Das wahnsinnige Leben des Berliner Schwerkriminellen, den man vor seinen Kindern erschoss
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Verbrechen

Das wahnsinnige Leben des Berliner Schwerkriminellen, den man vor seinen Kindern erschoss

Wegen Nidal R. führte die Staatsanwaltschaft die Kategorie "Intensivtäter" ein. Von den 36 Jahren seines Lebens verbrachte er 14 im Knast.

"Allah! Allah!", schreit eine heisere Frauenstimme, immer wieder: "Allah!" Ihre Stimme mischt sich mit dem Rufen und Schreien anderer Frauen, Männer und Kinder, die sich um den am Boden liegenden Mann scharen. Von dem Mann selbst sind nur hin und wieder die regungslosen Beine und darüber ein massiger Oberkörper zu sehen. "Die Kinder müssen weg!", ruft irgendjemand, jemand anders fragt immer wieder: "Warum kommt denn die Polizei nicht?"

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Die Bilder stammen aus einem Facebook-Live-Video, das ein Passant am Nachmittag des 8. September, einem Sonntag, in der Oderstraße am Tempelhofer Feld in Berlin aufgenommen hat – offenbar Sekunden, nachdem vier Unbekannte auf einen Mann zugestürmt waren, der gerade mit seiner Frau und Kindern an einem Eiswagen stand. Die Männer eröffneten das Feuer und trafen den Mann mit acht Kugeln, vier davon zerfetzen seine inneren Organe. Der Schwerverletzte wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er wenig später starb. Kurz darauf meldete die BZ die Identität des Opfers: Es handelte sich um den 36-jährigen Nidal R. – einer der bekanntesten Kriminellen Berlins.

Noch am Sonntagabend sammelten sich an die 150 aufgebrachte Bekannte und Angehörige vor dem Krankenhaus, in dem R. behandelt wurde, so dass die Polizei das Gebäude mit einem Großaufgebot schützen musste. Den ganzen Montag über füllen Trauernde das Facebook-Profil des Mannes mit Beileidsbekundungen. "Einer der besten Menschen und mutigsten Männern die ich kenne", schreibt ein Nutzer. "Möge Allah ihm das Paradies geben, und seiner Familie Sabr [Geduld] und viel Kraft." Eine Frau schreibt: "Habibi Nidal, wir werden dich niemals vergessen, du lebst in unseren Herzen weiter, du wahrhaftiger Löwe". Aber nicht alle Besucher des Profils sind mit guten Wünschen gekommen: "Einer weniger" schreibt ein Mann, dessen Profilbild einen maskierten SEK-Beamten zeigt.

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Ein muskulöser Mann steht in Badehose am Meer

Nidal R. verbrachte fast die Hälfte seines Lebens im Gefängnis

Dass Nidal R. nicht nur Bewunderer hat, ist keine Überraschung: R. war der leibhaftige Albtraum aller ordnungsliebenden Menschen, einer der berüchtigsten Dauer-Kriminellen der Berliner Geschichte. Auf der Liste der sogenannten "Intensiv-Täter", die die Berliner Behörden über besonders aktive Kriminelle führen, hatte R. nicht nur zeit seines Lebens einen Platz. Diese Liste wurde seinetwegen erfunden.

Ein Leben voller Gewalt

Mit acht Jahren kam Nidal R. 1990 als Flüchtling aus dem Libanon nach Deutschland. Zwei Jahre später fiel er der Polizei zum ersten Mal auf, als er ein anderes Kind schlug und zwei Tage später ein Computerspiel bei Hertie klaute. Bis zu seinem 14. Geburtstag sammelte der kleine Nidal insgesamt 20 Einträge bei den Behörden – und legte dann er erst richtig los.

Im Jahr 2002, da war er gerade mal 20, hatte R. bereits über 80 Eintragungen in seiner Akte – die ein leitender Polizeibeamter im selben Jahr leicht anonymisiert in der Fachzeitschrift Kriminalistik veröffentlichte, um den laxen Umgang der Justiz mit dem Wiederholungstäter anzuprangern. Tatsächlich hatten die Gerichte Nidal R. in 52 von 60 Fällen Haftverschonung oder Bewährung erteilt. Als Reaktion auf den Artikel gründete der Justizsenator daraufhin die Intensivtäterabteilung bei der Staatsanwaltschaft.

Nidal R. machte währenddessen weiter wie bisher – mit Raubüberfällen, Diebstählen, Schlägereien und Messerstechereien. Eine Staatsanwältin bezeichnete R. einmal als einen "absolut gewaltbereiten, hoch aggressiven Menschen", bei dem es offenbar völlig unmöglich sei, "ihn in die Gesellschaft zu integrieren". Insgesamt verbrachte R. rund vierzehn Jahre seines Lebens im Gefängnis. Alle Versuche, ihn abzuschieben, scheiterten an der Weigerung des Libanon, den offiziell Staatenlosen zurückzunehmen.

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Auch in der Unterwelt hatte Nidal R. sich nicht nur Freunde gemacht. 2010 eröffneten Angehörige einer arabischen Großfamilie aus einem Auto das Feuer auf ihn und seinen Bruder, in der folgenden Schießerei trafen ihn zwei Kugeln, ins Bein und in die Ferse.

Der Mann posiert mit einem silbergrauen Lamborghini

Nidal R. liebte schnelle Autos – obwohl er nie einen Führerschein hatte

Besonders berüchtigt war R., der nie einen Führerschein besaß, für seine Liebe zu schnellen Autos: Immer wieder setzte er sich sturzbetrunken oder auf Drogen hinters Steuer und heizte durch Berlin. Allein zwischen Januar und Juni 2013 soll er neun solcher Delikte begangen haben. Wenn die Polizei ihn erwischte, versuchte er zu fliehen – und baute dabei immer wieder spektakuläre Unfälle. An einem Sonntagmorgen schaffte er es, auf der Flucht die Kantstraße herunter drei Autos zu rammen, bis er auf die Gegenfahrbahn bretterte und dort frontal mit einem Golf zusammenkrachte. Die beiden Insassen wurden schwer verletzt, R. setzte die Flucht in seinem Porsche fort, bis er einen Polizeiwagen rammte. Für diese und andere Aktionen wurde er 2014 erneut zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die hatte er erst vor einigen Monaten abgesessen.

Hängt der Mord mit arabischen Großfamilien zusammen?

Bis jetzt gibt es noch keine Spur, wer Nidal R. erschossen hat. Obwohl viele Zeitungen das jetzt behaupten, gehörte R. nicht zu einer der "arabischen Großfamilien". Er hatte aber zeit seines Lebens mit ihnen zu tun – genauso wie mit zahlreichen anderen Berliner Schwerkriminellen wie dem Hell-Angels-Boss Kadir P.. "Es gibt in der Berliner OK-Szene keinen, der gleichzeitig so viele Freunde wie Feinde hatte", schreibt der Investigativ-Reporter Peter Rossberg auf Twitter über R. "Und das wechselte manchmal wöchentlich bei ihm. Es gibt genug Personen/Gruppen, die ein Motiv hätten."

Zuletzt hatte Nidal R. sich offenbar mit Arafat Abou-Chaker verbündet, schreibt die Bild. Der steckte seit seinem Bruch mit dem Rapper Bushido in einem langsam schwelenden Konflikt mit einer anderen Großfamilie, im Juni hatten Unbekannte sein Restaurant "Papa Ari" beschossen – Abou-Chaker konnte die Unterstützung des gefürchteten R. also möglicherweise gut brauchen. In einem Live-Video, das Arafat Abou-Chaker am Sonntagabend veröffentlichte, erwähnte er den kurz vorher geschehenen Mord an R. jedoch mit keinem Wort, berichtet ein Rap-Portal.

Dass jemand Nidal R. am hellichten Tag vor seinen Kindern hingerichtet hat, sorgte für Aufruhr in der Berliner Unterwelt: Im Monat vor dem Mord hatte es mehrere Gewalttaten im Umfeld der arabischen Großfamilien gegeben. In einer einzigen Nacht kam es sowohl zu einer Massenschlägerei in Kreuzberg, bei der Männer mit Äxten aufeinander losgingen, als auch zu einem Drive-By-Shooting, bei dem zwei Mitglieder einer Großfamilie angeschossen wurden. Falls der Mord an Berlins bekanntestem Intensivtäter damit zusammenhängt, könnte die Lage möglicherweise weiter eskalieren.

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