FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Warum Poetry Slams besser sind als ihr Ruf

Friede den Bars, Krieg den Literaturhäusern!
Lino Wirag | Wikipedia | CC BY-SA 3.0

Franziska schreibt, performt und tritt selbst bei Peotry Slams auf. Hier findet ihr mehr Infos zu ihr.

Inspiriert von einer Dokumentation über erwachsene Rapper fragte ich ein paar etablierte Poetry SlammerInnen, was sie antworten, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt würden. Die meisten behalfen sich mit euphemistischen Umschreibungen oder zählten alle Tätigkeiten auf, mit denen sie sonst noch Geld verdienen. Niemand wollte sich damit identifizieren, Poetry SlammerIn zu sein. Es scheint, als drohe Poetry Slam ein Phänomen wie Coldplay zu werden: weit verbreitet, extrem erfolgreich, aber wer was auf sich hält, findet es scheiße. Dabei ist Poetry Slam die größte literarische Bewegung, die wir derzeit haben. Grund genug, mit ein paar Vorurteilen aufzuräumen.

Anzeige

Poetry Slam ist das, was Julia Engelmann macht: scheiße

Screenshot via YouTube

Zugegeben: Menschen, die von Julia Engelmann berührt waren, finden auch Helene Fischer "fetzig". Aber zu sagen, Slam sei scheiße, weil er Phänomene wie Engelmann hervorbringt, ist so, als würde man sagen, Bücher seien scheiße, weil es 50 Shades of Grey gibt. Niemand kann erklären, warum ein bestimmtes Video zum YouTube-Hit wird. Weder Julia Engelmann noch Poetry Slam können etwas dafür, wenn zig Millionen Menschen klickend einen Hype auslösen. Im besten Fall ist das Engelmann-Video eine Einstiegsdroge und man stößt schnell auf die echten Größen der Szene.

Da gewinnen nie die Guten

Mit dem Poetry Slam ist es wie mit dem Fernsehprogramm: Jeder weiß, dass arte der bessere Sender ist, aber die Mehrheit schaut trotzdem RTL II. Dass nicht immer der oder die Beste gewinnt, ist der Preis, den man zahlt, wenn man die Masse entscheiden lässt. Wer nicht will, dass Typen mit Holzfällerhemden und platten Witzen Poetry Slams gewinnen, muss sich beim Publikum beschweren, nicht beim Format. Oder aber, man scheißt einfach auf den Wettbewerb. Hinter der Bühne interessiert es sowieso keinen, wer gewinnt. Die Abstimmung dient einzig und allein dazu, das Publikum bei Laune zu halten. Es gilt der viel zitierte Satz von Poetry Performer Allan Wolf: "The points are not the point. The point is poetry". Es geht nicht um den Sieg. Es geht um die Poesie, verdammt. OK, und um Whisky.

Ich war mal bei einem Poetry Slam und es war schlecht

Es gibt ungefähr so viele schlechte Poetry Slams, wie es schlechte Theateraufführungen gibt. Aber wer einmal eine üble Inszenierung bemühter Laienschauspieler gesehen hat, käme nie auf die Idee, das Theater als Veranstaltungsformat für gescheitert oder das Drama als Genre für wertlos zu erklären. Weil es Poetry Slams aber erst seit 30 Jahren gibt, werden einzelne Veranstaltungen oft als Pars pro Toto des gesamten Phänomens missverstanden. Dabei ist die Szene mittlerweile ziemlich ausdifferenziert. Von unterirdisch über massentauglich bis überwältigend ist alles dabei. Als ZuschauerIn hat man—wie bei jeder anderen Kunstform auch—die Eigenverantwortung, sich die Perlen selbst rauszusuchen. Wer heute noch auf schlechte Slams geht, ist einfach selber Schuld.

Die Texte funktionieren nicht gedruckt

Niemand käme auf die Idee, der Kunst von Marina Abramovic ihren Wert abzusprechen, weil man sie nicht gerahmt an die Wand hängen kann. Aber der Literaturbetrieb kritisiert Poetry Slam, weil die Texte nicht gedruckt funktionieren. Während alle anderen Kunstsparten den Mehrwert von Performance längst verstanden haben, endet der Horizont des Literaturbetriebs mit dem Buchdeckel. Alles, was nicht auf Papier funktioniert, ist für ihn entweder keine Literatur oder schlicht wertlos. In der Kunstfamilie ist der Literaturbetrieb der grantige Großvater, der schimpfend in der Ecke sitzt, 50-Jährige für jung hält und glaubt, die Zukunft verhindern zu können, wenn er sie nur vehement genug leugnet. In der Zwischenzeit erobern Poetry SlammerInnen Neuland und loten die Grenzen von Poesie neu aus.

Poetry SlammerInnen sind Möchtegern-Rockstars

Poetry SlammerInnen bekommen oft zu hören, sie seien nichts als verkappte Rockstars, die nur zu unmusikalisch seien, um ein Instrument zu spielen. Das ist natürlich vollkommen richtig. Deshalb stößt man bei Poetry Slams auch auf PerformerInnen, die einen mit der Wucht einer 12-köpfigen Brass Band an die Wand blasen—und das mit nichts als ihrem Text und ihrem Ausdruck. Bestes internationales Beispiel dafür ist Kate Tempest. Aber auch österreichische Acts wie das Poetry-Slam-Team Phosphen können da mithalten.

Das ist immer das Gleiche

Die Beschränkung auf Mimik, Gestik und Text lässt zugegbenermaßen wenig Spielraum. Umso spannender wird es, wenn SlammerInnen sich abseits der Slam-Bühne austoben. Da gäbe es zum Beispiel das Wiener Jazz-Poetry-Projekt Bauer Schläger Wurf Berger oder die Rap-Kollaboration von Yasmo und Fatiama Moumouni. Einige SlammerInnen wechseln ins Kabarett, drehen Poetry Clips oder schreiben Romane. Poetry SlammerInnen sind extrem vielseitige KünstlerInnen. Wer sich abseits der Slam-Bühnen umschaut, wird auf Gold stoßen.

Niemand, der wirklich was drauf hat, tritt bei Poetry Slams auf

Es hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass bei Poetry Slams nur auftritt, wer außer einem ausgeprägten Selbstdarstellungsbedürfnis nichts drauf hat. Saul Williams, Nora Gomringer, Sage Francis, Yasmo, Kate Tempest, Lisa Eckhart, Alicia Keys, Mark-Uwe Kling, Lauryn Hill, Hazel Brugger, Erikah Badu, Akua Naru, Pauline Füg, John Cooper Clarke, Michael Lentz, Mos Def u.v.m. haben aber schon ein bisschen was drauf.

Poetry Slam ist belanglose Comedy

Poetry Slam ist nicht nur eine weltweite literarische Bewegung, sondern auch eine politische. Marc-Kelly Smith erfand Poetry Slam 1984 in Chicago als eine Alternative zur Literaturelite. Es ging darum jeder und jedem, unabhängig von Bildungshintergrund, Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft Zugang zu Poesie zu ermöglichen. Und es ging darum, die Literatur aus ihrem Elfenbeinturm in die Clubs und Bars zu holen. Nicht das Publikum sollte sich zur Literaturelite strecken müssen, sondern die Poeten sollten sich um das Publikum bemühen. Seit den 80er-Jahren hat sich dieser Gedanke auf der ganzen Welt verbreitet. Es gibt Poetry Slams in Asien, Europa, Afrika, Südamerika, Australien. Wer heute auf einen Slam geht, ist Teil dieser Bewegung. Wer heute eine Slam-Bühne betritt, steht in dieser politischen Tradition. So gesehen sind Poetry SlammerInnen die Hausbesetzer des Literaturbetriebs.

Deswegen gilt auch: Poetry Slam gehört allen. Wer Slam scheiße findet, kann jederzeit hingehen und es besser machen.


Header: Lino Wirag | Wikipedia | CC BY-SA 3.0