende aber auf Art Angels am aufregendsten ist, ist der unbedingte Wille und die Furchtlosigkeit von Bouchers Kampf darum, so gesehen und gehört zu werden, wie sie es will. Sie ist kein ‚menschlicher Tumblr’, wie wir sie 2012 (etwas abfällig) bezeichnet haben. Sie ist menschlicher Zeitgeist, der all die Binaritäten und Grenzen neudefiniert, anhand derer wir Popmusik definieren—und sie zwingt uns mitzumachen.“

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Adele, die sich als etwas kommerzieller ausgerichtete Künstlerin in anderen Gefilden des Musikgeschäfts bewegt, kommuniziert ihren Machtanspruch einfach direkt in den Meetings und im Studio. In einem Rolling-Stone-Artikel wird unter anderem folgende Anekdote erzählt: „Sie erinnert sich, wie sie in Businessmeetings unter lauter Männern nicht ernstgenommen wurde und ihr ständig eine ‚Was weißt du schon?“-Einstellung entgegenkam. ‚Nun, ich bin die verdammte Künstlerin’, sagt sie und setzt sich aufrecht in den Stuhl. ‚Ich weiß also verdammt noch mal alles! Rede nicht so von oben herab mit mir!’“ Sie sagte dort außerdem, dass mit einer anderen Frau, in diesem Fall Sia, zusammenzuarbeiten, die von Männern dominierte Landschaft des Pop bedroht. „‚Ich liebe tatsächlich diese Dynamik von uns beiden, wenn wir beide da drin sind und einfach alle rumkommandieren’, sagt sie lachend. ‚Und da sind dann diese ganzen Producer, die sich in die Hose scheißen, weil wir da sind.’“ Wie Grimes übt auch Adele eine derartige Kontrolle über ihre Musik aus, dass sie erst vor Kurzem herausgefunden hat, wer Max Martin ist (der Typ, der als Writer und/oder Producer für die meisten deiner Lieblings-Pophymnen verantwortlich ist: 1989 von Taylor Swift, „Part of Me“ von Katy Perry und den Großteil von Britneys Femme Fatale—um nur ein paar Beispiele zu nennen). Adele ist wie Grimes mehr als fähig, Musik auf ihre eigene Art zu machen.

Weder Adele noch Grimes haben uns jemals ihre Körper zur Wahl gestellt und für Frauen in der modernen Poplandschaft mag vielleicht gerade das der radikale Akt des Widerstands sein. Dadurch, dass sie sich weigern, es zuzulassen, dass wir uns von ihrer nackten Haut ablenken lassen, erschafft beiden eine einzigartige Plattform, von der aus sie ihre Musik kreieren und verbreiten können. Weil wir keine von beiden für uns vereinnahmen können—ihr Privatleben bleibt unter Verschluss, ihre Körper sind gut bewacht—bleibt uns nicht mehr als das, was sie für uns produzieren. Das soll nicht heißen, dass eine der beiden Frauen prüde oder puritanisch ist: Es braucht nur einen kurzen Blick auf ihr jeweiliges Schaffen oder ein flüchtiges Überfliegen ihrer öffentlichen Statements, um zu merken, dass diese Frauen nicht über andere Frauen urteilen. Kurz gesagt: Sie öffnen den Kanal für einen anderen Dialog um Künstlerinnen, der sich nicht bloß darum dreht, was diese oder jene mit ihrem entblößten Hinterteil beansprucht oder wiederbeansprucht. Sie erlauben es uns, sie auf die gleiche Art zu konsumieren, wie wir ihre männlichen Künstlerkollegen konsumieren: Wegen ihrer Musik. Und ist es am Ende nicht genau das, worum es gehen sollte?

Kate George ist Autorin und lebt in Brooklyn, New York. Folgt ihr auf Twitter—@Kat_George

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