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Was du von Cosey Fanni Tutti über Furchtlosigkeit lernen kannst

Einst galt sie als “Zerstörerin der Zivilisation”, mittlerweile als Pionierin. In ihrer Autobiographie erzählt die britische Performance-Künstlerin und Industrial-Musikerin von einem Leben voller Widerstände, Unerschrockenheit und menschlicher Wärme.

Cosey Fanni Tuttis Geschichte beginnt im englischen Hull. Ihr Vater, ein abweisender, autoritärer und gewalttätiger Patriarch, erschwert ihre Kindheit. Als sie mit ihrem Jugendfreund Les das Mikrofon einer Kirche für Gesangseinlagen und Albereien zweckentfremdet, droht er: "Wenn ich herausfinde, dass du etwas damit zu tun hattest, prügel ich dich in die Mitte der nächsten Woche. Ich hack dir all deine Finger ab." Sie berichtet von jugendlicher Rebellion, ersten sexuellen Erweckungserlebnissen; davon, wie sie in der Musik und Kunst erste Vorbilder findet – besonders weibliche wie Joan Baez, Janis Joplin oder Nico. Wärme und Zuneigung findet sie bei ihrer Mutter. Doch auch die kann mit der Radikalität der Tochter später nicht umgehen. Als sie in der Zeitung die Schlagzeile "Cosey Fanni Tutti spielt in Pornofilmen mit" liest, reißt der Kontakt endgültig ab.

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1969 nimmt ihr Dasein als Künstlerin ihren Anfang: Sie trifft auf Genesis P-Orridge, einen jungen Studienabbrecher und künstlerischen Freigeist. Die Begegnung hinterlässt Eindruck, seine Erscheinung vergleicht sie mit der eines "indischen Prinzen": "Seine Augen waren klar und blau, seine Haare dunkelbraun und seine Haut hatte eine reine, goldene Farbe". Zusammen mit weiteren Außenseitern ziehen sie in das kommunenartige Ho Ho Funhouse in Hull. Die Performance-Gruppe COUM Transmissions entsteht, ein Künstlerkollektiv, das erst mit anarchischen, der Fluxusbewegung verbundenen öffentlichen Aktionen und später mit immer extremer werdenden, für die Zuschauer kaum zu ertragenden Ritualen mit reichlich Körperflüssigkeiten, Sex und Sadismus für Aufsehen sorgt.

Cosey Fanni Tutti gehört ohne Frage zu den einflussreichsten und kreativsten Figuren der elektronischen Musik und der Kunst. In den 70er Jahren sorgte sie mit ihren Kunstperformances und Auftritten für reichlich Aufsehen – und dafür, dass mit "Industrial" ein vollkommen neues Musikgenre entstand. Sie war Teil der legendären Performance-Gruppe COUM Transmission und der noch legendäreren Musikgruppe Throbbing Gristle, war Stripperin, Pornodarstellerin und ist eine Hälfte des Synthiepop-Duos Chris & Cosey. Ihr selbstgewährtes Credo dabei: "My Life Is My Art. My Art Is My Life." Heute wird Fanni Tutti als feministische Pionierin, musikalische Innovatorin und mutiges Gesicht der Gegenkultur der 70er und 80er angesehen.

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Doch das war nicht immer so. Die künstlerische Kompromisslosigkeit und Grenzüberschreitungen der 1951 unter dem Namen Christine Newby geborenen Britin wurden anfangs als Provokation und Geschmacklosigkeit aufgefasst. Cosey wurde angefeindet, konservative Politiker und Boulevardzeitungen empörten sich über ihre radikalen Aktionen. Im englischen Parlament wurden sie und ihre Performance-Gruppe COUM Transmissions nach einer mit öffentlichen Geldern geförderten Ausstellung gar als "Zerstörer der Zivilisation" bezeichnet – pornografische Bilder, Livesex und blutige Tampons waren zu viel für die Öffentlichkeit. Doch auch Wegbegleiter aus der Kunst- und Musikwelt erschwerten ihr bisweilen das Leben. Selbst im progressivsten Umfeld wurde sie immer wieder mit klassischen weiblichen Rollenerwartungen konfrontiert.

In ihrer gerade veröffentlichten Autobiografie mit dem Titel Art Sex Music zeichnet Cosey Fanni Tutti diesen Weg von einer radikalen Außenseiterin zum Vorbild und Gesicht alternativer Kunst und Musik nach. Entstanden ist das Buch auf Grundlage umfangreicher Tagebuchaufzeichnungen. Und trotz aller künstlerischer Radikalität und Furchtlosigkeit: Wie wichtig ihr Beziehungen zu Freunden, Wärme und persönliches Glück sind, verleugnet sie nie. Sie berichtet mit der gleichen Eindringlichkeit davon, wie sie bei einer Performance Flüssigkeiten in ihre Vagina injiziert, wie von der Geburt ihres Sohnes und beinahe bürgerlichem Familienglück.

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Cosey Fanni Tuttis Geschichte beginnt im englischen Hull. Ihr Vater, ein abweisender, autoritärer und gewalttätiger Patriarch, erschwert ihre Kindheit. Als sie mit ihrem Jugendfreund Les das Mikrofon einer Kirche für Gesangseinlagen und Albereien zweckentfremdet, droht er: "Wenn ich herausfinde, dass du etwas damit zu tun hattest, prügel ich dich in die Mitte der nächsten Woche. Ich hack dir all deine Finger ab." Sie berichtet von jugendlicher Rebellion, ersten sexuellen Erweckungserlebnissen; davon, wie sie in der Musik und Kunst erste Vorbilder findet – besonders weibliche wie Joan Baez, Janis Joplin oder Nico. Wärme und Zuneigung findet sie bei ihrer Mutter. Doch auch die kann mit der Radikalität der Tochter später nicht umgehen. Als sie in der Zeitung die Schlagzeile "Cosey Fanni Tutti spielt in Pornofilmen mit" liest, reißt der Kontakt endgültig ab.

1969 nimmt ihr Dasein als Künstlerin ihren Anfang: Sie trifft auf Genesis P-Orridge, einen jungen Studienabbrecher und künstlerischen Freigeist. Die Begegnung hinterlässt Eindruck, seine Erscheinung vergleicht sie mit der eines "indischen Prinzen": "Seine Augen waren klar und blau, seine Haare dunkelbraun und seine Haut hatte eine reine, goldene Farbe". Zusammen mit weiteren Außenseitern ziehen sie in das kommunenartige Ho Ho Funhouse in Hull. Die Performance-Gruppe COUM Transmissions entsteht, ein Künstlerkollektiv, das erst mit anarchischen, der Fluxusbewegung verbundenen öffentlichen Aktionen und später mit immer extremer werdenden, für die Zuschauer kaum zu ertragenden Ritualen mit reichlich Körperflüssigkeiten, Sex und Sadismus für Aufsehen sorgt.

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1973 ziehen Cosey Fanni Tutti und Genesis P-Orridge nach London, hier lernen sie Peter "Sleazy" Christopherson und Chris Carter kennen. Aus COUM Transmissions geht mit den beiden zusätzlichen Mitgliedern schließlich Throbbing Gristle hervor, die Radikalität der COUM-Aktionen wird mit selbst gebauten Klangerzeugern und Effekten auf Musik und Sound übertragen, Industrial Music ist geboren. Throbbing Gristle prägen damit nicht nur ein musikalisches und künstlerisches Genre, sondern auch eine ganz neue klangliche Herangehensweise:

"Unser Ansatz war eine Reaktion auf Disco und Popmusik, auf die Kultur der Exklusivität, die Tendenz, die Gräueltaten der Vergangenheit und Gegenwart zu begraben, auf die politischen Aufstände der Zeit, die uns täglich beeinflussten, die allgegenwärtigen Umgebungsgeräusche, die Fabriken, Sägen, Maschinen, U-Bahnen, Kinder, die im Park spielten. Wir erschufen den Soundtrack zu unserer Realität. Wir haben ein Forum für Diskussion erschaffen und vorgefertigte Ideen aufgebrochen, was 'Musik' ist."

Throbbing Gristle existiert von 1976 bis 1981, dann implodiert die Gruppe, die sich zu jeder Zeit am Rande des Auseinanderbrechens bewegt. Ein Großteil der inneren Spannungen erzeugt laut der Autorin Genesis P-Orridge. Cosey zeichnet ein fragwürdiges Bild der charismatischen Ikone der Gegenkultur. P-Orridge ist zunächst Inspiration und setzt kreative Kräfte in ihr frei, Cosey findet sich in ihm wieder und fühlt sich zum ersten Mal verstanden. Doch später manipuliert und kontrolliert er sie, wird gewalttätig und treibt Machtspiele innerhalb der Gruppe. Als Cosey sich von ihm trennen will, akzeptiert P-Orridge das nicht, geht erst mit einem Messer auf sie los, wirft später einen Betonblock nach ihr, der sie nur um Zentimeter verfehlt.

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Die Beziehung zu Genesis P-Orridge lässt sie nicht los und prägt viele Jahre ihres Lebens. Aber das Buch ist dennoch keine "Abrechnung" mit P-Orridge. Cosey sah sich laut eigener Aussage nicht als Opfer seines Verhaltens. Vielmehr betrachtete sie auch die Beziehung als Herausforderung; ein weiteres Beispiel dafür, dass sie sich nie für den bequemen und wenig konfrontativen Weg entschied, sondern immer größtmögliche künstlerische Expression anstrebte.

"Ich war für neue Herausforderungen offen, egal ob sie mir durch mich selbst oder durch unerwartete Ereignisse auferlegt wurden. Ich wollte die Dinge noch weiter treiben, aus meiner Komfortzone heraustreten; selbst, wenn allein der Gedanke daran den Drang auslöste, wegzulaufen."

Neben der Kunst arbeitet Cosey als Model für Fetischkleidung und Nacktmodel, später als Pornodarstellerin und Stripperin. Ihre Arbeit dokumentiert sie, benutzt die Sexindustrie für ihre eigenen künstlerischen Zwecke. Ihre Aktfotos und Pornomagazine stellt sie in der aufsehenerregenden COUM-Ausstellung Prostitution aus. Getrieben wird sie dabei, wie auch bei der Kunst und der Musik, davon die eigenen Grenzen zu überschreiten, ihren eigenen Körper zu kontrollieren und ihn als Instrument einzusetzen: "Ich wollte die Sexindustrie von innen kennen lernen, um Erfahrungen aus erster Hand zu sammeln."

Auch hier wirkt sie als Pionierin, die Vermischung von Kunst und Pornografie ist in den 1970ern völlig neu, "Art-Porn" oder "feministische Pornos" größtenteils noch in weiter Ferne. Nicht zufällig sagt sie gegen Ende des Buches über eine Begegnung mit Sasha Grey, die eine ähnliche Biografie samt Pornokarriere und musikalischer und künsterischer Aktivitäten vorzuweisen hat: "Es war, als würden wir uns seit Jahren kennen – es gab ein unausgesprochenes gegenseitiges Verständnis zwischen zwei starken, getriebenen Frauen."

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Cosey handelt allen Widerständen zum Trotz nach ihrer eigenen freiheitlichen Maxime und lässt sich nicht vereinnahmen oder manipulieren. Auch nicht durch die feministische Bewegung der 70er, die sie aufgrund ihrer Sexarbeit als fremdgesteuertes Opfer abstempelt. Das als beschränkend empfundene Label Feminismus lehnt sie auch heute noch für sich ab. Trotzdem wird in ihrem Buch deutlich, wie bewusst sie sich ihrer emanzipatorischen Rolle als Frau ist, wie wichtig ihr Solidarität mit anderen und Mitgefühl sind – besonders wenn sie den Zusammenhalt mit anderen Stripperinnen schildert und dabei sagt, wie fremd ihr das Rivalitätsdenken innerhalb dieses Kosmos ist.

"Ich war kein 'Opfer' von Ausbeutung. Ich habe die Sexindustrie für meine eigenen Zwecke ausgenutzt, um sie zu untergraben und für meine eigene Kunst zu nutzen. Ich habe Regeln überschritten – auch feministische. Ich weigere mich, durch mein Geschlecht definiert oder begrenzt zu werden."

Doch nicht nur von der Mainstream-Gesellschaft, deren konventionellen Vorstellungen von Moral, Freizügigkeit und Rollenbildern sie sich immer wieder entgegenstellt, spürt sie Widerstand. Auch innerhalb der vermeintlich fortschrittlichen und emanzipatorischen radikalen Kunstszene wird sie mit klassischen Rollenerwartungen konfrontiert. Als einzige Frau innerhalb des COUM-Kosmos muss sie sich um Dinge wie Einkaufen, Kochen und Putzen kümmern, wird von einigen Mitgliedern – wenn auch halb ironisch – als "Mama" bezeichnet. Auch hier herrscht zumindest implizit anscheinend noch ein traditionelles Machtverhältnis.

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Nach der Auflösung von Throbbing Gristle gründet sie mit Chris Carter – mit dem sie seit den Anfangstagen von TG bis heute glücklich liiert ist – das erfolgreiche Synthiepop-Duo Chris & Cosey. Bei ihm findet sie, was sie in den Beziehungen zu Genesis P-Orridge und ihrem Vater vermisst: gegenseitige Unterstützung, Verständnis und Respekt, Geborgenheit, aber auch die nötige Freiheit. "Chris war der erste echte Unterstützer von Gleichberechtigung, den ich traf. Die Begegnung mit ihm war wie ein Erweckungserlebnis", schreibt sie. Das Buch erzählt also auch eine Liebesgeschichte, unaufdringlich und nicht künstlich romantisiert.

In den 90ern hat Cosey mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, es wird ruhiger um sie und Chris & Cosey. Nach einer Operation erleidet sie einen Herzstillstand und stirbt beinahe. Es dauert mehrere Jahre, bis sie sich erholt hat und wieder live auftreten kann. Ihr Drang nach Kreativität und Selbstbefähigung, aber auch nach dem eigenen Lustempfinden ist selbst in dieser Zeit ungebremst. Als ihr nach der ersten Diagnose ihrer Herzproblemen geraten wird, Stress und aufregende Situationen zu vermeiden, lautet ihre erste Frage: "Und was ist mit Orgasmen?"

Dieser kreative Drang führt 2004 schließlich zur Wiedervereinigung von Throbbing Gristle. Doch die alten Konflikte bleiben bestehen. 2010 verlässt Genesis P-Orridge die Gruppe eigenhändig, der plötzliche Tod von Peter "Sleazy" Christopherson besiegelt das Ende von Throbbing Gristle. Coseys Erzählung endet schließlich in der Gegenwart. Trotz – oder gerade wegen – aller Kämpfe ist sie mittlerweile eine etablierte Künstlerin. Musikalisch ist sie außerdem weiter mit Chris & Cosey bzw. Carter Tutti und im Trio Carter Tutti Void aktiv.

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Art Sex Music ist in seiner Radikalität vor allem eins: unglaublich erbaulich und inspirierend, auch wenn sich das Geschilderte stellenweise an der Grenze des Erträglichen bewegt. Ihre Unerschrockenheit und kreative Kraft ist für den Leser ansteckend. Art Sex Music lässt einen die eigenen Ängste hinterfragen, erweckt den inneren Drang nach Selbstverwirklichung und Kreativität. Cosey Fanni Tutti berichtet mit einer beinahe erstaunlichen Furchtlosigkeit von ihrem Leben; einem Leben, in dem sie sich zwar selbst bis an die Grenzen des Erträglichen (und teilweise darüber hinaus) fordert, in menschlichen Beziehungen aber kein "ohne Rücksicht auf Verluste" walten lässt.

Cosey Fanni Tutti zeigt, wie ein künstlerisches Leben aussehen kann, das als oberstes Prinzip dem eigenen Lustempfinden, der eigenen Ausdruckskraft und vor allem der individuellen Unabhängigkeit folgt – und das über einen Zeitraum von mittlerweile 50 Jahren. Über den ersten Auftritt von Throbbing Gristle schreibt sie passenderweise: "Mir war egal, was das Publikum dachte."

'Art Sex Music' ist bei Faber & Faber erschienen. Hier kannst du das Buch bestellen.

Dieser Artikel ist zuerst auf THUMP erschienen.

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