Im Gespräch mit dem Regisseur der Schweizer Oscar-Nomination 'Mein Leben als Zucchini'

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Im Gespräch mit dem Regisseur der Schweizer Oscar-Nomination 'Mein Leben als Zucchini'

Wir haben mit Claude Barras über Misshandlung, Animation und die Angst vor Erfolg gesprochen.

Stell dir deinen Lieblingsanimationsfilm aus deiner Kindheit vor. Jetzt stell dir vor, es wäre ein Schweizer Stop-Motion-Film, welcher auf den Filmfestivals der ganzen Welt die Runde macht und sofort zu einem grossen Hit wird. So ein grosser Hit, dass er für einen Golden Globe und für einen Oscar in der Kategorie "Animated Feature Film" nominiert wird. Und jetzt stell dir vor, der Film existiere wirklich: Dabei handelt es sich um Mein Leben als Zucchini (2016) des in Sierra geborenen und stolzen Wallisers Claude Barras. Der Film ist anders als die meisten Animationsfilme, die du zuvor gesehen hast. Während der Fokus auf den sozialen Problemen einer Gruppe von Kindern liegt, hat der vielschichtige Film Momente des Humors und unbefangener Lacher. Aber alles, von den Puppen mit weit aufgerissenen Augen bis hin zur verworrene Geschichte, unterscheidet sich von den Disney-Grossleinwanderfolgen.

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Das hat nicht zuletzt mit den Themen zu tun, welche die Geschichte umgarnen, die von einem ähnlich betitelten Buch adaptiert wurde. Das Buch, welches 2002 vom französischen Autor Gilles Paris (Autobiographie d'une courgette) publiziert wurde, ist in der Ich-Perspektive geschrieben und nimmt so die Sicht seines Protagonisten ein – des neunjährigen Icare, welcher lieber Courgette genannt wird. Der Film beginnt mit Bildern von Wolken und Kinderzeichnungen an den Wänden und erzählt die Geschichte des Erwachsenwerdens, als Courgettes Leben plötzlich auf den Kopf gestellt wird. Was Barres zunächst an der Geschichte reizte, war, wie realistisch sie war und wie sie eine Verbindung zu Kindern und Kindheitstraumata herstellt. Von VICE nach der Aussage seines Filmes gefragt, antwortet Barras: "Wir leben in einer sicheren Welt und dennoch fürchten wir uns mehr und mehr vor dem Zusammenleben mit anderen, was ich recht merkwürdig finde. Es ist nicht immer einfach für diese Kinder, einen Zugang zur Gesellschaft zu finden, welche so schwer zu verstehen ist. Die Geschichte handelt davon – vom Zusammenleben, davon wie man bedeutungsvolle Beziehungen knüpft, davon wie man mit Toleranz und Unvoreingenommenheit Antworten findet, anstatt mit Gewalt zu regieren."

Während der ersten Minuten des Films mit einer Spielzeit von etwas mehr als einer Stunde finden wir heraus, dass an Courgettes Geschichte nichts gewöhnlich ist. Mit blauen Haaren und blau umrandeten, gigantischen Augen sticht Courgette heraus. Mit einem abwesenden Vater (in Courgettes Augen ein Superheld) und einer missbrauchenden, alkoholabhängigen Mutter lebt er in den Wolken. Das mit Bierflaschen übersäte Haus ist alles andere als ein sicherer Hafen. Er verlässt diesen Ort, als er gezwungen wird, in einem Waisenhaus zu leben. Er vermisst seine Mutter, die leider nicht mehr länger da ist, nachdem er sie versehentlich umgebracht hat, indem er sie betrunken hinter einer Falltür eingeschlossen hatte.

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Wenn du denkst, dass sich das nach einer dunklen Geschichte anhört, die sich nicht für das Genre Animation eignet, liegst du nicht ganz falsch. Aber viele Animationsfilme haben dunklere Schichten, als sie zunächst den Anschein machen. Klassische "Kinderfilme" von Disney und anderen Produzenten haben oft tragische Themen, welche hinter Prinzessinnenkleidern und charmanten Prinzen versteckt bleiben. Mein Leben als Zucchini vollführt einen Balanceakt, da er nicht in die Kategorie Kinderfilm passt, aber aufgrund seines Animationsformats auch nicht das Aushängeschild eines "Erwachsenenfilms" trägt. Als VICE Barras nach dem Zielpublikum des Filmes fragt, sagt er: "Wir wollten die Geschichte Kindern im Alter von acht bis zwölf eröffnen und versuchten, geradeheraus aber trotzdem nicht zu offensichtlich zu sein. Wir versuchten alles anzudeuten, was wir nicht erklären mussten. Was wir an diesem Film am interessantesten fanden, war die Reise aus der Dunkelheit ins Licht, ohne notwendigerweise zu zeigen, was vor der Dunkelheit war (wie zum Beispiel Misshandlung). Stattdessen wollten wir mit dem Film Kinder ansprechen und gleichzeitig behalten, was für Erwachsene an dem Buch so schön war. Ich glaube nicht, dass es für Kinder und Erwachsene verschiedene Lesarten des Filmes gibt."

Alle Fotos zur Verfügung gestellt

Mein Leben als Zucchini ist der sechste Film, den Barras selbst gemacht hat, aber sein erster in Spielfilmlänge. Er hatte an der Directors' Fortnight des Film Festivals in Cannes Premiere, hat schon an lokalen Festivals gewonnen und ist auf gutem Wege, eine noch grössere Plattform zu finden. Barras glaubt, dass der Schweizer Film generell universelle Themen aufgreift. Immerhin wird Courgette in ein Waisenhaus verfrachtet, weit weg von Zuhause, gefüllt mit anderen Kindern, wo er Mobbing und Beleidigungen ausgesetzt ist. Er gewinnt letztendlich Freunde, die zu seiner Familie werden. Als Camille, die Neue, dazukommt, ist es Liebe auf den ersten Blick. Die Dinge beginnen sich zu bessern: die Kinder gehen auf einen Skiausflug, welcher Schweizer Kindern bekannt vorkommen wird: Schneeballschlachten in den Bergen und eine Boom Box, auf der sie sich Deutschen Pop anhören und tanzen, bevor sie sich in der Nacht rausschleichen. Der freundliche Polizist, der Courgette ins Waisenhaus brachte, adoptiert schlussendlich Courgette und Camille und definiert den Begriff "Familie" für sie neu – alles kommt zu einem guten Ende. Was die Aussage des Filmes angeht, erklärt Barras: "Das Buch und der Film haben eine wichtige Botschaft, welche universell ist, denn es werden Kinder verschiedener Herkunft erwähnt. Sie haben nicht das gleiche Haar oder dieselbe Hautfarbe und sie wissen nicht genau, weshalb sie dort sind und weshalb sie mit Themen wie Immigration, Scheidung oder Misshandlung konfrontiert werden."

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Teil davon, was den Film von anderen unterscheidet, sind seine unglaublichen Eckdaten. Der Stop-Motion-Film hatte ein ursprüngliches Budget von 8 Millionen Franken und Barras, der dachte, dass die Produktion von drei Sekunden Film pro Tag wenig seien, beeindruckte sogar die Studios in LA. Diese erklärten, dass sie für drei Sekunden Film wochenlang arbeiteten. Dazu kommt, dass der Schweizer Film in der Presse unglaublich präsent ist und international wahrgenommen wird, wo Schweizer Talent oft unterrepräsentiert ist. Auf die Frage, ob er sich selbst als Schweizer Künstler sehe, antwortet Barras: "Es ist komisch, denn ich sehe mich selbst als Schweizer Künstler, genauso wie ich mich als ein europäischer Künstler bezeichnen würde, ebenso als Animationskünstler. Es ist eine Mischung aus allen dreien, aber ich denke, wir haben alle mehrere Identitäten, was das angeht. Ich fühle die Schweizer Seite bestimmt stark in mir."

Als Schweizer Künstler sticht Barras sofort heraus. Er diskutiert den Mangel an Schweizer Autorenkultur und weist darauf hin, dass es zwar ein aktives Kino gibt, das in Bewegung ist und einige interessante Nischen wie Animation und Dokumentation aufweist, aber nicht viel mehr. Der Grund dafür? "Hier in der Schweiz schämen wir uns teilweise für Erfolg oder haben Angst davor. Aber es ist keine Schande, erfolgreich zu sein. Es ist eine Schande, wenn man Erfolg hat und denkt, der Beste auf der Welt zu sein. Aber wir müssen den Erfolg dazu nutzen, die Kultur und interessante Projekte zu fördern."

Neben der Promotion seines Filmes und dem Warten auf Neuigkeiten der Nomination war Barras auch anderweitig beschäftigt. In seinem Studio arbeitet er an einem neuen Kurzfilm, eine schweizerisch-französich-kanadische Produktion, und schreibt einen weiteren Spielfilm, den er 2018 zu filmen hofft. Stirbt das Animationsbusiness aus? "Gar nicht", sagt Barras. Es gehe in der Tat durch eine Wiedergeburt, was die Technik angeht, besonders dank 3D-Druckern und neuen Computerprogrammen. Er erwähnt, dass Animation zugänglicher wird, besonders aus finanzieller und technischer Sicht. Heisst das, er ist der grösste Fan technischen Fortschritts? Nicht ganz. Für ihn ist "der ganze Transhumanismus, der uns durch Technologie versprochen wird, ist Bullshit. Google ersetzt die Religion und lässt uns glauben, dass uns die Technologie retten wird. Ich glaube es nicht." Aber was Filme anbelangt, werden wir bestimmt noch von ihm hören.

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