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Ein Liebesbrief an ...

Ein Liebesbrief von Blackout Problems an das Chaos

Der Sänger der Münchner Band lag auf dem emotionalen Boden. Für uns beschreibt er, wie er sich neben dem ständigen Tourleben wieder hochgekämpft hat.
Foto: Ilkay Karakurt

Sagen wir, wie es ist: Im Internet überwiegt der Hass. Ein Blick in die Kommentarfelder von YouTube oder Facebook reicht da meist schon, um den Glauben an das Gute auf dieser Welt täglich aufs Neue zu verlieren. Das ist doch scheiße. Also konzentrieren wir uns lieber auf die schönen Seiten im Leben, die absolut wunderbaren Dinge, die unseren Alltag bereichern, uns zum Lächeln bringen. Dinge, die wir verdammt nochmal lieben.

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Heute offenbart Mario Radetzky, Gitarrist und Sänger von Blackout Problems, seine Gefühle gegenüber dem Chaos. Oder besser seine Liebe zu KAOS, das aus seinem persönlichen harten Kampf mit dem allzu realen Chaos als neues Album der Münchner Rock-Band entstand und überall erhältlich ist.

Ich liebe das KAOS.

Es ist ein Zustand, der sich im Duden als Auflösung aller Ordnung oder als völliges Durcheinander definiert. Kann man das denn lieben? Das würde doch bedeuten, dass alles, was als "Norm" gilt, nichts mehr wert ist. Wenn ich mich jetzt also Kopf voraus in das KAOS stürze, zerbricht dann das Fundament, dass ich mir jahrelang aufgebaut habe? Verbrenne ich damit alle Brücken und mache alles kaputt, was mich nicht kaputt, sondern was mich aufgebaut hat?

Ich liebe das politische KAOS, wo zwischen dämlichen 13 Prozent einer zwecklosen Alternative und dem Größenwahn eines Tyrannen, der sich lieber mit seinem Geld und seinen orange-blonden Haaren beschäftigen sollte, als mit geisteskranken und plump gesagt falschen Vorstellungen einer neuen Weltordnung. Hoffnung entsteht. Sie heißt Gegenbewegung und sie legt das Handy zur Seite, um mit Emmas herzzerreißenden Schweigeminuten und bunten, lauten Raves zu zeigen, dass das Gute immer noch stärker als das Böse ist.

Ich liebe das wirtschaftliche Öko-KAOS, das uns mit zu hohen Mietpreisen zu vertreiben versucht, und uns in die Irre führen will, weil uns Abgase die Sicht nehmen. Der Versuch scheitert, denn es entstehen neue Lebensräume, in denen absichtlich verzichtet wird. Coca-Cola wird aussortiert, am goldenen M wird vorbeigelaufen und es werden neue Wege gefunden, Energie zu erzeugen, die nachhaltig und nicht nachtragend sind.

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Ich liebe das persönliche KAOS, denn es hat mir gezeigt, was mir wichtig ist. Auch wenn es Schuld ist, dass ich, um das herauszufinden, erstmal alles aufgeben musste.

Weil das KAOS mehr als nur das Tief ist. Es ist die Trennung und die Depression, die zur Wiedervereinigung und zum Glück führen. Es ist das Sichverlieren, das den Anstoß gibt, sich wieder zu suchen und zu finden. Es ist das pleite, aber mit sich selbst im Reinen sein. Es ist der Mittelfinger, der sich durch alles bohrt, was sich dir in den Weg stellt. Es ist der Weg, den ich gegangen bin, als ich meine Koffer gepackt habe und die Reise in den Proberaum angetreten habe.

Nein, nein, das ist keine schöne Metapher für: "Da schließt sich eine Band mit einem Koffer voller Ideen im Musikatelier ein und macht so lange rum, bis sie mit einer neuen Platte rauskommt." Nein, ich hatte Klamotten in meinem Koffer und Ideen hatte ich gar keine. Ich brauchte nur einen Schlafplatz. In unserem Proberaum war eine Gesangskabine, die dann mit altem Schlafsack und zu dünner Isomatte ausgefüllt wurde. Die Tür dieser Kabine habe ich ein Stück offen gelassen. Das hatte den Vorteil, dass meine Panik zu ersticken verschwand, aber auch den Nachteil, dass ich morgens von Robert geweckt wurde. Robert ist ein Pfandsammler, der seinen Job sehr ernst nimmt und somit auch morgens um 6:15 Uhr, wenn nachtaktive Menschen wie ich gerade erst seit ein, zwei Stunden die Äuglein geschlossen haben, testet, ob auch wirklich jede Tür in diesem Proberaumkomplex abgesperrt ist. Ich nahm ihm das nicht übel, denn hinter unserer Tür gab es für ihn immer was zu holen. Nur mochte ich es lieber, wenn er einfach unangemeldet bei Proben reinschneite und ich morgens meine Ruhe hatte.

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An den Tagen zwischen Konzerten – die gut waren, denn da hatte man ja entweder ein Hotel oder einen Hostel – hangelte ich mich dann weiter von Proberaum zu Büro, von Couch zu Matratze, von Freund A zu Zwischenmietlösung B.

Das KAOS nahm langsam Form an. Es stand da alleine im Raum rum und fing an, in die Ecke zu pissen, wie dieser eine Assi, der irgendwie immer mit von der Partie ist, wenn man sich dazu entschließt, an Silvester eine Haussause zu schmeißen, den aber keiner einlädt.

So langsam hätte es mir dämmern und klar werden müssen: Die Entscheidung, mit dem KAOS eine Liaison einzugehen, war wohl doch nicht so gut. Nach einer viel zu langen Tour kam ich nach Hause und stellte fest, dass genau die eine Hälfte der Sachen weg ist, die das Zimmer so schön gemütlich und lebensfroh gemacht hatten. In dem Moment kippt der Schalter zur Falltür endgültig und ich wachte dort auf, wo unser Abenteuer beginnt: "In the gutter“

Hier fing die Arbeit an. Das Streben nach Glück und das Begreifen von den Dingen, die mir die Welt bedeuten und von denen, die nur halb so wichtig sind. Es beginnt das Selektieren, das Sammeln und das Reflektieren. Jedem Anfang wohnt, frei nach Hesse, ein Zauber inne und so lagen da die Bruchstücke eines jungen Lebens verteilt vor mir auf dem WG-Boden. Hier war es: das KAOS, das ich wollte. Ich hätte es mir anders vorgestellt, aber das Leben ist, frei nach dem betrunkenen Barkeeperkumpel Chris, nun mal kein bunter Teller.

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Also machte ich mich ans Zusammenflicken, das neu Aufstellen und das Überdenken. Es fühlte sich so an, als würde ich hier im Sud der eigenen Unsicherheiten und Zweifel unbekannte Freunde finden. Als wären schon andere vor mir hier gewesen. Als wäre dies das häufig beschriebene Loch, in dem meine Vorbilder laut Biographien alle mal steckten. Mein Gefühl sagte mir, hier würden Bukowskis Nächte ihren Lauf nehmen, als wohne Truman Capotes Holly im Nebenzimmer, als hätte Henry James seine Daisy Miller hier vollendet, als hätte Morrison das American Prayer betrunken an die Wand gekritzelt.

Hier, wo alles in Scherben vor mir lag, konnte ich versuchen, wieder von vorne anzufangen und Herr der Lage werden. Die Einzelteile lagen bereit und ich konnte, weil ich nichts mehr zu verlieren hatte, jedes einzelne noch so kleine Teil langsam in die Hand nehmen und kennen lernen. Jedem Aspekt des persönlichen Glücks auf die Schliche kommen, um herauszufinden, was es war, das mir fehlte.

Und ich fand es.

Ich spielte mit den Fragen und den Antworten, verschachtelte und schrieb sie um. Packte sie in Melodien und versteckte sie in Akkorden, bis daraus zwölf Lieder entstanden, die den Weg mitgingen, von der Haustür in den Proberaum, über die Sofas, hinein in die Gosse, bis sie tief in mir angekommen waren. Sie nisteten sich ein, in diesem brutalistischen Bauwerk, dass ich da in meinem Kopf gebaut hatte und fingen an, die komplizierten Strukturen aufzulösen. Die verschachtelten Räume wurden ausgebaut, bis sie klar und deutlich waren. Bis man den Fortschritt erkannte.

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Ich habe aus dem KAOS gelernt. Nicht nur, dass das Leben dafür da ist, Fehler zu machen, sondern auch, um diese verdammt noch mal zuzulassen. Das KAOS hat mich auf die Reise geschickt und ich weiß jetzt, dass ich zurückkommen werde. Vielleicht nicht heute, vielleicht noch nicht übermorgen, aber eines Tages. Geläutert, verbessert und als eine 2.0-Version von dem Schrott, der ich vorher war. Aufmerksamer für die kleinen Dinge, die das Leben besonders machen und bereit für die großen Dinge, die man nur gemeinsam erleben kann. Ich komme mit Blumen, die Danke sagen, in der Hand, backe einen Kuchen für die Zukunft, räume das Zimmer für Besuch auf, der gerne ein paar Tage bleiben kann und nehme mir Zeit, zuzuhören.

Um etwas Neues zu erschaffen, muss man sich manchmal von der Ordnung trennen. Hinein ins KAOS, das dir zeigen wird, worauf es ankommt. Denn erst, wenn du den Scheiterhaufen deines Fundaments auseinandergepflügt hast und jedes kleine Teil kennst, kannst du es alles wieder so zusammensetzen wie du es für absolut richtig hältst. Das werde ich versuchen und dafür liebe ich dich, KAOS.

Ab dem Zeitpunkt, an dem alles in Frage gestellt wird, aufgegeben und verloren scheint und man keinen Halt mehr unter den Füßen hat, kann der Lauf des Lebens jede Richtung annehmen. Hier im KAOS ist alles möglich. Auch ein Happyend.

Aus dem politischen, wirtschaftlichen und aus meinem persönlichen KAOS ist ein Album entstanden, dass wir euch gerade live vorspielen. Es sind zwölf Songs, in die wir alles gepackt haben, was mich beschäftigt.

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Das KAOS hat weh getan und ich habe es verflucht, aber es hielt eine Lektion für mich bereit: Wenn man alles in seine Einzelteile zerlegt, kann man es auch wieder so zusammen flicken, wie man es gerne hätte. Ich werde mein Bestes geben. Dafür liebe ich dich süßes, süßes KAOS.

Tour Dates

21.06.2018 - DE - Neuhausen ob Eck - Southside Festival
22.06.2018 - CZ - Prag - United Islands of Prague Festival
23.06.2018 - DE - Scheeßel - Hurricane Festival
30.06.2018 - DE - Saarbrücken - Asta Campusfest
07.07.2018 - DE - Schwann - Happiness Festival
13.07.2018 - DE - Odensachsen - Haune Rock
14.07.2018 - DE - Witten - Wiesenfest
19. - 22.07. - DE - Cuxhaven - Deichbrand Festival
20.07.2018 - DE - Düsseldorf - Gold Mucke: im Vier Linden
27.07.2018 - DE - Bausendorf - Riez Open Air
28.07.2018 - DE - Schrobenhausen - Noisenhausen Festival
03.08.2018 - DE - Elend - Rocken am Brocken
04.08.2018 - DE - Borkheide - Baum und Borke Festival
08.09.2018 - DE - München - BR Startrampe live Festival
08. - 12.08. - DE - Eschwege - Open Flair Festival
17. - 19.08. - DE - Karben - Karben Open Air
24. - 25.08. - DE - Wirges - Spack Festival
29.09.2018 - DE - Wesel - Nacht der Jugendkultur

02.11.18 DE -Zürich (CH)–Dynamo
10.11.18 DE -Hannover–Chez Heinz
14.11.18 DE - Leipzig–Naumanns
16.11.18 AT - Wien –Chelsea
22.11.18 DE -Dresden–Groove Station
23.11.18 DE -Rostock–Peter Weiss Haus
24.11.18 DE -Osnabrück–Bastard Club
26.11.18 DE -Dortmund–FZW
01.12.18 DE - München–Technikum

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