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Interviews

Wir wären alle gerne Tinie Tempah

Willst du lieber auf der Couch sitzen und dich über Sell-Outs aufregen, oder willst du Millionen Platten verkaufen und der erfolgreichste Rapper deines Landes sein? Letzteres? Dann wärst du gerne Tinie Tempah.

Das Problem bei musikalischen Untergrundkulturen ist, dass die Musik nicht zu geil sein darf, sonst kommen noch irgendwelche Mädchen mit Beanie und Goldkette über der zugeknöpften Primark-Bluse dazu, es zu feiern. Und dann ist sowieso alles vorbei. Dieser Entwicklung wird seit einiger Zeit der britische Grime, der vor gut zehn Jahren im Londoner Eastend entstand, ausgesetzt. Kein Wunder, denn Grime verbindet die zwei im Augenblick erfolgreichsten Musikrichtungen Rap und Electro. Einer der vermeintlichen Todesengel, der eine verzuckerte Pop-Version von Grime über den großen Teich bis in die Billboard-Charts gebracht hat, ist Tinie Tempah. Sein Debütalbum Disc-Overy verkaufte sich im UK über eine Millionen Mal und erreichte sogar in den USA Platz zwölf der Charts.

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Natürlich gilt er damit als Zielscheibe für die Grime-Realkeeper aus den Londoner Problembezirken, doch Tinie Tempah hat sich nie als klassischen Grime MC ausgegeben. In seiner Jugend wuchs er in einer Hochhaussiedlung in Walworth, im Südosten Londons auf, bevor seine Familie in ein Haus mit Vorgarten in einen Vorort Londons zog, wo er plötzlich der einzige Schwarze in der Nachbarschaft war und nicht mehr nur Wiley sondern auch Calvin Harris hörte. Heute ist er der erfolgreichste britische MC und ein überraschend freundlicher Interviewpartner.

Noisey: Wahrscheinlich nervt dich die Frage, aber warum hast du die Veröffentlichung deines Albums so oft nach hinten verschoben?
Tinie Tempah: Ich wollte es einfach richtig machen. Wir haben damit Anfang 2012 angefangen, es hat also etwa anderthalb Jahre gedauert. Der Grund dafür ist, dass ich zum ersten Mal bewusst an einem Album gearbeitet habe. Als ich Disc-Overy gemacht habe war ich 20, 21. Ich hatte „Pass Out“ draußen, das krass eingeschlagen ist. Also ging es darum, Tracks um diesen einen Song herum zu machen, weil ich ein Album brauchte. Mittlerweile weiß ich, wie es geht, ein richtiges Album zu machen. Außerdem braucht es Zeit, wenn man mit so vielen anderen Musikern auf einer Platte arbeitet.

Stimmt es also, dass das zweite Album immer schwieriger ist als das erste?
Ja, in manchen Punkten schon, weil ich älter geworden bin, weiß, wer ich bin und die Ansprüche hochgeschraubt habe. Es ging darum, harte, nach Underground klingende Songs auf der einen und große Radio-Hits auf der anderen Seite zu machen. So etwas braucht Zeit.

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Du wirst oft als Single-Künstler wahrgenommen. Wolltest du mit Demonstration beweisen, dass du auch ein gutes Album hinlegen kannst?
Das auch. Mit dem ersten Album habe ich weltweit über eine Millionen Einheiten verkauft, ich brauchte also niemandem mehr etwas zu beweisen, nur mir persönlich, dass ich weiterhin gute Songs schreiben kann. Nach meinem Verständnis sind Jay-Z und Kanye West ganz oben, weiter unten ein Meer an Rappern, aber dazwischen gibt es nur sehr wenige, die zum Beispiel auch eine Tour in Deutschland machen würden. Ich will diese Lücke füllen, und dafür brauchst du Songs, mit denen man sich identifizieren kann.

Du hast Chris Martin als Inspirationsquelle für dein Album genannt.
Es ging nicht unbedingt um die musikalische Inspiration bei ihm. Er war eher ein Mentor. Ich habe ihn besonders am Anfang der Albumproduktion oft nach Rat gefragt, wie man an eine Albumproduktion herangeht. Er hat mir viele Ratschläge gegeben.

Zum Beispiel?
Sein größter Ratschlag war: Wenn du ein Album fertig gemacht hast und dich leer und glücklich fühlst, dann mach noch einen Song. Denn, wenn die Last von dir abgefallen ist, kannst du alles vergessen und einen wunderbaren Track machen.

Erzähl mal, wie es war, mit Diplo zu arbeiten.
Obwohl er Songs für Beyoncé und Usher macht, ist er immer noch im Club und macht Musik für die Straße. Das erinnert mich an die Londoner Mentalität. Ein Major Lazer-Album hört sich nach den Straßen von London an. Deswegen wollte ich mit Diplo zusammenarbeiten, außerdem ist sein Sound sehr klar. Wenn es droppt, (klatscht in die Hände) kannst du es fühlen.

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Du hast angefangen, das Album in Los Angeles zu produzieren, bist dann aber zurück nach London geflüchtet. Was ist da passiert?
Du kommst aus Deutschland. Ich weiß, dass du nicht auf Anhieb jedes Wort verstehen kannst, was ich gerade sage, du wirst auch beim Anhören des Interviews noch sagen: Was zur Hölle sagt er da? (lacht) Und das Problem hatte ich mit den amerikanischen Tontechnikern, mit denen ich gearbeitet habe. Wenn ich eine Strophe aufgenommen habe, haben sie es immer durchgewunken. Irgendwann habe ich gefragt, ob sie überhaupt alle Wörter verstehen. „Jaja, die meisten davon“, haben sie gesagt. Dann habe ich gedacht, wenn ihr schon die Wörter nicht versteht, die ich für mein Album aufnehme—dann darf ich auf keinen Fall mehr hier bleiben. Ich brauchte jemanden, der mir objektiv sagen konnte, was funktioniert und was nicht. Deswegen bin ich nach Hause geflogen.

Du bist wahrscheinlich der einzige europäische Rapper, der auch in den USA Erfolg hat. Wie kannst du dir das erklären?
Es liegt an den Songs, Bro, nur an den Songs. Wenn du dich später mal an Jay-Z zurück erinnerst, wirst du auf jeden Fall an „Empire State of Mind“ oder „Hard Knock Life“ denken. Mein Song, der dort eingeschlagen ist, war „Written in the Stars“. Wir hatten unglaubliches Glück, denn als wir den Song releast haben, ist es gleichzeitig zur offiziellen Hymne der WWE-WrestleMania und der Major League Baseball geworden. Und die New York Giants haben den Song als Einlaufmusik beim Super Bowl benutzt.

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Das ist heftig.
Das ist richtig heftig, Bro. Stell dir das mal vor: Fast ganz Amerika hört deinen Song.

Wenn man mit 21 schon eine Millionen Alben verkauft, muss man sich da zwingen, nicht abzuheben? Oder ist es bei dir schon zu spät?
(ruft) Nein, Mann, wirklich! Keine Ahnung, ob es an den Leuten um mich herum liegt, aber ich fühle mich immer noch wie früher. Ich will nicht lügen und sagen, dass mir mein Leben nicht Spaß machen würde, aber ich bin nicht hier um den Egotrip zu fahren. Ich bin ja auch immer noch ein Newcomer, da ist ein großes Ego erst Recht nicht angebracht.

Siehst du dich eigentlich immer noch als Grime MC?
Meine Wurzeln werden immer im Grime bleiben, ich gehe Songs immer mit einer Grime-Mentalität an. Aber ich sehe in mir noch mehr als das, weil ich auch Songs mache, die viele Grime-Künstler nicht machen würden. Ich versuche, so viele musikalische Einflüsse wie möglich in meine Songs zu packen, weil das die verschiedenen Facetten meines Charakters repräsentiert.

Was sagst du dazu, wenn dich Leute in der Grime-Szene als Sell-Out beschimpfen?
So ist es ja immer bei einer Underground-Kultur. „Er ist in den Charts? Jetzt ist er nicht mehr cool.“ Die Leute können sagen, was sie wollen, aber letztendlich bringe ich den Leuten außerhalb vom UK einen Stück weit die britische Rapkultur näher und bereite den Weg für andere Künstler. Jay-Z sagt „Niggas want my old shit, buy my old albums“ und macht Songs mit Beyoncé. Ich weiß nicht, was die Leute darüber denken, aber ich glaube nicht, dass Jay-Z sich darüber Gedanken macht. Diese Meinungen von irgendwelchen Rappern wird es immer geben, aber im Endeffekt hat Jay-Z ihnen den Weg bereitet, überhaupt Rap machen zu können. Am Ende des Tages frage ich mich: Willst du der Typ sein, der eine Millionen Platten verkauft und durch Australien tourt oder der Typ auf der Couch, der sagt: „Was für ein Sell-Out der Typ geworden ist“. Ich weiß, wer ich gerne wäre.

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Dich stört die Kritik also nicht?
Nein, Mann. Ich mache die Musik auch nicht nur für mich. Es geht um die Kultur, um Rapmusik aus dem UK und London, die will ich in der Welt als Marke etablieren.

Und wie schafft man das?
Wir müssen an einen Punkt kommen, an dem britischer Rap in der Welt wie jede andere Musikrichtung angesehen wird. Das ist das Wichtigste. Amerikanischer Rap hört sich für unsere Ohren normal an, aber britischer Rap wird immer noch als sonderbar angesehen. Das bedeutet, wir müssen rausgehen und mit guten Songs unsere Kultur als Marke etablieren. Wenn ein deutscher Künstler wie Casper ein halb deutsches, halb englisches Album machen würde, würdest du auch wollen, dass er überall auf der Welt erfolgreich wird.

Woher kennst du denn Casper?
Eben hat mir ein Interviewer diesen sehr rockigen Track vorgespielt, wo er erst nach zwei Minuten anfängt zu rappen. Der Song war echt großartig.

Wie nehmen dich die Leute in den USA denn als britischen MC auf?
Ich habe schon mit vielen amerikanischen Rappern gearbeitet. Sie respektieren die Musik, die aus Großbritannien kommt, weil es ein großer Markt ist, in den sie hinein wollen, aber sie sehen die Musik nicht auf einer Stufe wie ihre.

Dabei hat Großbritannien den modernen Pop erfunden.
Ganz genau, aber auch europäische Musik im Ganzen ist im Moment einfach sehr gut. Die Amerikaner kommen dann hierhin, finden es cool und beanspruchen es sofort für sich. Das muss aufhören! Du kannst in den USA keinen Kühlschrank öffnen, ohne dass dir Dance-Musik entgegenschallt. Wir aber feiern diese Musik hier seit Jahrzehnten und sollten mehr Anspruch erheben. Deswegen feier ich die Swedish House Mafia. Sie haben sich „Swedish-House-Mafia“ genannt und rammen damit ihre Flagge in den Boden. Das müssen wir als Europäer auch beherzigen.

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