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Die Empörung über Madonnas Brüste-Aktion entlarvt unsere Doppelmoral

Wenn männliche Stars auf der Bühne ihren Schritt an weiblichen Fans reiben, bleibt der Aufschrei aus.

Madonnas jüngster „Skandal“, der weltweit für Empörung sorgte, ereignete sich auf der Bühne während ihrer Rebel Heart Tour im australischen Brisbane, wo sie einem überraschten Fan das Top runterzog und damit ihre Brust entblößte. Nackte Frauenbrüste haben nämlich (vor allem in den USA) in der Öffentlichkeit nichts zu suchen, wenn sie nicht gerade durch einen offiziellen Erlass des außerordentlichen Ordens der Männerinteressen (könnte auch der Titel des nächsten Harry Potter Buches sein) bewilligt worden sind. Die Empörung wurde dann noch einmal durch die Tatsache verstärkt, dass besagter Fan erst 17 Jahre alt ist, was in vielen Ländern als Minderjährig gilt—in Australien liegt die Grenze zur Minderjährigkeit allerdings bei 16. Bevor sich die Sängerin am Top der jungen Frau vergriff, sagte sie „Sie ist die Art von Mädchen, dem man einfach einen Klaps auf den Hintern geben will“, woraufhin sie das trägerlose Top runterzog und damit (wohl aus Versehen) ihre Brust entblößte. Madonna darauf: „Oh scheiße, das tut mir leid. Sexuelle Belästigung!“

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Die Medien stürzten sich auf die Meldung, wobei auch der britische Journalist Piers Morgan—seines Zeichens verbitterter alter Mann, der mit Twitter gegen Mühlen anrennt—für ihn typisch seinen Senf dazu geben musste, wie sich Frauen doch bitte in der Öffentlichkeit zu verhalten haben. Er nannte Madonnas Aktion „sexuellen Missbrauch“ und bezeichnete sie als „versaute alte Frau“. Morgan fuhr dann mit einer sexistischen Tirade für das britische Boulevardblatt Daily Mail (LOL) fort, in der natürlich auch vorhersehbare Seitenhiebe wie den auf Madonnas Mutterschaft und ihr Alter nicht fehlen durften. Er schrieb: „Du hast fünf Kinder, nicht eins. Oh, und um das Ganze noch abstoßender zu machen, du bist 57 und damit alt genug, die Großmutter von diesem Mädchen zu sein.“ (Bislang konnten wir noch nicht in Erfahrung bringen, was Piers Morgan davon hält, wenn alte Männer wesentlich jüngere Frauen betatschen, heiraten oder als ihre Partner in Filmen auftreten.)

Er fuhr damit fort, sich zu fragen (und direkt selbst zu beantworten, weil… ALTER!), was wohl passiert wäre, wenn ein Mann die gleiche Aktion wie Madonna gebracht hätte. „Jetzt stell dir mal vor, du wärst ein männlicher Star in dieser Situation? Was glaubst du, was mit dir passiert wäre? Erstens wären alle von dir angeekelt. Zweitens würdest du den geballten Medienzorn zu spüren bekommen. Drittens würde dir mit ziemlicher Sicherheit eine Anzeige wegen unzüchtigen Verhaltens und/oder sexuellen Missbrauch ins Haus flattern.“ Tja, Piers, wie soll ich es nur sagen? Du liegst einfach komplett daneben! Es gibt ein reichhaltiges Archiv mit Konzertaufnahmen, bequem über YouTube abzurufen, auf denen zu sehen ist, wie männliche Künstler routinemäßig ähnliche und manchmal noch grenzüberschreitende Dinge anstellen—und dafür gefeiert werden. Und keiner von ihnen ist Ziel des „Medienzorns“ geworden oder deswegen angezeigt worden.

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Aber räumen wir doch als erstes mit dem Vorwurf auf, dass Madonnas Verhalten in irgendeiner Form nicht einvernehmlich gewesen ist. Auch wenn die besagte Teenagerin, Josephine Georgiou, sehr wahrscheinlich nicht damit gerechnet hatte, mit entblößter Brust auf der Bühne zu stehen, sagte sie später gegenüber der australischen Zeitung The Courier Mail: „Nur ich allein kann darüber entscheiden, ob ich gedemütigt wurde oder nicht. Warum sollten Menschen denken, dass ich wegen meiner eigenen Brust, Nippel oder meines Körper gedemütigt bin? Ernsthaft, warum sollte ich Madonna für den besten Moment meines Lebens verklagen? Es war der beste Abend überhaupt… Sie nannte mich die ganze Zeit als ich auf der Bühne war ein Victoria’s Secret- Model, was unglaublich schmeichelhaft ist.“ Die Objektifizierung von Frauen ist ein großes Problem in unserer Gesellschaft und Madonna hat mit ihrer Sexualisierung von Georgiou auf der Bühne bestimmt nicht dazu beigetragen, diesen Missstand irgendwie zu verbessern. Aber genau diese Sexualisierung wird von männlichen Künstlern—egal, wie sehr Morgan dagegen auch protestiert—fast ständig getan, ohne dass sich jemand daran stört. Warum sparen wir uns dann aber unser kollektives Entsetzen für Madonna auf, wenn sie eigentlich nichts anderes tut als jemand, der gemeinhin als „anständiger“ männlicher Popstar gesehen wird?

Männer verhalten sich auf der Bühne sexuell aggressiver und grenzüberschreitender und von uns wird erwartet, angesichts ihres ungezügelten Charmes dahinzuschmelzen—was wir in der Regel auch tun. Wenn einer Frau das Gefühl gegeben wird, sexy zu sein und sich von dem männlichen Performer begehrt zu fühlen, indem er ihr Komplimente für ihren Körper macht oder sie provokativ berührt, dann wird das als geradezu transzendentale Erfahrung für den weiblichen Fan gesehen. Robbie Williams hat für unsere Generation das Rumknutschen mit weiblichen Fans auf der Bühne erfunden. Usher holt Fans, einige davon eher zögerlich und andere wiederum unglaublich enthusiastisch, auf die Bühne, simuliert recht eindeutig Sex und reibt seinen Penis an diversen Körperstellen (siehe Video unten). Chris Brown hat ebenfalls eine ähnliche Show-Einlage im Programm. Justin Bieber bringt Fans auf die Bühne, um mit ihnen rumzumachen (hierbei bitte bedenken, dass ein Großteil der Bieber-Fans im Teenageralter ist). Drake grabscht seinen Fans an Hintern und Brust, während er ihre Körper abküsst, und auch Enrique Iglesias macht auf der Bühne mit leibestrunkenen Fans rum.

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Die Liste ließe sich noch ewig weiterführen. Natürlich kommen die Frauen in all diesen Beispielen freiwillig auf die Bühne—aber auch Georigou ist freiwillig zu Madonna auf die Bühne gekommen. Für die Frauen, die auf der Bühne begrabscht werden, ist es eine Art Initiationsritus—etwas, auf das sie stolz sein können. Warum gilt das nicht auch für Georgiou? Und noch viel wichtiger: Wenn wir so entsetzt darüber sind, was Madonna getan hat, warum sind wir dann nicht auch so entsetzt darüber, was Williams, Usher, Bieber, Brown, Drake und Iglesias getan haben und immer noch regelmäßig tun?

Usher grindet, was das Zeug hält.

Bieber gibt einem Fan einen Schmatzer.

Aber es sind nicht nur Männer, bei denen wir über derartiges Verhalten großzügig hinwegsehen. Auch weibliche Popstars wie Rihanna und Britney Spears beehren ihre männlichen Zuschauer auf der Bühne gerne mal mit einem Lapdance. Von Morgan und dem restlichen Verein verstockter alter Männer ist in solchen Fällen aber kein empörter Aufschrei zu hören. Da, wo Sexualität existiert, um männliche Begierde zu bedienen—zum Beispiel, wenn eine nach konventionellen Standards hübsche, jugendliche Frau sich ähnlich wie eine Stripperin, für die er vielleicht sogar Geld bezahlt hätte, an einem Mann reibt—geht ein solches Verhalten klar. Die weibliche Sexualität existiert an allererster Stelle nämlich dazu, männliche Sehnsüchte zu bedienen, und wenn dann eine „nicht begehrenswerte“, ältere Frau dieses Konzept in Beschlag nimmt, stellt das den Status Quo derartig auf den Kopf, dass die männliche Erektion damit total überfordert ist—und solches Verhalten dementsprechend abgelehnt wird. Das gleiche ist Madonna auch schon passiert, als sie Drake auf der Bühne geküsst hat. Wäre sie eine andere Frau gewesen, eine die von der versammelten Männerschaft als „generell sexy“ angesehen worden wird, wäre ihre Aktion nicht auf eine so große Abscheu gestoßen.

Der Ekel, den Piers Morgan und Gleichgesinnte hier demonstrativ zur Schau stellen, ist unglaublich selektiv. Die Ablehnung ist eindeutig auf Madonna zugeschnitten—und auf ein Verhalten, das die Heteronormativität von Lust und Begehren in Frage zu stellen scheint. Es zeigt uns, dass Männer kein Interesse an Frauen haben, die Frauen anhimmeln, oder an Frauen, die sexuelle Bestätigung bei anderen Frauen suchen. Männer wie Piers Morgan würden uns gerne einreden, dass sie für uns alle entscheiden können, was sexy ist und was nicht. Und wenn Madonna Georgiou Komplimente macht, wie das vielleicht ein Mann tun würde, dann passt das nicht in ihr Raster. Im Grunde hat niemand Madonna darum gebeten, ihre Wertung abzugeben. Wenn Madonna dafür diffamiert wird, weil sie genau die gleichen Dinge macht, die abgefeiert werden, wenn sie von und für Männern gemacht werden, wird einem klar, dass die Autonomie der weiblichen Sexualität noch immer ein mythologisches Konzept ist, dem wir zwar hinterherrennen, das wir aber noch nicht erreicht haben. Das gilt für Madonna, für Georgiou, für uns alle. In einer Welt, in der wir noch immer an das Diktat des männlichen Begehrens, hat die Zurschaustellung von Sexualität wenig damit zu tun hat, was die Person auf der Bühne sexy findet, und viel damit, was den Jungs gefällt.

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