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Wenn wir Sexismus in der Musikindustrie abschaffen wollen, dann muss sich unsere Sprache darüber ändern

Haben wir ein Klima erschaffen, in dem alles nur noch von Negativität überschattet wird?
Emma Garland
London, GB

Spätestens seit Miley Cyrus 2013 die Bühne der VMAs betreten und ihr fleischfarbenes PVC-Höschen in die Richtung von Robin Thickes verstörend-hässlicher Anzugshose geschwungen hat, sind die Medien geradezu besessen davon, Sexismus in der Musikindustrie anzuprangern. Die letzten britische Institutionen, die auf ihr Fehlverhalten hingewiesen wurden, waren das Reading- und das Leeds Festival, die es irgendwie schafften, ihr Line-Up zu 89,6 Prozent aus Männern bestehen zu lassen. Auch die Line-Ups österreichischer Festivals würden sehr stark zusammenschrumpfen, wenn alle rein männlichen Bands gecancelt werden würden. Da Geschlechtergleichheit momentan im öffentlichen Bewusstsein einen prominenten Platz einnimmt, ist man deswegen—verständlicherweise—auch kollektiv ausgerastet.

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Natürlich waren die Line-Ups der Veranstaltungen immer schon größere Schwanzparaden als jede Diskussionsrunde bei Doppelpass. Was sich geändert hat, ist nicht der Anteil von weiblichen Künstlern auf der Bühne (letztes Jahr war dieser sogar ein klein wenig höher), sondern die Bereitschaft von Menschen, Ungerechtigkeiten auch beim Namen zu nennen, wenn sie sie sehen. Wir befinden uns aber immer noch in diesem Stadium, in dem wir Probleme identifizieren, von deren Lösung wir aber noch meilenwert entfernt sind. Dementsprechend sind wir an einem Punkt angelangt, an dem die Diskussion um Geschlechterrollen in der Musik zu einem überwiegend negativen Fokus tendiert. Es ist natürlich ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Besserung, auf all das hinzuweisen, was falsch läuft, aber bei so viel Kritik und so wenig Fortschritt kann man sich schon fragen, ob wir uns nicht ein Klima erschaffen haben, das von Negativität beherrscht wird?

Vor ein paar Wochen schickte die Perfect Pussy Frontfrau und gutmütige Naturgewalt Meredith Graves folgenden Tweet wie einen donnernden Ruf zu den Waffen raus in die Welt: „Campaign to Disarm Awful Obsolete Male Rock Critics and Replace Them With Teenage Girls 2015.” Diese Forderung scheint ganz unabhängig von irgendeinem Kontext schon ein fairer Vorschlag zu sein, verfasst wurde sie aber als Antwort auf einen bestimmten, etablierten, männlichen Musikjournalisten, der das neue t-U-n-E-y-A-r-D-s Album nicht anhand seines Inhalts, sondern anhand von Merrill Garbus’ körperlicher Erscheinung bewertet hatte. „I’ve always slotted her as a hyperconscious, hyperemotional misfit with a long-gone weight problem and a generous voice“, schreibt er, bevor er dann suggeriert, dass der Song „Rocking Chair“ [Schaukelstuhl] durch Garbus’ unterbewusste Angst entstanden sei, einen solchen kaputtzumachen.

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Ja, dieser Typ hatte definitiv eine verbale Breitseite verdient, aber Graves schaffte es sogar, ihre Verachtung für ihn in ein Statement für die Ermächtigung derjenigen zu verwandeln, die von ihm nicht ernst genommen werden. So unmöglich es auch ist, jedes Arschloch dazu zu bekommen, die Fresse zu halten, so gut weiß Meredith Graves aber auch, wie sie ihre Schlachtfelder aussucht. Auf einen Schlag dekonstruiert sie die antiquierte Vorstellung, dass Respekt durch Geschlecht und Alter erlangt wird. Das impliziert gleichzeitig auch das Argument, dass junge Frauen verdammt noch mal wichtig sind und mindestens so ernst genommen werden sollten, wie die alten Säcke, die über sie unter dem Banner des Musikjournalismus urteilen. Ich sage jetzt nicht, dass Objektivität automatisch über Bord geworfen werden sollte, sobald diese Dynamik auftritt, aber wenn man zum Beispiel Paul Lester nimmt—einen Guardian-Kritiker mittleren Alters—der Girlpools Musik beschreibt, „als wäre man von ein paar Charakteren der HBO-Serie Girls in eine Ecke gedrängt und gezwungen worden, sich ihre Jungsprobleme in jeder noch so nervigen Einzelheit anhören zu müssen“, dann muss man sich schon fragen, ob diese „respektablen“ Musikjournalisten überhaupt irgendeine Art von Respekt verdient haben. Schließlich sind sie es, die versuchen, die Stimmen zum Verstummen zu bringen, auf die wir alle besser hören sollten.

Leaving for UK/Europe tomorrow. Tickets still available….‼️ 2/16 - London, EN @ the Lexington SOLD OUT 2/18 - Manchester, EN @ Soup Kitchen 2/19 - Glasgow, UK @ Broadcast 2/21 - Paris, FR @ Pop Up Du Label 2/23 - Berlin, DE @ Kantine am Berghain & 2/24 - Hamburg, DE @ Exile Molotow & 2/25 - Amsterdam, NL @ Paradiso & 2/26 - Borgerhout, BE @ Trix Antwerp & & = with Alex G

A photo posted by Girlpool (@girlpoool) on Feb 13, 2015 at 8:06am PST

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Es ist sehr verlockend, unsere kostbare Zeit damit zu verbringen, über das herrschende System zu schimpfen, das alte Männer zu den „Gralshütern“ des guten Geschmacks macht—zu dem sich junge Frauen erst mühevoll durchkämpfen müssen. Auf weite Sicht scheint es allerdings nicht sehr nützlich zu sein, sich darüber aufzuregen, dass irgendjemandes Vater Girlpool nicht „versteht“. So weit gefächert ihre Hörerschaft auch sein mag, Männliche Zeitungskritiker, Alter 35 – 59, Die Über Sie Schreiben Müssen, gehören bestimmt nicht zu ihrer Zielgruppe. Im Interesse eines konstruktiveren Ansatzes sollten wir für jeden Löffel Entrüstung, den wir ätzenden Kritikern ins Gesicht schnippen, doppelt so viel positive Unterstützung für diejenigen bieten, die versuchen, die Angelegenheit ins rechte Lot zu rücken. Die 16-jährige Tavi Gevinson, Gründerin von Rookie—einem Onlinemagazin für Teenager-Mädchen—fand dafür bei ihrem 2012er TEDxTeen Vortrag die besten Worte: „Ich erkenne ungern ein Problem an, ohne auch diejenigen anzuerkennen, die an dessen Lösung arbeiten.“

Wir können alle ein wenig von Gevinson lernen, indem wir unsere Aufmerksamkeit positiv auf all jene Künstlerinnen richten, die junge Frauen direkt ansprechen und sich von niemandem etwas gefallen lassen. Wenn du nämlich nur eine Millisekunde innehältst, um einen Blick auf die Musiklandschaft zu werfen, dann wirst du eine ganze Menge von ihnen finden. Vom Aufstieg von Girlpool bis hin zur Rückkehr von Sleater-Kinney, die schiere Anzahl von weiblichen—und vor allem jungen, weiblichen—Künstlern, die momentan deine ungeteilte Aufmerksamkeit verdient haben, ist geradezu inspirierend. Adventures aus Pittsburgh haben gerade eins der besten Pop-Rock-Alben des letzten Jahrzehnts veröffentlicht, Mitskis Tremolo-Gesang hat sich—vom Rolling Stone bis zu Ryan Hemsworth—in die Herzen von so ziemlich jedem gespielt und auch Skinny Girl Diet sind schon eine fixe Institution in Londons Politlandschaft und spielen öfter bei Benefizshows und Kunstfestivals, die für Frauenrechte eintreten, als du deine Eltern anrufst. Und das sind nur ein paar Beispiele aus einer langen Liste von Musikerinnen, die momentan den ganzen Verein ordentlich umkrempeln. Der Festivalzirkus entschied sich aber anscheinend 2015 wieder kollektiv dafür, diese Meldung unter den Teppich zu kehren, beziehungsweise in den Müll zu befördern. Damit wäre auch mal wieder bewiesen, dass es eigentlich nie eine Frage der bloßen Anzahl war, wenn es um Frauen in der Musik ging, sondern eine Frage der Sichtbarkeit.

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How it would look if the Reading / Leeds line-up only included the acts that have a female musician in the band. pic.twitter.com/xpEgI0gNUB

— Crack In The Road (@crackintheroad) 24. Februar 2015

Es gibt viele Gründe dafür, warum sie mal wieder so unterrepräsentiert sind- Letztendlich ist es aber symptomatisch für die patriarchalen Werte, die immer noch alles von der Einkommensungleichheit bis hin zur Tampon-Steuer bestimmen. Es ist aber auch ein Kreislauf aus Ursache und Wirkung, auf den die Chumped-Sängerin Anika Pyle in einem Artikel für Vulture hinwies: „Je mehr Frauen ich [Musik spielen] sah, desto mehr freute ich mich.“ Andersherum kann die Abwesenheit von Frauen in Line-Ups dann aber genauso gut für Entmutigung sorgen und die Ansicht stärken, dass Musik ein reiner „Jungsclub“ ist und für immer bleiben wird. Dieses Konzept wird aber zunehmend dünner. Es fühlt sich an, als seien wir in einen zyklischen Dialog der Kritik geraten, in dem kleine Siege befriedigender wahrgenommen werden, als sich den wirklich großen, komplexen Themen anzunehmen. Die Beschuldigten verteidigen sich immer vehement und angriffslustig und am Ende geben alle auf und kümmern sich um etwas anderes. In einer Welt nämlich, in der Frauen immer noch als Genre und nicht als Gender behandelt werden, in der Journalisten noch immer jeden mit XX-Chromosomen und einer Gitarre mit Bikini Kill vergleichen und in der es große Festivals anscheinend nur hinbekommen, Frauen auf eine Art zu unterstützen, die „selbst-beweihräuchernd, herablassend und ausgrenzend“ ist (Hallo Bestival!), so lange wird es nämlich immer etwas anderes geben, über das man sich beschweren kann.

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Genauso wie Nachrichten dazu tendieren, sich auf die größten Tragödien des Tages zu konzentrieren, so bevorzugen es auch die meisten Mainstreammedien, wenn es um Gender in der Musik geht, sich nur auf diejenigen einzuschießen, die mal wieder die größte Scheiße gebaut haben. Nicht jeder weiß, wer die Crutchfield Schwestern sind, aber jeder weiß eine Menge darüber, „was dieser Typ von der einen Band gesagt hat“ und kann seine Meinung dazu kundtun. Das sind in der Regel die Artikel, die auf diversen Social-Media-Kanälen die Runde machen—begleitet von unterschiedlichen Stadien der Empörung—und es sind eben nicht diejenigen, die aus persönlicher Erfahrung heraus verfasst worden sind oder diejenigen, die die Zusammenhänge zwischen rassistischer Politik, Feminismus und Musik ansprechen—eben die Dinge, von denen Menschen vielleicht sogar etwas lernen könnten. Solange wir nicht anfangen, die Stimme von Frauen genauso ernst zu nehmen wie die Kommentare, die sie umgeben und solange wir nicht anfangen, Künstlerinnen als Individuen und nicht als Lösung für die Probleme sehen, die ihnen vorausgegangen sind, wird sich nicht wirklich etwas ändern. Es liegt an den Medien, diese Ausgewogenheit herzustellen, den Menschen Alternativen zu den Dingen bereitzustellen, die als problematisch kritisiert werden—nicht jeder weiß nämlich, wo man suchen muss oder was man tun kann, um zu helfen. Es liegt aber auch an uns, mehr lehrreiche Artikel so zu teilen, wie wir das mit den Enthüllungen über Devin Ruben Perez’ 4chan Aktivitäten gemacht haben.

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Die Hardcoreband Bleed the Pigs aus Nashville, Foto von Julian Guevara

Die Medien haben einen riesigen Einfluss, wenn es darum geht, den Dialog über die Debatte um Sexismus in der Musikindustrie mitzugestalten—für diejenigen, die dagegen ankämpfen, ist es nämlich oftmals so, als würden sie in einen leeren Raum schreien. Dass es wichtig ist, auf Missstände hinzuweisen, wenn wir sie sehen, kann man gar nicht genug betonen, aber andererseits sind wir noch nie wirklich weitergekommen, indem wir bloß mit dem Finger auf etwas gezeigt und es Scheiße genannt haben. Es braucht mindestens genauso viel positiven Aufwand, um wirklich einen Wandel zu bewirken. Die ganzen Künstlerinnen, die ich vorhin genannt habe, sind schon in gewisser Weise Teil dieses Aufwands—einfach nur, weil es sie gibt—aber letztendlich tun sie nur das, was sie tun, weil sie es tun wollen und nicht weil sie irgendjemandem oder irgendetwas den Krieg erklärt haben. Es liegt nicht bei ihnen, genauso wenig, wie es an den Frauen im Allgemeinen liegt, diesen Wandel anzustoßen. In einem Gespräch mit i-D sagte Meredith Graves: „Ich habe mir über zehn Jahre lang den Arsch aufgerissen, um als gleichwertig angesehen zu werden. Diese Arbeit mache ich mir nicht mehr. Ich könnte arbeiten, bis mir die Finger abfallen und würde immer noch nicht 90 Prozent der männlich dominierten Punkszene davon überzeugt haben, dass ich es verdient habe, als etwas anderes als eine Kuriosität behandelt zu werden. Der Antrieb für einen Wechsel kann nicht länger nur in den Händen der Frauen liegen.“

Die Verantwortung liegt bei uns allen, dass wir Musikerinnen genauso entgegentreten, wie wir es Männern schon seit immer und ewig getan haben—dass wir sie nicht als Phänomene, Sexobjekte oder kurzfristige Lösung für ein weitreichendes Problem fetischisieren. Wir sollten also im Hinterkopf behalten, dass wir den Dialog über Sexismus in der Musikindustrie nicht mit derartig viel Negativität überschwemmen, dass die progressiven Stimmen und Entwicklungen, die durchaus existieren, an den Rand gedrängt werden. Dann, vielleicht dann, kommen wir an einen Punkt, an dem das Messen von Bands anhand ihrer Leistung anstatt ihres Geschlechts Realität wird—und nicht nur eine hohle Phrase beibt, die Booker großer Festivals zu ihrerer Verteidigung heranziehen.

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