Ich habe Tinder gelöscht. Zum x-ten Mal, aber dieses Mal sollte sich mein schwaches, rückgratloses Selbst bitte daran halten. Ich ziehe nach einem Jahr Swiping Bilanz. Vor allem aber will ich ein neues Kapitel bestreiten, betreffend Sex, Liebe, Nähe und Freundschaft. Mein Jahr mit Tinder war voll davon—doch will ich all diese Dinge nun auf eine andere Art kennenlernen. Sie wird nicht besser sein, die Art, aber anders. Denn ungleich der vielverbreiteten Meinung, Tinder sei eine oberflächliche Rammler-App, weiß ich, dass man auch auf Tinder so etwas wie Liebe und und auch tollen Sex finden kann.
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Es begann im November des letzten Jahres. Ich war mit einer großen Gruppe Freunde Abendessen. Er war ein Freund eines Freundes. Er rettete meinen Abend—und ich glaubte, für einen kurzen Moment, auch mich. Er setzte sich neben mich, wir stellten uns einander vor und verliebten uns ineinander. Zumindest glaube ich, für einen Abend in ihn verliebt gewesen zu sein, und ich unterstelle ihm, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Sich zu verlieben, augenblicklich und voller Wucht, wie wir es taten, bedingt Reziprozität. Vielleicht lag meine Faszination für ihn aber auch darin, dass er nach einer Stunde Gespräch seine Hand von meinem Rücken zu meinem Arschloch wandern ließ. Ich trug Skinny-Jeans, die mein Körper sehr gut ausfüllte, und ich kann mir bis heute nicht erklären, wie er es schaffte, im Sitzen seine Hand in meine Hose und seinen Finger in meinen Arsch zu stecken. Zumindest so, dass es niemand um uns herum bemerkte. Während wir links und rechts und gegenüber mit Tischgenossen sprachen, steckte sein Finger also in meinem Rektum. Das—und unsere ganz unphysische Verbindung, die zweifelsohne stattfand—trug zu meiner hundertprozentigen Verschossenheit bei.Ich wusste jedoch von Anfang an, dass er vergeben war. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, alleine, und er mir per Email beteuerte, dass er vergeben bleiben würde, brach mein dummes, naives Herz. Also ging ich in den App Store und lud mir Tinder herunter, um mich zu trösten. Im Laufe des folgenden Jahres lernte ich unter anderem diese Typen auf Tinder kennen:
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Der Designer
Der Schüchterne
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Der Banker
Der unfreiwillige Hipster
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Der Arzt
Der Verletzte
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Ich bumste eine Weile ohne die Hilfe von Tinder durch die Gegend. Und als ich fertig war, nahm ich die App wieder zur Hilfe.Es gibt Männer, mit denen kann man sich nur unterhalten, wenn man vier Bier intus hat. Und sie auch. Nüchtern sind sie langweilig, schüchtern und haben einen Stock im Arsch, der bestimmt länger ist als ihr Penis. Ich geriet also an diesen ziemlich gut aussehenden Feuilleton-Leser. Als Vorbereitung aufs Date hätte ich mir besser einmal ganz Wikipedia ausgedruckt. Er machte mich nervös. Also füllte ich ihn ab. Er war eher so „Eigentlich will ich nichts trinken", aber ich brachte ihm einfach einen Drink nach dem anderen. Zum Glück hatte er Manieren und trank immer brav aus. Bis er keine Manieren mehr hatte und mich ziemlich unverschämt nahezu ins glorreiche Jenseits bumste. Drei Mal.Meine Freundinnen und ich nannten ihn „Peter Pan", weil er ziemlich viel für Bäume übrig hatte. Ein naturverbundener Grundschullehrer, der genausogut das Gesicht einer „Calvin Klein"-Kampagne hätte sein können. Mich fragte einmal eine Freundin: „Was? Ein Lehrer, der bei Tinder ist?" Und ich antwortete: „Was ist genau deine Frage?" Was folgte, war eine schöne Zusammenfassung der Vorurteile, die „man" gegenüber der Dating-App hat. Dass das nur was für zwielichtige Typen ist, die als Beruf Turnschuhe verkaufen und/oder sexsüchtig sind. Die sich nicht aus dem Haus trauen, um sich in der richtigen Welt zu tummeln. Die haben keine Werte! Und die unterrichten unsere Kinder?Ja. Hoffentlich unterrichten diese Menschen unsere Kinder. Tinder ist wie das Internet. Es hilft. Man kann es so und so nutzen. Es kommt auf die Absichten des Nutzers an. Ob ich jetzt ins Darknet gehe oder meiner Großmutter einen Blumenstrauß bestelle, hängt ja von mir ab.
Der Intellektuelle
Der, den ich wollte
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Nachdem mich der Lehrer nach unserem ersten Date auf dem Küchentisch gebumst hatte, schliefen wir in Löffelchenstellung ein. Unter dem Tisch, weil alle Betten in seiner Wohnung besetzt waren. Es waren dauernd Freunde von ihm da. Er konnte nicht Nein sagen. Zu mir auch nicht, was sich später als ziemlich beschissen für mich herausstellen sollte.Wir hatten in dieser ersten Woche des Kennenlernens jeden Tag Sex. Ich kochte dann auch ein paar Mal für die WG, mit roten Wangen und engen Röckchen. Nach ein paar Wochen einigten wir uns auf eine „exklusive Affäre". AKA eine Beziehung.Ich merkte, wie das Gleichgewicht unserer Gefühle langsam auseinanderging. Er distanzierte sich. Ich jagte ihm hinterher. Es entwickelte sich eine ungesunde Dynamik, die ich nicht nur ihm zu Schulden lassen kommen will. Und als er mich schlussendlich sitzenließ, war ich wütend und traurig. Verletzt. Wir hatten einen wunderbaren Sommer gehabt. Aber vielleicht sollte es auch nur das sein. Bis ich das einsah, vergingen einige Wochen, und jetzt ist wieder November.Das war eine Auswahl meiner Tinder-Begegnungen. Ich hatte noch viele andere Dates, One-Night-Stands, supertolle Abendessen, Sex-Chats, Küsse auf Dachterrassen, nasse Wände und nasse Bettwäsche am nächsten Morgen. Tinder war immer nur eine Bereicherung. Man muss wissen, was man von der App will, und dann ist alles OK. Auch die Niederlagen—merkwürdige Dates, schlechter Sex und gebrochene Egos gehören dazu. Die gibt es auch ohne Tinder. Da müssen wir alle durch.Ich bin immer noch Single. Aber ich bin ein Single mit einer viel klareren Vision davon, was ich will und was ich nicht will. Ich hatte das letzte Jahr so viel Sex wie noch nie. Und jetzt ist es Zeit für eine kleine Pause. Ich vermisse es, neben jemandem einzuschlafen. Ich vermisse es, beim Lesen von Whatsapp-Nachrichten ein Dauergrinsen im Gesicht zu haben. Aber es geht mir gut. Besser als in manch einer Beziehung. Und ich tue das, was ich jedem nur raten kann: Einfach mal alleine sein.Und Tinder geht ja nicht weg.