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Kommentar

Punk, Sexismus, Political Correctness: Ein Kommentar von Doctorella zum The Dickies-Vorfall

"Das, was der Dickies-Sänger gemacht hat, ist kein Punk mehr und war auch keine symbolische Kunstgeste. Hier wird der Begriff 'Punk' instrumentalisiert, um Leute zu rechtfertigen, die sexualisierte Gewalt ausüben."

Die Debatte um Sexismus im Punk hat uns die letzte Woche über schwer beschäftigt. Auslöser war der Ausraster des The Dickies-Sängers, als er auf der Warped Tour eine kritische Zuschauerin, die ein Schild hochgehalten hatte, wüst beschimpfte. Kaum jemand hat sich schon seit Jahren so intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt wie Kerstin und Sandra Grether von Doctorella. Die umtriebigen Zwillinge stehen nicht nur als Musikerinnen auf Bühnen, sondern schreiben auch schon lange für die Spex, Bücher für Suhrkamp und gehören zu den Aktivistinnen, die den SlutWalk nach Deutschland holten. Gründe genug für uns, den beiden das Feld "Sexismus im Punk" zu überlassen.

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Eins vornweg, Popmusik sowie die Popmusik-Performance und die Popmusik-Geste ist die authentischste aller Kunstformen (mit Popmusik meinen wir jetzt natürlich auch "Punk".) So wie wir Punkrock verstanden haben und so wie wir auch die Popkulturtheorien von Julie Burchill, Ellen Willis oder Diedrich Diederichsen usw. verstanden haben, ist Popmusik (und auch die Popmusik-Performance) niemals dasselbe wie ein Theaterstück oder ein Buch. Es ist einfach immer subjektiver und wirklich von der Person des Musikers/der Musikerin getragen. Man kann als Pop-, Punk-, HipHop- etc. Musiker_in nicht auf dieselbe Weise eine Kunstfigur sein, wie man das als Theaterschauspieler_in oder Schriftsteller_in ist. Was nicht bedeutet, dass es nicht auch im Song eine Trennung von lyrischem Ich und Autor_in gibt und geben muss. Genau das macht es eben so kompliziert. Aber wäre ja auch langweilig, wenn Popkultur-Rezeption so einfach wäre. Also: Es wird trotzdem jedem einleuchten, dass Slim Shady immer mehr Eminem ist als Johnny Depp ein Pirat.

Der Dickies-Sänger hat den Sexisten nicht gespielt, sondern ihn allenfalls aus sich hervorgeholt, als eine weitere Facette seines Ichs. Schon gar nicht ist eine Publikumsbeschimpfung dasselbe wie ein Song. Durch den Rauswurf also die Kunstfreiheit in Gefahr zu sehen, wenn jemand ganz konkret eine Person im Publikum verbal attackiert, bedroht und dem Mobbing aussetzt (nur weil es eine Bühne ist, auf der normalerweise Kunst stattfindet und er dieses Mobbing gewissermaßen in seine Kunstperformance mit eingebaut hat) ist schon mal per se falsch. Wenn es sich bei der gemobbten Person auch noch um eine Vertreterin einer diskriminierten Gruppe handelt, die auf ebendiese Diskriminierung aufmerksam gemacht hat, kann man sich nur noch darüber wundern, wie viele Leute tatsächlich glauben, der Rauswurf wäre nicht gerechtfertigt gewesen. Er musste sogar sein.

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Auch noch aus einem anderen Grund: Das, was der Dickies-Sänger gemacht hat, ist kein Punk mehr und war auch keine symbolische Kunstgeste. Hier wird der Begriff "Punk" instrumentalisiert, um Leute zu rechtfertigen, die sexualisierte Gewalt ausüben. Punk sollte aber nicht dafür herhalten, sexualisierte Gewalt zu rechtfertigen. So war das nicht gemeint, mit dem "Punk darf alles." Sorry! In "Punk darf alles" war doch nicht enthalten, nach unten zu treten, sondern das Establishment zu kritisieren.

Alle die meinen, sie müssten den Punk gegen Political Correctness verteidigen, sind wahrscheinlich dem reaktionären Political-Correctness-Verständnis der Rechten auf den Leim gegangen und sollten sich mal ganz gelassen und entspannt mit "intersektionellem Feminismus" beschäftigen. Der beißt nämlich nicht, auch wenn sie das vielleicht befürchten. Vielleicht sich einfach mal ein bisschen weiterbilden, anstatt aus dem Bauch sentimentale Phrasen über Punkrock zu dreschen?

Es geht um zwei Worte, die in der Diskussion nicht fallen, aber fallen müssten: Es geht um "Macht" und um "Privileg."

Dickies-Frontmann Leonard Graves Phillips hat seine Macht missbraucht. Es stimmt nämlich nicht, dass Punk einfach alles darf. Darf er gewalttägig sein und nach unten treten? Nicht, dass wir wüssten. Der Ursprungspunk in London musste sich schon früh von Oi!-Skins und von Nazivereinnahmung abgrenzen. Außerdem versuchten sie eine Ästhetik und Praxis zu schaffen, die auch antirassistisch war. Wenn z.B. die weißen The Clash und The Slits, zusammen mit schwarzen Musikern wie Don Letts mit Dub und Reggae experimentierten und in ihren Songs darüber sinnierten, inwiefern die Aneignung schwarzer Kultur OK ist oder auch nicht. Hier war das Denken in den Kategorien von "Race", "Class" und "Gender" angelegt. Niemals war Punk einfach nur eine unreflektierte, nihilistische, ungerichtete Zerstörungswut, die alles und jeden treffen konnte (wenn auch vielleicht ironisch).

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"Selbstermächtigung diskriminierter Gruppen ist Punk! Unterdrückung,Verhöhnung und Einschüchterung diskriminierter Gruppen ist Trump."

Die Urpunks von The Clash über Vivienne Westwood, Malcolm McLaren bis hin zu The Slits, Sex Pistols, X Ray Spex und ganz viele andere, haben sehr wohl versucht, eine Kunstform und eine Ästhetik zu schaffen, die nicht von Leuten vereinnahmt werden konnte, die gerne nach unten treten und nach oben kuschen. Wen genau haben die Sex Pistols denn auf der Bühne beschimpft, Stichwort "Publikumsbeschimpfung"? Ganz bestimmt nicht Leute aus diskriminierten Gruppen.

Sex Pistols-Sänger Johnny Rotten kritisierte, dass viele Leute aus der Arbeiterschicht eben nicht merken, wie das System sie verhöhnt, ihnen kleine Geschenke macht, aber nicht wirklich etwas gibt für ihre Leistung. Diese Art der Publikumsbeschimpfung ist in keinstem Falle gleichzusetzen mit der personengruppenbezogenen Hate-Speech des Dickies-Sängers. Ja, vielleicht gehört die Publikumsbeschimpfung zum Punk – wenn sie als aufmunternde, selbstermächtigende, in gleichem Maße mitfühlende wie arrogante Geste dargebracht wird. Wenn man den eigenen Leuten versucht zu sagen: "Merkt Ihr noch was?" Selbstermächtigung diskriminierter Gruppen ist Punk! Unterdrückung, Verhöhnung und Einschüchterung diskriminierter Gruppen ist Trump.

Der Dickies-Sänger könnte vielleicht echt noch was lernen vom Ursprungspunk oder vom Hardcore und Riot Grrrl-Gedanken des Punk der 1980er und 1990er! Ja, der Ursprungspunk konnte in England vielleicht auch mal EINE WOCHE lang ironisch sein oder mit Hakenkreuzen auftreten, ohne reaktionär und faschistisch zu sein. Dass Punk sich aber auch mit den Rissen und den Widersprüchen und den Ambivalenzen beschäftigte, mit dem "Ist"-Zustand der Gesellschaft, hat für Hardcore und Riot Grrrl bedeutet, die Auswirkungen dieses "Ist"-Zustands, die Folgen von gesellschaftlicher Unterdrückung am eigenen Beispiel, am eigenen Körper vorzuführen! Wie zum Beispiel wenn Riot Grrrls auf der Bühne ihre Magersucht oder ihr Leiden an Body-Shaming, Slut-Shaming, Fat-Shaming oder Skills-Shaming thematisierten. Niemals hat diese Art von Punk aber bedeutet, einen anderen Körper ungefragt an eigener Stelle leiden zu lassen!

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Riot Grrrls zum Beispiel hatten immer den Mut selber zu zeigen, wie weh sowas tut, wie brutal scheiße es sich anfühlt, diskriminiert zu werden oder wie brutal scheiße es sich anfühlt, sich schlecht zu fühlen aufgrund der Werte, die die scheißkapitalistische Gesellschaft uns einredet, wie wir zu sein haben. Der Sänger der Dickies wäre ein Held gewesen, wenn er einfach darüber geredet hätte, wie sich Altersdiskriminierung anfühlt. Er hätte dann vielleicht sogar darauf hoffen können, dass das Publikum mitfühlend reagiert und ihn auffängt und versteht, auch wenn sie jünger sind als er. Das wäre Punk gewesen!

"Wir sind nicht zu blöd, Ironie zu verstehen, wir finden den Witz nur nicht mehr so witzig"

Indem er den wirklich furchtbaren Satz gesagt hat, "Ich hab auch schon mit Nutztieren gefickt, und die waren schöner als du", hat er ihr genau die Zuschreibung angetan (Natürlich in übersteigerter polemischer Form! Wir sind nicht zu blöd, Ironie zu verstehen, wir finden den Witz nur nicht mehr so witzig.), die die Gesellschaft eben für Frauen* bereit hält, die sich nicht genau der einen willkürlichen Idee von Frau-Sein fügen wollen, die sich irgendein dahergelaufener Idiot gerade mal wieder für sie ausgedacht hat.

Er hat versucht, ihr eine Lektion zu erteilen, weil sie ihm eine Lektion erteilen wollte, wie manche Beobachter_innen vermuten. Lektionen, die das Gegenüber ohne dessen Einwilligung quälen, also purste Gewalt, werden im Punkrock aber eigentlich nicht erteilt. Und wenn doch, dann ist es eben kein Punkrock mehr, sondern dann ist die Grenze überschritten, zu etwas, was unserer Meinung nach schon protofaschistisch ist.

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Das Mädchen mit dem Demonstrationsplakat hat durchaus auch ihre Tradition im Punk! Die Kämpfe gegen sexualisierte Gewalt der letzten 20 Jahre waren nämlich in vielerlei Hinsicht von Punk inspiriert: sei es in SlutWalk-Gruppen, sei es im Riot Grrrl. Das Plakat der Aktivistin mit seiner Punkrettungsidee (dass Punk nämlich nicht bedeutet, Frauen zu missbrauchen) steht selber in der Tradition der Viv Albertines, Poly Styrenes, Kathleen Hannas und Pussy Riots zum Beispiel. Aber klar, wir wissen, um es mit dem Klassiker von X-Ray-Spex zu sagen: "Some people think that little Girls should be seen and not heard!"

Ganz tief hat eine bestimmte Sorte männlicher Punkrocker immer noch nicht kapiert, dass Frauen* auch mal die mit dem Protest sein können. Insgeheim hält dieser Typus männlicher Punkrocker nämlich "Teenagergirls" für kleine dumme naive unmündige "Diskotussen". Dies ist das Jahrzehnt der rebellischen Frauen*, aber auf Festivalbühnen in Deutschland spielen immer noch zu 94 Prozent männliche Musiker. Like Punk never happened!

Sexismus ist kein Vorfall (oder Meinung), der sich ab und zu mal ereignet, in einem ansonsten sexismusfreien Leben. Sexismus ist eine Struktur im Leben jeder Frau* – und von je mehr Diskriminierungsformen sie zusätzlich noch betroffen ist, z.B. Rassismus, Klassismus, Ableismus, umso kräftezehrender und schlimmer ist das! Es kostet auch z.B. sehr viel Kraft zu unterscheiden, was ist der Sexismus und was "ist halt so" und wäre auch Männern passiert?

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"Sexismus ist kein Vorfall (oder Meinung), der sich ab und zu mal ereignet, in einem ansonsten sexismusfreien Leben. Sexismus ist eine Struktur im Leben jeder Frau*"

Wenn zum Beispiel über einen männlichen Musiker gesagt wird, er macht schräge Musik, ist es ein Kompliment für sein Genie, seinen Punk-Spirit oder whatever. Seine im besten Sinne "Andersartigkeit." Wenn dasselbe über eine Musikerin gesagt wird, schwingt mit, sie kann es halt nicht besser, irgendeine Form von Minderwertigkeit kommt aus ihr raus. Die Frauen, auch im Punk, sind immer "das Andere, das Komische". Punk ist ein Stil, der das Nichtkönnen in den Vordergrund rückt, aber es ist doch allen klar, dass diese Musiker eben trotzdem was können. Sogar sehr viel. Es ist natürlich ein Handwerk, Gitarre spielen zu können wie die Ramones. Es ist schwieriger als Musikerin in einem eigenen Stil wahrgenommen zu werden, der dann eben als "Stil", Verbindung mit Genres und Traditionen gilt und nicht einfach nur als "seltsam" und "subjektiv".

Das Problem mit Sexismus im Punk ist: Menschen, die sich auf Punk beziehen, scheinen mehr als andere zu glauben, sie seien per se schon in Ordnung und müssten sich überhaupt nicht mehr mit Diskriminierungsformen beschäftigen, wenn sie nicht selber davon betroffen sind. Manche glauben, der Sexismus ist immer irgendwo anders in der Gesellschaft: im HipHop oder im Supermarkt. Er ist nie im Punk. Das ist eine autoritäre Sicht. Die Unterdrückung ist immer woanders. Nie da, wo ich es mitbestimmen könnte. Es gibt natürlich viele verschiedene Perspektiven und wir wollen nicht alles über einen Kamm scheren – aber wir glauben, der erste Schritt zu einer Veränderung wäre etwas Banales wie, dass die Szene in Deutschland ganz tief begreift, dass es das Problem überhaupt gibt!

Es bleibt also bei der alten Punkrock-Frage: "Bist du Teil des Problems oder Teil der Lösung?"

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