2016 hätte Kanye Wests Jahr sein können: eine Analyse
Screenshot von YouTube aus dem Video „Kanye West - Wolves (Balmain Campaign)“ von Kanye West Vevo

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2016 hätte Kanye Wests Jahr sein können: eine Analyse

Die letzten 12 Monate stellten sogar eingefleischte Fans auf eine harte Probe. Eine Analyse des Jahres Zweitausend-West-Zehn.

2015 blickte Kanye West uns als einer der einflussreichsten Menschen der Welt vom Cover des Time-Magazins an. Es war ein kühler Blick. Nicht sonderlich emotional. Obwohl es im Inneren von Ye ganz anders ausgesehen haben muss. Denn endlich war er dort, wo er hinwollte—ja, seinem eigenen Empfinden nach immer schon hingehört hat: ganz oben, für alle sichtbar. Anerkannt und angesehen. Geschätzt als Genius erster Güte. Eine Genugtuung—und eigentlich die besten Voraussetzungen dafür, dass 2016 sein Jahr hätte werden können. Aber selbst eingefleischte Fans wurden in den letzten 12 Monate auf eine harte Probe gestellt, hielten sie doch das vielleicht beste Album, aber eben auch die fragwürdigsten Momente in der Karriere von Kanye West bereit. Ein Jahresrückblick.

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Los ging es im Januar damit, dass Kanye West sein neues Album SWISH—das bis dahin So Help Me God heißen sollte—für den 11. Februar 2016 ankündigte. SWISH sei eine Gospel-Platte und nicht nur das Album des Jahres, sondern vielmehr das Album (seines) Lebens, ließ der 39-jährige verlauten. Noch viel wichtiger als diese musikalische Einschätzung und Verortung auf der West'schen Wichtigkeitsskala war aber, dass Ye mit „Real Friends" auch die G.O.O.D. Fridays wieder reaktivierte und Erinnerungen an die legendäre Umsonst-Song-Reihe aus dem Jahr 2010 wachwerden ließ, mit der Kanye damals das Release seines Albums My Beautiful Dark Twisted Fantasy ins Leben rief. Aber schon der zweite Song—ein Snippet von „No More Parties in L.A." inklusive Kendrick-Lamar-Feature—erblickte mit drei Tagen Verspätung an einem Montag das Licht der Welt.

So richtig traurig war darüber aber niemand. Denn kurz darauf machte Kanye schon wieder anderweitig von sich reden. Das Album, so West, höre fortan nämlich nicht mehr auf den Namen SWISH, sondern sei in Waves umbenannt worden. Das rief Wiz Khalifa auf den Plan, der deutlich machte, dass Kanye West nicht dazu befähigt sei, diesen Terminus als Albumtitel zu verwenden. Der Grund: Das Copyright für die Begrifflichkeit der Wave läge bei Max B aus Harlem, der nach einem Mord 75 Jahre hinter schwedischen Gardinen verbringt, davor aber während seiner Zusammenarbeit mit Dipset-Rapper Jim Jones Mitte der 2000er-Jahre einen ziemlich zurückgelehnten Singsang-Style im HipHop etablierte.

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Der hiphopgeschichtliche Zeigefinger zog einen hitzigen Social-Media-Schlagabtausch zwischen Wiz und West nach sich, in dem es auch um den Sohn von Wiz Khalifa ging, ehe am Ende Amber Rose—Ex-Frau von Kanye, Zwischenzeitlich-Frau von Wiz und Definitiv-Muva des genannten Kindes—ein Machtwort sprach und Kanye mittels seiner angeblichen Vorliebe für Prostatamassagen in die Schranken wies. #FingersInTheBootyAssBitch und so. Nachdem die beiden Streithähne sich Anfang Februar wieder vertragen hatten, dachte man kurz, dass es jetzt also endlich um die Musik gehen könne. Aber: weit gefehlt. Statt abgeschottet am—wie sich später herausstellen sollte noch lange nicht fertigen—Album zu arbeiten, loggte Kanye sich wieder bei Twitter ein und ließ verlauten, dass er das Album noch ein allerletztes Mal und zwar in The Life of Pablo umbenennen würde.

Überhaupt twitterte Kanye West so viel wie noch nie zuvor. Nachdem Yeezy sich dem technischen Fortschritt lange verwehrt hatte und angeblich bis 2011 sogar ganz ohne Handy auskam, schien er dem Social-Media-ADHS Anfang 2016 dann doch zu verfallen. Hier das gesamte Twittertourette von Mr. West aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Fest steht, dass viel Fragwürdiges dabei war. Genie und Wahnsinn liegen bekanntlich nah bei einander und ließen den Eiertanz um Albumtitelumbenennung, halbfertige Arrangements oder die etwas undurchsichtige Nachricht über seine 53 Millionen Dollar Schulden nachvollziehbar machen, aber als Ye „BILL COSBY INNOCENT !!!!!!!!!!" twitterte , zuckte man das erste Mal zusammen.

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Glücklicherweise kam dann aber erst mal das Album—oder besser gesagt: eine erste Kostprobe davon. Während jede Menge Models in der Mitte des Madison Square Gardens die dritte Yeezy Season präsentierten, schloss Kanye seinen Laptop ans AUX-Kabel des Mehrzweckarena-Soundsystems an, ließ die Platte einmal durchlaufen, klappte die Kiste danach wieder zu und verabschiedete sich. Schließlich müsse das Album jetzt zu Ende produziert werden. Denn fertig sei es—auch wegen einem noch fehlenden Verse von Chance The Rapper—leider noch nicht. Gute drei Tage später schien dann aber alles zu stimmen und das Album erschien, zumindest vorerst, exklusiv über die Streamingplattform TIDAL von Noch-Kumpel Jay Z. The Life of Pablo war ein gutes, ja, ein grandioses Album. Vielleicht sogar das beste, das Kanye West bis dato veröffentlicht hat. Weil es nicht nur die alte und neue Sampleschule miteinander verquickte, sondern auch das Konzept Album immer wieder hinterfragte.

Begleitet wurde die Veröffentlichung von einer Performance bei SNL, für die Kanye sich Chance The Rapper, El DeBarge, Kelly Price, A$AP Bari, Young Thug, The-Dream und Kirk Franklin ins Studio holte. Auf der Bühne sah das alles ganz toll und locker-flockig-funkelnd aus, aber hinter den Kulissen brodelte es gewaltig. Schon kurz nach dem Auftritt kursierte die Audioaufnahme eines angeblichen Ausrasters von Kanye. Die Reaktionen darauf waren vorhersehbar. Während die eine Hälfte grinsend den Kopf schüttelte, zeigte die andere Hälfte sich verständnisvoll. Dass Kanye-Kumpel Rhymefest die Zusammenarbeit mit seinem Partner beendete und via Twitter anmerkte, dass Kanye wohl mentale und spirituelle Hilfe benötige und sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen solle, interessierte aber scheinbar niemanden so richtig.

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Am wenigsten offensichtlich West selbst, der sich Hals über Kopf in die Arbeiten an seinem nächsten Album stürzte und verkündete, dass schon im Sommer mit Turbo Grafx 16 der nächste Streich erscheinen solle. Der Name sei eine Referenz an die Videospielkonsole gleichen Namens aus den 80er-Jahren. Außerdem habe er 40 Songs mit Kendrick aufgenommen, 40 Songs mit Young Thug in der Schublade liegen und arbeite darüber hinaus sogar mit Drake an einem gemeinsamen Album. So ruhig wie es im Anschluss um Kanye West wurde, wollte man sogar kurz glauben, dass da bald musikalisch nachgelegt werden würde—aber dann erschien im Juni doch erst mal der Song „Champions" aus dem G.O.O.D. Music-Sampler Cruel Winter mit Features von Travis Scott, Big Sean, Gucci Mane, Desiigner, Yo Gotti, Quavo und 2 Chainz.

Der Song sorgte aber noch aus anderen Gründen für Gesprächsstoff. Als „Famous" im Februar erschien, rappte Kanye auf dem Song die Zeilen „ I feel like me and Taylor might still have sex / Why? I made that bitch famous". Ein Verweis auf den VMA-Vorfall von 2009, bei dem Ye die Bühne stürmte und TayTay ihren Preis aberkennen und stattdessen Beyoncé überreichen wollte. Kanye behauptete, er habe sogar bei TayTay um Erlaubnis der Verwendung dieses lyrischen Ergusses gefragt. T-Swift konnte sich nicht an die Freigabe erinnern und rief ihre Anwälte auf den Plan, hatte aber nicht mit Kim Kardashian gerechnet, die einen Mitschnitt des Gesprächs auf ihrem Snapchat-Account veröffentlichte, was wiederum einen IG-Post von Taylor nach sich zog.

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Der Spätsommer blieb bis auf das im Rahmen der neuen Balmain-Kampagne veröffentliche „Wolves"-Video und weltweite Pop-Up-Stores verhältnismäßig ruhig. Vielleicht lag es auch daran, dass Kanye sein Handy wieder los war.

 Im Oktober verausgabte er sich dann aber wieder auf seiner „Saint Pablo-Tour" Abend für Abend auf einer Hängebühne, während Kim Kardashian zur Fashion Week nach Paris flog—und prompt in ihrem Hotel überfallen und um Schmuck im Wert von neun Millionen Dollar beraubt wurde. West erfuhr noch während seiner New-York Show von dem Vorfall, brach den Auftritt ab und reiste umgehend nach Europa um seiner Frau Beistand zu leisten, die sich nach dem Vorfall komplett aus der Öffentlichkeit zurückzog.

Vielleicht hätte das Kanye auch ganz gut getan. Aber stattdessen setzte er seine Tour fort und machte im November gleich durch mehrere merkwürdige Äußerungen während seiner Konzerte Schlagzeilen. Einen Abend echauffierte Ye sich darüber, dass Jay Z immer noch nicht durchgerufen habe und bat Jigga gleichzeitig, die auf ihn angesetzten Killer wieder zurückzupfeifen, um das Konzert kurz darauf abrupt abzubrechen. Ein paar Abende später gestand er, zwar nicht gewählt zu haben, sein Kreuzchen aber bei Donald Trump gemacht hätte, da ihm dessen Kampagne so gut gefallen habe und schien vergessen zu haben, dass er und Kim noch im Frühjahr mit Hillary Clinton vor der Kamera rumgeblödelt hatten.

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Und als sich das halbe Internet wieder Mal fragte, ob Kanye noch richtig tickte, da tickte er dann plötzlich wirklich nicht mehr richtig. Am 21. November 2016 gab Ye bekannt, alle weiteren 21 Termine seiner „Saint Pablo–Tour" zu canceln, ehe er im Studio seines Fitnesstrainers randalierte und kurz darauf schließlich mit einer durch Übermüdung und Dehydration versursachten Psychose inklusive Halluzinationen und paranoiden Schüben ins UCLA Medical Center eingeliefert wurde. Anstatt sich jetzt wenigstens einmal Ruhe anzutun, ließ sich Kanye angeblich sogar Equipment in die Klinik bringen, um weiter an Musik arbeiten zu können.

Am 30. November verließ Kanye das Krankenhaus schließlich wieder und ließ sich einige Tage später auf einer Möbelausstellung von Rick Owens im Museum of Contemporary Art in Los Angeles blicken und führte seine neue Haarfarbe—Post-Trauma-Blond—dort genau so spazieren, wie am nächsten Tag, als er die Eingangshallte des Trump-Tower betrat, um sich dort mit dem neuen Präsidenten der USA zu treffen. Vergessen schien der wächserne Trump im Video zu „Famous". Vergessen schien der Fakt, dass Kanye West in vier Jahren selbst als Präsidentschaftskandidat kandidieren wollte. Und vergessen schien auch der Fakt, dass Donald Trump ein misogyner, xenophober, sexistischer und rassistischer Idiot zu sein scheint.

Für Kanye war die Sache klar: Man habe sich getroffen um „multikulturelle Probleme" zu besprechen. Außerdem sei es wichtig, eine Direktleitung zum nächsten Präsidenten der USA zu haben, wenn man Veränderungen wolle. Die Meldung über das Tête-à-Tête verbreitete sich wie ein Lauffeuer und das Internet drehte durch. Kollegen wie Flying Lotus, John Legend und YG zeigten sich enttäuscht über Yes Treffen mit Trump, während The-Dream und RZA verständnisvoll reagierten und in dem Austausch tatsächlich eine Chance sahen. Nach 15 Minuten gab es einen Handshake, Bilder für die Presse, wenig später twitterte Ye ein Foto von dem Geschenk, dass er halten hatte. Es war ein signiertes Time-Magazin mit Donald Trump auf dem Titel.

Vielleicht schaltet Kanye zwischen den Jahren ja mal sein Handy aus, lässt die MPC im Schrank, umgibt sich stattdessen mit Kim und den Kindern und startet dann ganz wunderbar erholt ins neue Jahr. Ohne Hybris, ohne Hirnfürze und dafür mit guter Musik. In dem ganzen Trubel ging nämlich fast unter, dass Pete Rock schon fleißig Snippets und sogar die eventuelle Tracklist eines gemeinsamen Projekts—vielleicht „Turbo Grafx 16"?!—mit Kanye West aus dem Studio postete. Außerdem waren da ja noch die Songs mit Kendrick, Young Thug und Drake… Nach diesem Jahr steht jedenfalls fest: 2017 und hoffentlich auch Zweitausend-Ye-Zehn kann es eigentlich nur besser werden.

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