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Wir haben uns das Album von Sami Slimanis Schwester angehört, damit ihr es nicht müsst

„Jetzt fehlt eigentlich nur Pitbull, der im weißen Anzug rumschreit. Mein Gehirn wird langsam weich.“ Unser Autor hat ‚Reflections‘ von Lamiya Slimani durchgehört.

Die Slimanis sind bei den Deutschen so etwas wie ein Youtuber-Familienunternehmen. Unwissenden ist wohl am ehesten das Grinsen von Sami Slimani bekannt, der früher unter seinem Alter Ego HerrTutorial nicht von der Youtube-Startseite wegzudenken war. Videos zu Themen wie "How To: Justin Bieber Hairstyling in Minutes" oder "DIY MUSTACHE Pullover in 10 Minuten!!!" erreichten teils Millionen Klicks und machten den Esslinger zu einem von Deutschlands ersten Youtube-Stars. Von seinem Erfolg inspiriert, stiegen seine beiden Schwestern Dounia und Lamiya auch ins Dauerwerbesendungs-Game ein. Schleichwerbungs-Vorwürfen zum Trotz bilden sie gemeinsam die wohl erste deutsche Youtube-Dynastie inklusive autobiografischem Selbsthilfe-Buch und millionenweise Followern in den sozialen Medien. Und wo Youtube-Fame ist, ist musikalisches Selbstvertrauen nicht weit, das wissen wir spätestens seit Liont. Und natürlich hat jetzt auch Lamiya Slimani ein Album gemacht. Es heißt Reflections und will ein richtiges, ambitioniertes Pop-Album sein. Es erscheint auf einem richtigen Label (Peppermint Jam) und wurde interessanterweise von Mousse T. produziert—dem Ohrwurm-DJ hinter "Is it Cause I’m Cool" und dem Megahit "Horny", den du mit Sicherheit früher geträllert hast, noch ohne zu wissen, was das Wort eigentlich bedeutet.

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Uns faszinieren die klanglichen Gehversuche der deutschen Youtube-Community ja bisserl. Während die Jungs und Mädels meist einfach durch langweilige Hip-Hop-Imitationen Insider-Scherze für ihre Fangemeinde raushauen, haben wir den Glauben noch nicht aufgegeben, dass irgendwann auch mal etwas ansprechendes aus dieser Ecke kommt. Denn beim Pop wie bei Youtube-Videos ist die Kunst, eine möglichst große Projektionsfläche zu bieten: Irgendwie allgemeingültig ansprechend zu sein und dabei so zu wirken, als würde man einfach nur sein Ding durchziehen. Bewaffnet mit diesem Optimismus, aber mit dem Schlimmsten, rechnend geht es jetzt also in den Selbstversuch, sich Reflections von Lamiya Slimani von vorne bis hinten durchzuhören, damit ihr es nicht tun müsst. Wünscht mir Glück.

"Echoes"

Nach 22 Sekunden fühle ich mich in allen Befürchtungen, die man bezüglich so eines auf sophisticated gemachten Youtuber-Pop-Albums haben kann, bestätigt. Mousse T. scheint den Fatboy Slim-Modus wohl hinter sich gelassen zu haben, stattdessen ist er vom Geist des David Guetta-Ghost-Produzenten besessen. Statt auf die EDM-lastige Instrumentierung konzentriere ich mich also lieber auf den Text: Lamiya scheint am Ende einer Beziehung zu sein. "Playing you on repeat like a record", ich hoffe nicht.

"Can't Say No"

Track Nr. 2, Ballade. Herzschmerz, Trennung, etc. In der Ferne gibt es hochgepitchten Gesang á la "Sorry" von Justin Bieber. Ist es eine bewusste Referenz oder wurden hier einfach Elemente, die funktionieren, zusammengeschmissen? Funktionieren tut das Ganze irgendwie schon, auch ohne catchige Melodie und textlichen Anspruch.

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"Glow"

Als erste Single bekam "Glow" ein Mitmach-Lipsync-Video über Samis Kanal, das fast 2 Millionen Views angesammelt hat. Ich kann es mir beim besten Willen nicht von vorne bis hinten ansehen, genauso wie ich lieber jahrelang nichts anderes als Lamiya Slimani in der Bahn anhören würde, anstatt auch nur eines von ihren "Favoriten & Flops des Monats"-Verkaufspitch-Videos anzuschauen. Nicht, dass der Track mit seinem ausgelutschten Marschmusik-Getrommel sonderlich ergiebig wäre, aber ich kann diese Art Videos ab "Liket und Abonniert" eigentlich schon ab dem "Hallo Leute" nicht anschauen. Nennt mich einen Opa, der die Kids von heute nicht versteht, aber jeder Jeck ist anders. Übrigens: um die AnnenMayKantereit-Teens abzuholen gibt es zu ",Glow" auch eine Akustik-Version (inklusive zerzaustem Septum-Gitarristen), in der man hört, dass Slimani tatsächlich eine schöne Stimme hat und Töne treffen kann.

"Fire Up"

Der Song hat diese schnellen Drums, die Fatoni und Juse Ju auch im Untergrund-Hip-Hop richtig gerne cool gemacht hätten. Klingt alles sehr uplifting, doch langsam verwirren mich die Texte, in denen ich einen roten Faden oder sowas ähnliches suche. Eigentlich werden dem Publikum nur die üblichen Floskeln um die Ohren gehauen—sie singt erst, sie "needet ihn nicht mehr", aber nur um sich vier Takte später zu wünschen, er würde sie "Back taken". Erkenntnis: Trennungssongs sind so etwas wie das R’n’B-Pop-Pendant zu Rap-Battle-Texten, denn man erzählt einem imaginären Gegenüber irgendwas, und solange die Schlagworte stimmen, ist der Rest egal.

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"Love Me"

Nach dem einlullend-positiven Anfang flext Mousse T. zumindest ein bisschen seine Garage-Muskeln, anstatt nur den 2016-Sound zusammenzuwürfeln. Der Anfang von "Love Me" hat tatsächlich einen coolen Craig David/Toxic-Vibe und auch den daraus entstehenden Track kann man sich als Dancefloor-Highlight einer schrecklichen Abi-Party vorstellen.

"White Lies"

"White Lies" soll wohl den trappigen Sound abdecken, genauso wie eigentlich jeder Titel in eine bestimmte Stilrichtung von 2016er Pop schießt. Stichwort Projektionsfläche. Ein bisschen Rihanna muss drin sein, ein bisschen verzerrte 808-Kick und ratternde Hi-Hat. Wegen der Bandbreite an Mousse T.s Anspielungen an alles zwischen Dancehall und Billo-Deep-House á la "Die immer Lacht" könnte man Reflections fast schon ein post-modernes Kunstwerk nennen. Das würde allerdings darüber hinwegtäuschen, dass man irgendwie die vielfältigen Musikgeschmäcker von 735,566 (Stand: 3.8.) Followern treffen will. Für jeden ist was dabei! Gähn.

"Diluted Love"

Wohl der erste wirklich uninteressante Track auf dem Album. Der Blick fängt an zum Fenster zu schweifen, draußen regnet es. Relativ müde bin ich auch, vielleicht hab ich neue Mails? Draußen fährt eine S-Bahn vorbei. Wo isst man heute zu Mittag? Ein Telefon klingelt. Was mache ich hier? Der Track klang die letzten zwei Minuten wie ein schlecht zu empfangender Radiosender auf der Autobahn. Aber gut zu wissen, dass Mousse T. auch noch 4-to-the-Floor kann.

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"Turn Up"

Der zum Tanzen gedachte Part des Albums scheint jetzt eingeläutet und bei "Turn Up" fehlt eigentlich nur Pitbull, der im weißen Anzug rumschreit. Mein Gehirn wird langsam weich. Slimanis Hitparade hat etwas von dem grellen Licht einer Mehrfachsteckdose, das dich abends am Einschlafen hindert aber auch nicht so schlimm ist, als dass man jetzt nochmal aus dem Bett aufstehen würde. Alles ist natürlich aalglatt produziert, was zu den eiskalt kalkulierten Songs passt. Die Versuche, hier aus immer gleichen Bausteinen Banger zu basteln sind hypnotisch—irgendwann muss es ja klappen.

"Everything I’m Not"

Das Upbeat-Segment des Albums fühlt sich deulich lahmer an als der Rest, ein Titel nach dem anderen bleibt einfach nicht hängen, ist so uninteressant wie seine Vorgänger. Ein Kommentator auf Itunes schreibt. "Für mich sind das sogenannte Füllsongs. Jedes Lied hört sich fast gleich an." Kann man als Kompliment an Mousse T.s homogenen Produktionsstil sehen. Muss man aber auch nicht.

"Nobody Else"

Ist definitiv einer der lahmste Tracks des Albums. Wenn du dir einen halbherzigen Direct-to-DVD-Film von 2011 zu einer hyperaktiven Tween-Serie auf Nickolodeon vorstellst, in dem sich am Ende alle Probleme in einer unrealistisch fröhlichen Party auflösen, dann ist "Nobody Else" der Track über den die Schauspieler während des Abspanns pseudo-ausgelassen tanzen.

"In the Dark"

Der Ausklang des Albums ist deutlich angenehmer. Daft-Punk-mäßiger 80er-Sound passt ziemlich gut zu Slimanis Beziehungs-lyrics. Aus dem Genre-Roulette, das die Sängerin auf diesem Album spielt, ist das vielleicht noch der größte Gewinn.

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***

Nun, so ein vielseitiges Pop-Album zu machen ist natürlich eine Kunst für sich. Aber schade eigentlich, dass Lamyia tendenziell eher auf Vielfalt als auf einen roten Faden gesetzt hat. Klar, Lemonade wäre es sowieso nicht geworden—und ich will auch nicht sagen, dass alles immer total gleichförmig sein muss. Aber Reflections klingt mehr nach gesammelten Tracks, die sich an existierenden Kerben abarbeiten, als nach einem richtigen Album mit Vision. Jemand schreibt auf itunes "Leider sehr viel Technik und wenig Stimme" und damit liegt PaulaKaffee gar nicht so falsch. Hätte man den Mut gehabt, sich soundtechnisch stärker festzulegen, wäre wohl mehr Platz für Kreativität und eben Lamyia Slimani gewesen. Denn wenn Reflections auch nicht uneingeschränkt Potenzial verspricht, befinden wir uns hier nicht auf dem Level an Unerträglichkeit, das man vom musikalischen Vollabstürzen anderer Youtuber gewohnt ist. Und auch wenn es ab der Hälfte keinen Spaß mehr macht und ziemlich genau 0 neue Ideen mitbringt, auch wenn man nicht umhin kommt, sich zu fragen, wie Mousse T. hier endete (naja, er hat auch für Yvonne Catterfeld produziert, also ja.)— selbst wenn es komplett aus Fiepen und "Hallo Leute" Youtuber-Begrüßungen bestehen würde, diese Platte wäre immer noch besser als Samis schrecklicher Battle-Rap damals.

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