3 Tage Raverpsychose auf dem Planet Extase

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3 Tage Raverpsychose auf dem Planet Extase

Wir waren drei Tage wach, von der Extase in die Lethargie.

Man muss keinen Augenblick lang zögern, um zu wissen, wo man gelandet ist. Es gibt kaum einen Event, dem es gelingt eine ganze Stadt in einen ästhetisch vergleichbar degenerierten, obszön pulsierenden Freiluftzirkus zu verwandeln wie die Streetparade. Da gibt es Gestalten in neongrellen Ganzkörperkondomen, entmenschlichte Dragqueen Amphibien, paranoide Eltern, die ihre Kinder an der Leine halten, haufenweise Anschnalldildos und natürlich jede Menge nackter Haut.

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Wie jedes Jahr haben sie sich versammelt – die Kronjuwelen des spiessig Normalen, um zu zelebrieren, was ihnen der übliche Alltag eines braven Mittelschichtsdaseins nicht gestattet: vollgedopt und ausstaffiert wie ein Rudel durchgedrehter Pfaue, feiern sie in einem kollektiven Bad-Taste Anfall ihr Mekka der persönlichen Crazyness. Bei diesem niedlichen Wahn der zügellosen Selbstverwirklichung kommt es dabei zu einem nicht ganz kollateralen Effekt: sie geben Geld aus. Und bei rund einer Million Besuchern ist das richtig viel Schotter.

Anfangs September 1992 hingegen, während der Bosnienkrieg gerade erst zu wüten begonnen hatte, in einer Zeit also, lange bevor die Streetparade zu einem Ereignis der Superlative verwuchert ist, hat sich dieser Umzug aus etwa 1000 engagierten Philanthropen vorgenommen, ihre selbstlosen Träume in die Herzen der Welt zu senden. »Liebe, Friede, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz«. Ein Konzept, das in gewisser Weise Erfolgsgeschichte schrieb.

Was darf man heute also von einem Festival erwarten, das sich in Anbetracht der tendenziösen Auswüchse »lethargisch« nennt, und  in der »roten Fabrik« jedes Jahr an einem Ort stattfindet, der sich dem Offenbaren von kreativem Freiraum, der bedingungslosen Hingabe an eine alternative Nische verschrieben hat?

Im warmen Sommernachtswind am Abend vor der Streetparade spürt man ein angenehmes Knistern. Etwas subtil Magisches liegt in der Luft. Die Erleichterung, dass das Areal der roten Fabrik heute wohl von ausgeflippten Buffaloschuhträgern verschont bleiben wird. Das Publikum kommt daher wie an einer gesitteten Vernissage. Man würdigt die liebevolle Deko, geniesst ein Bier am See und findet ohne ständig angerempelt zu werden problemlos einen Platz am Set von Dimlite, Bonaparte oder DJ Koze.

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Knapp 24 Stunden später könnte man glatt meinen auf einen anderen Planeten katapultiert worden zu sein. Die für das Flair der roten Fabrik übliche Kinderwagen Teeparty würde sich hier in kreischender Panik  auflösen. Das Areal ist inzwischen verbunkert wie ein russisches Raketensilo. Der Eintrittspreis auf kosmische 40 Franken angestiegen. Obwohl beinahe niemand an der Parade gewesen sein will und ganze Klagelieder über das Verelenden derselben aus dem FF herunter geleiert werden, merkt man zunehmend, dass man hier quasi am Hauptnerv gestrandet ist. Die Räume sind zum Bersten voll. An den Eingängen herrscht Krieg. Der Boden bebt, die Kiefer zittern, und verstrahlte Blicke jagen die Ekstase. Bis am späten Sonntagabend gibt es nur noch eines: Niemals endende Bässe, zügelloses Tanzen und der verkaterte Wille, alles daran zu setzen sich bis zur Psychose zu vergessen.

Mit den ersten Sonnenstrahlen werden die Raver reihenweise angeschwemmt. Ob hier irgendwo irgendwelche Muster an die Wand projiziert werden oder sorgfältig aus Karton gefertigte Lampions von der Decke hängen interessiert nun niemanden mehr. Es ist viel zu anstrengend solche Sachen wahrzunehmen, wenn man seit 2 Tagen wach ist und das Cerealien Frühstück aus Pillenflakes mit Bier bestanden hat. Man will die Dinge nicht wirklich wahrnehmen. Wahrnehmen ist scheisse. Bewusstsein ist scheisse. Selbst wenn man noch so nüchtern ist sieht das Ganze aus wie ein klebrig schlechter LSD Trip. Der einzige Weg diesen Laufsteg des Irrsinns auszuhalten besteht darin etwas Buntes einzuwerfen, nach Hause zu gehen oder man rammt sich einen Schraubenzieher in die Augen.

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Damit verkörpert die After Hour in der Roten Fabrik das Gedankengut der Streetparade in hochdestillierter, beinahe kristalliner Form. Ein narkotischer Krieg der keiner ist, während ein anderer vergessen bleibt.