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Staiger vs das Elend der modernen Welt

Zu wenig—Staiger zieht mit Marteria, Maeckes und Paul Ripke durch die kenianische Hood

Marcus Staiger bereist mit Marteria, Maeckes und Paul Ripke Kenia—und ist hin- und hergerissen, ob das eine gute Idee ist. Denn sie fühlen sich völlig fehl am Platz.

Kinder trinken an der Wasserstelle in Kibera (alle Fotos © Paul Ripke)

Anm. der Red.: Marcus Staiger hat in den Nullerjahren Royal Bunker gegründet und ist gerade mit Unterstützung von Viva con Agua in Kenia. Zusammen mit Maeckes, Marteria und dem Fotografen Paul Ripke bereist er das Land und versucht zu helfen—und wenn es nur durch Aufmerksamkeit für die Situation der dort teilweise in ärmlichsten Verhältnissen lebenden Menschen ist. Bei uns berichtet er von seinen Erlebnissen.

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Kibera ist eines der größten Slums in ganz Afrika. In dem Stadtteil von Nairobi, der Hauptstadt Kenias, leben vorsichtig geschätzt 500.000 Menschen auf engstem Raum, ohne Wasser und unter miesen hygienischen Bedingungen. Ab und an gibt es eine Wasserstelle, an der man sich seinen 20 Liter-Kanister für umgerechnet 10 Cent mit Wasser vollmachen lassen kann und hin und wieder stehen öffentliche Toiletten zur Verfügung, die für umgerechnet 5 Cent benutzt werden dürfen. Dafür haben die meisten der Hütten Strom. Das ist wichtig, denn das allerwichtigste für die Kenianer ist sowieso, dass sie ihr Handy aufladen können. Statistisch gesehen hat jeder Mensch in Afrika zwei Handys. Kommunikation ist alles.

Die Benutzung der öffentlichen Toiletten in Kibera kosten 5 Cent—die meisten Hütten des Slums haben keine Toiletten

Wir sind in Kibera um mit Viva con Agua einen Fotoworkshop zu machen, den Paul Ripke leitet und der darin besteht, dass 30 Schüler des Olympic Educational Centers eine Einwegkamera in die Hand gedrückt bekommen, um Fotos zum Thema Wasser in ihrem Stadtteil zu machen. Paul Ripke erklärt den Schülern einzeln, wie sie die Kamera zu bedienen haben und worauf es dabei ankommt. 30 Kameras für Schüler, während 300 andere drum herum stehen und zugucken müssen. Es ist eine beschissene Situation. Es ist zu wenig, doch mir fällt nichts ein, wie man es in diesem Moment besser machen könnte.

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Paul Ripke erklärt die Benutzung der Einwegkamera

Ich war am frühen Morgen schon einmal hier, um ein elfjähriges Mädchen auf ihrem Schulweg zu begleiten. Veronica war wahnsinnig schüchtern und erst auf mehrmaliges Nachfragen erklärte sie uns zaghaft, dass sie gerne Lehrerin werden würde. In der Lehmhütte, in der wir sie besuchten, schlafen auf ungefähr sechs Quadratmetern fünf Menschen. Veronica hat das große Glück, überhaupt in die Schule gehen zu dürfen, weil ihr Bruder James das Schulgeld von 15 Euro pro Monat für sie verdient. Wie viele der anderen Geschwister zur Schule gehen, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. James meinte zwar, dass sie alle irgendwie unterrichtet werden und anscheinend gibt es in Kenia auch so etwas wie eine Schulpflicht, allerdings ist es schwer vorstellbar, dass James und seine Mutter 75 Euro pro Monat nur für Schulgeld erwirtschaften. Schließlich müssen sie auch noch Miete für die Hütte bezahlen und irgendwie Essen auf den Tisch bekommen. Der Vater hat die Familie anscheinend schon vor längerer Zeit verlassen. Keiner weiß, wo er ist.

Veronica auf dem Weg zur Schule

Hier wohnt Veronica mit ihrer Mutter und drei Geschwistern

Am späten Nachmittag machen wir uns also mit einer Horde Kinder auf den Weg durch die Hood. Im Ghetto Light Youth Center findet Tanztraining statt. Ein Junge trommelt auf Plastikeimern und die Mädchen üben Formationstanz.

Kinder tanzen im Ghetto Light Youth Center

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Die Hälfte der Menschen hat keine Schuhe. Wir kommen an offenen Abwasserkanälen vorbei, in denen die Kloake steht und an Müllkippen, auf denen Hühner und Menschen nach Essbarem suchen. Überall schwelen kleinere Feuer, Frauen frittieren Brot, Fisch oder Kartoffeln. Es riecht. Es stinkt. Es ist laut. Überall sind Menschen und alles passiert gleichzeitig. Ich bin zum allerersten mal in Afrika und auch wenn ich weiß, dass es das alles gibt und die Bilder alle schon kenne, bin ich schockiert. Ich sehe das alles zum ersten mal live und in Echt.

Ein offener Abwasserkanal mitten im Slum

Es ist eine absurde Situation. Vor knapp zwei Stunden hat uns der Fahrer der Welthungerhilfe, dem offiziellen Partner von Viva con Agua in Kenia, aus unserem umzäunten und von Sicherheitsleuten bewachten Wohnblock abgeholt. Nun staksen wir durchs Ghetto und fotografieren das Elend. In meinem Kopf lese ich schon die ersten Facebook-Kommentare. „Was sollen die Kinder dem mit den Einwegkameras? Spendet denen doch lieber Essen.“ – „Staiger, Marteria und Mackes—auf Ghettosafari“, und auch die örtliche Bevölkerung ist nicht unbedingt erfreut über unser Erscheinen. Hinter vorgehaltener Hand werden wir beschimpft und später erzählt uns Onejiru, die ebenfalls Teil unserer Gruppe ist und Swahili spricht, dass auch die Kinder mit den Kameras angemacht wurden: „Ihr lasst Euch doch nur verarschen, mit diesen billigen Kameras. Das machen die doch nur, um ihr Gewissen zu beruhigen.“ Es gibt keine Möglichkeit abzutauchen. Man kann sich nicht wegducken und unauffällig bleiben. Man kann nicht so tun, als würde man von dort kommen. Investigativer Journalismus funktioniert nicht. Ich bin ein weißer Europäer, der es sich leisten kann, nach Kenia zu fliegen, während ein Großteil der Leute aus Kibera nicht weiß, ob sie auch morgen wieder die ein bis zwei Dollar zusammen bekommen, die sie zum Überleben brauchen.

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Das hier ist tatsächlich so falsch, aus so vielen verschiedenen Gründen, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Nicht hingehen? Nicht berichten? Sich nicht dafür interessieren? Hingehen und berichten und sich dem Vorwurf des Voyeurismus aussetzen? Hingehen und einen Fotoworkshop machen und die Bilder, die von den Kindern geschossen werden in Deutschland ausstellen oder doch lieber Brot verteilen? Es ist immer zu wenig und das einzige, was mich bei der Stange hält ist, dass Viva con Agua ganz konkret Brunnen baut und dafür sorgt, dass Menschen an sauberes Trinkwasser kommen. Man müsste schon ein sehr beschissener Mensch sein, wenn man das scheiße finden würde. Trotzdem sehe ich in Kibera eintausend Gründe für eine Weltrevolution—wobei wahrscheinlich nur eine auch viel zu wenig ist. Den Kindern macht der Workshop übrigens Spaß und sie sind sehr konzentriert bei der Sache. Am Schluss bekommen wir dreißig Kameras vollbepackt mit Fotos zurück.

Fotokurs mit Paul Ripke

Kenia ist ein afrikanisches Boomland und jeder hier glaubt an die Marktwirtschaft. Alle versuchen sich mit kleinen Geschäften über Wasser zu halten oder irgendeinen Job zu bekommen. Frauen verkaufen Essen, Holzkohle steht sauber aufgeschichtet zu kleinen Pyramiden zum Verkauf bereit, es gibt selbstgezimmerte Kinos, in denen DVDs gezeigt werden oder Fußballspiele aus England. Ein Mann bietet Stahlwolle an, die man zum Kochtopfschrubben benutzen kann und erzählt, dass er auf knapp einen Dollar am Tag kommt. Ausgenommener Fisch wird verkauft, der Schwarz vor Fliegen ist und sogar die Fischabfälle werden angeboten.

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Händler verkaufen im Slum Fisch und Kohle

In der in Nairobi erscheinenden Daily Nation lautet dieser Tage eine Schlagzeile, dass 150.000 Arbeitsplätze in Gefahr seien, weil die EU die Einfuhrzölle auf kenianische Produkte erhöht. Arbeitsplätze von denen die Menschen hier leben und die nun fehlen werden. Trotzdem verlassen Tausende von Menschen täglich ihre Dörfer, um in der Stadt ihr Glück zu suchen. Es herrscht Landflucht in Kenia. Durch die Schaffung von Grundbesitz und die Übermacht der Geldwirtschaft lösen sich die alten Dorfstrukturen auf. Die Menschen träumen davon Rechtsanwalt, Lehrer oder Arzt zu werden und jeder will an den Segnungen der modernen Welt teilhaben. Doch wer sein Dorf verlässt, der landet erst mal hier. Ein Studium an der Universität von Nairobi kostet 500 Dollar im Monat. Eine Summe, die sich kaum jemand leisten kann. Ich kaufe einer Frau 50 frittierte Kartoffelstücke für umgerechnet 50 Cent ab. Es ist zu wenig. Nach drei Chips habe ich keinen Hunger mehr und verschenke den Rest an drei Kinder, denen ich sage, dass sie unter sich aufteilen sollen. Auch das ist viel zu wenig. Als wir in eine Gegend kommen, in der aus jeder Hütte ohrenbetäubende Musik ertönt und Männer mit glasigen Augen davor sitzen, schaue ich niemandem mehr ins Gesicht. Hier sind wir definitiv nicht erwünscht. Der uns zugeteilte Bodyguard erklärt mir, dass hier die Bars sind, in denen es Abends abgeht. Ich erkundige mich, ob man hier auch Girls bekommen könne. Es ist eine neutrale Frage, aber er versteht sie so, wie er sie wahrscheinlich von so manchem Europäer gestellt bekommen hat, der im Schlepptau einer Hilfsorganisation das Land bereist. Er lacht: „Yes there are many girls“, und unterstreicht seine Worte mit einer weit ausholenden und einladenden Geste, wobei ich allerdings bezweifle, dass auch nur irgendein Weißer nach Einbruch der Dunkelheit hierherkommt.

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Marteria und Maeckes im Kreise neuer Fans

Zurück in der Schule erwartet uns ein Chor, der ein kleines Programm für uns vorbereitet hat. An eine der Wände hat jemand das Wort „Chucknorris“ gesprüht. Marteria und Mackes spielen noch ein wenig Fußball und rappen für die Kinder. Die Schüler singen ein Lied, das so schön ist, dass es mir die Tränen in die Augen treibt. Sie singen mehrstimmig und irgendwie erinnert es mich an ein Volksmusiklied aus Österreich. Es klingt nach Abendstimmung, nach Abschied und Gottvertrauen und ich denke, dass die Menschen doch überall gleich sind, mit ihren Bedürfnissen, Ängsten und Wünschen. Am Schluss tanzen wir alle gemeinsam und ich versuche Maeckes, der sich steif wie ein Brett macht, wegzutragen. Das gefällt den Kindern und wir müssen daraufhin alle Schülerinnen und Schüler mindestens einmal auf diese Art herumtragen. Alle schreien und lachen und zupfen an meinen Armen herum, weil sie noch nie jemanden gesehen haben, der so vielen Haaren auf dem Arm hat. Wir haben Wachsmalstifte mitgebracht. Leider nicht genug. Es ist eine symbolische Geste. Jeder soll einen Stift bekommen und sofort fangen die Kinder an, sich darum zu balgen und sie sich gegenseitig abzujagen. Es ist einfach zu wenig.

Marcus Staiger umringt von kenianischen Kids