Charly Büchi
Fotos: David Zehnder

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Auf einen Tanz mit der Zürcher Konzert-Ikone Charly

Er trieb sich auf illegalen Partys herum und gründete die erste Anlaufstelle für homosexuelle Jugendliche. Heute ist Charly Büchi überall da, wo es laut wird.

Wo Charly Büchi ist, solltest auch du sein – oder: Wo du bist, ist Charly garantiert. Der 59-jährige Ur-Winterthurer gilt im ganzen Kanton als Qualitätssiegel für die besten lokalen Konzerte. Jazz, Rock, Ska oder Elektro (alles ausser Metal) – er ist dabei. Charly kennt praktisch alle Local-Bands persönlich und tanzt bei jedem nennenswerten Live-Konzert der Umgebung in der vordersten Reihe hemmungslos und mit ausgiebiger Euphorie mit. Wenn du den auffälligen, kleinen Mann siehst, dann bist du am richtigen Ort.

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Wir treffen Charly im Urbansurf an der Hardbrücke in Zürich. Schon von Weitem ist er deutlich erkennbar: Er trägt grell-orangefarbene Hosen, ein rot-gemustertes Hemd und ein Paar ausgelatschte hellgelbe Converse – vermutlich seine Tanzschuhe. Als wir die Bar betreten, begrüssen Gäste, Barpersonal und die Mitglieder der Ska-Punk-Band Pueblo Criminal Charly wie einen alten Freund. Die Band wird später in dem kleinen Lokal auftreten. Schnell ein Gin Tonic bestellt, sein Lieblingsdrink, um die Zeit bis zum Beginn des Konzerts zu nutzen. Etwas aufgeregt setzt sich Charly an einen Tisch an der frischen Luft und erzählt aus seinem Leben.

Charly

Die Stadt-Ikone war ein richtiges Land-Kid. Er verbrachte seine Kindheit in Elgg, einem kleinen Dorf etwas ausserhalb von Winterthur. "Ich bin sehr wohlbehütet aufgewachsen", erzählt er. Er durfte gerade mal mit 16 Jahren das erste Mal alleine ins Kino. Doch schon damals zog es ihn in die wenigen lauten, stickigen Konzertlocations, die Winterthur damals zu bieten hatte. Von denen konnte er jedoch nur träumen – die Erlaubnis seiner Eltern erhielt er lange nicht.

Während seiner kaufmännischen Ausbildung konnte Charly schliesslich ausbrechen. Mit dem Velo oder dem Töffli seines Vaters tuckerte er so oft wie nur möglich aufgeregt nach Winterthur, um endlich die Grosstadtevents zu besuchen, nach denen er sich so sehnte. "Ich besuchte regelmässig die Partys, die jeweils freitags und samstags für Homosexuelle geschmissen wurden", erzählt er. Die Hälfte der Clubs, die Charly erwähnt, gibt es schon lange nicht mehr.

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"Früher waren viele Partys verboten", erklärt er. "Entweder die Bar wurde illegal betrieben oder wir nahmen unsere Drinks selbst mit." Diese Zeiten seien zum Glück vorbei und die jetzige Entwicklung der hiesigen Live-Musik-Szene bringe sehr viele Vorteile – vor allem für Veranstalter und Bands. Sie hätten viel mehr Auftrittsmöglichkeiten vor allem in Bars und Cafés und würden Charly so mehr Tanzgelegenheiten bieten. Diese Events besucht Charly am liebsten. Er will nämlich möglichst nahe bei der Band stehen. Hauptsache gute Musik und Platz zum Tanzen.


VICE-Video – "Bewegung und Party: Das Skate-Life in Zürich


Nach seiner Ausbildung arbeitete er einige weitere Jahre als Bürogummi. 1982 übernahm Charly zusätzlich die Leitung der Jugendgruppe Spot 25. Die Gruppe sollte eine erste Anlaufstelle für homosexuelle Jugendliche sein."Damals war Homosexualität halt noch nicht so toleriert. Die Leute wollten nicht öffentlich darüber sprechen", erklärt er.

Die Organisation hinter der Gruppe, die HAZ (Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich), ist eine der grössten LGBTQ-Organisationen der Schweiz und kämpft seit 1972 gegen die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität an. Die Organisation hätte etliche Male versucht, Inserate in Zeitungen wie der damaligen Gratis-Wochenzeitung Züri Leu zu schalten. Diese sollten auf die Gruppe aufmerksam machen. Die Anfragen wurden jedoch mehrheitlich abgelehnt.

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Charly liess sich nicht entmutigen. Nachdem sein Velo einige Male zu oft geklaut worden war, kaufte er sich endlich einen Töff. Und auf den Töff kam ein grosser Kleber mit der Aufschrift "Bisch au schwul oder wotsch drüber rede?" Er setzte sogar seine Telefonnummer darunter. Er wollte so Jugendlichen helfen, sich selbst zu akzeptieren. "Ich hatte selbst eine Weile gebraucht, bis ich mich outen konnte. Ich wusste nicht, wann der richtige Moment kommen würde."

Die Rekrutierung für den obligatorischen Militärdienst hat ihm diese Entscheidung abgenommen. Mit 20 Jahren wurde Charly in die Sanitätstruppe eingeteilt. Doch in die Armee wollte er auf keinen Fall. Sein Kumpel riet ihm, im psychologischen Gespräch zu sagen, er sei homosexuell. Damals war dies noch ein Grund, den militärischen Dienst nicht leisten zu müssen. Das Gespräch lief wie geplant und half ihm, endlich zu sich und seiner Sexualität zu stehen.

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Da kam das Jahr 1985 – das internationale Jahr der Jugend. Unter Charlys Führung begann Spot 25, en masse Broschüren zu produzieren, die auch auf das heikle Thema AIDS eingingen. Durch die schlagartige Verbreitung der Krankheit erfuhr die damalige aktivistische Bewegung einen heftigen Rückschlag. Die Gruppe erhielt dennoch ein lautes, positives Medienecho und wurde von Anfragen jugendlicher Hilfesuchenden geradezu überhäuft.

Neu ermutigt machte sich Charly ein Jahr später erneut an die Produktion der Zeitungsinserate und veranstaltete regelmässig Treffen für Homosexuelle, die den offenen Austausch fördern sollten. Da hatte sich auch Marcel gemeldet. "Marcel hat mich sozusagen abgeschleppt", erzählt Charly kichernd. "Es hat sofort gefunkt." Schon bald waren die beiden ein Paar. Im September vor zwei Jahren liessen sie ihre Partnerschaft feierlich eintragen. "Es gab ein grosses Fest mit zwei Live-Bands." Klar. Er nippt vergnügt an seinem Gin Tonic.

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Charlys Mann ist ebenfalls Aktivist. Als Fussballfan gehört er zur Queer-Fangruppe Letzi Junxx des FCZ, um Homofeindlichkeit in der Fussballszene zu bekämpfen. "Es ist leider noch immer ein Thema", erklärt Charly. Charly schaut selbst kein Fussball und Marcel begleitet Charly nur selten zu Live-Shows. Dafür gehen sie regelmässig ins Kino und ins Theater. Als sie das letzte Mal zusammen an einem Rock-Konzert waren, sagte sein Mann: "Die Jungs sehen schon toll aus, aber die Musik? Nee."

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Für Charly ist dies kein Problem – die meisten Konzerte besucht er sowieso allein. Dabei steht er ganz vorne und verschafft sich mit seinen ausgiebigen Moves direkt vor der Bühne genügend Platz zum Tanzen. "Manchmal muss ich aber echt aufpassen, dass mir die Brille nicht runterfällt", erklärt er und zeigt schmunzelnd auf seine kleine, runde Brille. "Oder, dass ich zerquetscht werde!"

Der kleine Mann weiss, dass er auffällt. Schon öfter habe sich die Band nach dem Konzert für seinen Einsatz bedankt. Doch diese Berühmtheit sei ihm eigentlich egal. Er macht einfach sein Ding – ob es die Leute cool finden oder nicht, schert ihn nicht im Geringsten. Auf die Frage, wieso er oft der Einzige ist, der sich bewegt, reagiert er mit Unverständnis. "Ich weiss nicht, wieso ich der einzige Tanzende bin. Manchmal frage ich mich, warum sich die Mädels und Jungs im Publikum nicht bewegen. Ich kann nicht stillstehen!", erzählt er. Charly nutzt jede Sekunde der Show und bleibt, bis der letzte Ton verklingt. Die Zeit nimmt er sich – und er hat sie auch.

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Nachdem Charly nämlich 33-einhalb Jahre für dieselbe Bude gearbeitet hat, sei ihm wegen "Neuorganisation" gekündigt worden, erzählt er mit hochgezogenen Augenbrauen und skeptischem Blick. Danach war er zwei Jahre beim Arbeitsvermittlungszentrum RAV und musste jeden Monat 20 Bewerbungen einreichen. Fündig geworden sei er jedoch nicht. Mittlerweile habe er sich mit seiner Arbeitslosigkeit abgefunden. "Falls ich über etwas stolpern sollte, was mir Spass macht, würde ich schon wieder arbeiten – aber nur Teilzeit." Er geniesse seine Freizeit. "So kann ich jetzt sogar tagsüber ins Kino!", erzählt er lachend. Langweilig werde es ihm nie. "Es gibt immer was zu tun."

Wie wär’s mit Bloggen – Charlys Tourguide für lange Nächte in Zürich? "Nein, da hab ich keine Lust drauf. Und als Kritiker wäre ich eh nicht geeignet – ich finde viel zu schnell etwas cool." Schade, denn Charlys Blog wäre in der Schweizer Live-Musik-Szene ein garantierter Erfolg.

Charly Schuhe

Dann knallt das Konzert der jungen Band Pueblo Criminal ins Gespräch. Sofort ist Charly in der vordersten Reihe und schafft sich seine eigene halbrunde Tanzfläche. Die Musik fängt an und Charlys Hände schnellen in die Luft. Er strahlt, seine Lachfalten graben sich tief in sein Gesicht – er ist voll in seinem Element. Seine lauten Rufe, stampfenden Füsse und wackelnden Knie zeigen seine standardisierten Tanzschritte. Während der Rest des Publikums eine etwas längere Aufwärmphase benötigt, rollen über seine geröteten Wangen bereits die ersten Schweisströpfchen. Doch Charlys Energie steckt an, denn schon bald wackeln alle ihre Hüften ein bisschen ausgiebiger und gewagter zu den chaotischen Klängen der Ska-Punk-Band.

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Nach einer Stunde intensivsten Konditionstrainings ist sogar Charly erschöpft. "Puh, ist das heiss hier drin!", schnaubt er und greift zu seinem zweiten Gin Tonic. Nach dem Konzert kommt der Saxophonist der Band direkt auf Charly zu. "Du schwitzt ja mehr als wir!", sagt er lachend und nimmt Charly freundschaftlich in den Arm. Dann dreht er sich zu mir um: "Der Mann ist eine Legende! Schreib das auf!" Bevor wir das Lokal verlassen, quatscht er kurz mit den Bandmitgliedern und vereinzelten Zuschauern.

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Winkend gehen wir nach draussen in die regnerische, kühle Nacht. Als wir uns verabschieden, frage ich ihn, ob es etwas gebe, was er unbedingt noch sagen wolle. "Ja", sagt er, "ich bin glücklich. Das solltest du auch reinnehmen."

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