War ‚8 Mile‘ tatsächlich so gut oder waren wir alle einfach nur bescheuert?
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War ‚8 Mile‘ tatsächlich so gut oder waren wir alle einfach nur bescheuert?

Nach über zehn Jahren haben wir ‚8 Mile‘ nochmal angeschaut. Alles war cool, bis Eminem plötzlich anfängt, vor dem Spiegel HipHop-Pantomime zu vollführen.

Als 8 Mile in die Kinos kam, war ich 12 Jahre alt und der größte Eminem-Fan der Welt. Es war Fantum in einem Maße, dass es mir Tränen der Scham in die Augen treibt, wenn ich an diese Zeit zurückdenke, geschweige denn wenn Zeitzeugen beginnen, davon zu erzählen; die Dinge, die ich damals tat und die ich nicht mal dem Alkohol in die Schuhe schieben kann …

Es liegt wohl irgendwie in der Natur, dass frisch Pubertierende irgendwas anhimmeln zu müssen. Für manche sind das Pferde, für mich war es eben Eminem. Ich finde, dass ich Eminem als Objekt meiner Bewunderung auswählte, spricht trotz all der Peinlichkeiten, die mit dem Fantum in diesem unschuldigen Alter eben so verbunden sind, immer noch für mich. Als ich damals also in meinem Kinderzimmer saß, das Stans Keller wie eine Werbung für minimalistische, skandinavische Einrichtungsästhetik aussehen ließ, war ich natürlich völlig aus dem mit Eminem-Postern tapezierten Häuschen, als 8 Mile in die Kinos kam.

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Selbstverständlich war 8 Mile für mich damals der beste Film der Welt. Und er war dank der verruchten „Fabrikszene" auch der Film, der mich mit der ersten Sexszene meines noch jungen Lebens konfrontierte und die mich auf eine kurvenreiche Gefühlsachterbahnfahrt einer Zwölfjährigen schickte (Überforderung, Ekel, Eifersucht, Neugierde, Scham). Man kann also sagen, dass der Film eine gewisse tragende Rolle in meinem damaligen Leben einnahm.

Das ist jetzt 14 Jahre her. Heute bete ich Eminem nicht mehr an, sondern habe ein vertretbares Maß gefunden, Musik und deren Urheber zu mögen, ohne Angst vor der künftigen Hochzeitsrede meines Trauzeugen haben zu müssen. Meine erwachsene Objektivität stellt mich aber vor die heikle Frage: War 8 Mile tatsächlich so gut, oder war mein Lebensabschnitt zwischen 11 und 14 tatsächliche nur eine einzige Lüge? Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar—das sagte schon Ingeborg Bachmann. Für jene, denen der Name nichts sagt: Ingeborg Bachmann ist sowas wie der weibliche Eminem für erwachsene Literaturliebhaber. Also setzte ich mich nach über zehn Jahren 8 Mile-Pause mal wieder hin, um die Wahrheit zu erfahren.

Also eine Sache kann ich beim Einsetzen des Intros auch zehn Jahre später bereits nach zwei Sekunden mit felsenfester Überzeugung sagen: Mobb Deeps „Shook Ones, Pt. ll" ist die pure, aufs Reinste ausdestillierte, anschließend in eine Bergkristallschale gegossene und bei Minus 1000 Grad in flüssigem Stickstoff konservierte Essenz von HipHop. Gott, wie sehr ich diesen Song liebe! Wie viele schlechte Freestyles ich dazu gehört habe! „Shook Ones" war DER Cypherbeat damals und ich glaube bis heute kann niemand den Track hören, ohne finster dreinblickend im Bus ganz hinten zu sitzen. Apropos: damit taucht auch schon der im Klo auf und ab hüpfende Eminem in all seiner Pracht auf.

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Finster dreinblickend natürlich—er hört ja schließlich Mobb Deep, sitzt aber nicht im Bus ganz hinten (kommt noch), jedoch befindet er sich bei einer Cypher, einem Battle um genau zu sein. Ich bin euphorisiert. Das schlägt jedoch in ein ruckartiges Zusammenziehen des Schammuskels um, der sich irgendwo in der Magengegend befindet, als Eminem plötzlich anfängt, vor dem Spiegel HipHop-Pantomime zu vollführen. Düstere Erinnerungen an mein 12-jähriges Selbst, das sekundengenau die „Lose Yourself"-Choreografie vor dem Spiegel nachahmt, keimen in mir auf. Mom's Spaghetti—da landen sie schon auf Eminems Sweater.

Er muss seinen Pulli im Hinterhof wechseln und braucht einen Ort „wo er knacken kann", weil er und Janine mal wieder Schluss gemacht haben. Weitere Erkenntnis zehn Jahre später: Die deutsche Synchronisation ist fast noch schlimmer als die HipHop-Bewegungen von Eminem auf dem Klo. Future fordert daraufhin Bunny Rabbit auf, „die Kacke zum Dampfen zu bringen". Das erste Mal, wo man Eminems Filmnamen hört und damals wie heute frage ich mich: Was ist das für ein beschissener Name? Mein Filmguck-Partner wirft ein, dass die Marktforschung vermutlich an dieser Irritation schuld gewesen sei, „klingt harmlos, B-Boy-Anlehnung." Wir einigen uns darauf, dass MC Oreo der perfekte Name gewesen wäre, während „B Rabbit" das erste Battle gegen niemand anderen als Proof antritt. Gefühle, bittersüßer als diese Symphonie von The Verve keimen auf. Rabbit choked und mein Herz bricht auch zehn Jahre später noch.

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Alles ist scheiße. Eminem sitzt im Bus ganz hinten, das Klaviergeklimper von „Lose Yourself" ertönt das erste Mal. The Feels! Mein Filmpartner und ich gucken uns an, so als würden wir einen Mobb Deep-Enya-Remix hören: Finster, aber auch ein wenig entrückt und verklärt. Naja vielleicht gucke auch nur ich so. Aber selbst er bemerkt, „dass das natürlich ein ganz toller Film ist."

Auf die nächste Szene war ich nicht vorbereitet: Eminem erwischt seine Mutter beim Sex! Das hatte ich ganz vergessen! DAS war tatsächlich die erste Sexszene meines Lebens und nicht die von Eminem in der Fabrik. Mein ganzes Leben war tatsächlich eine Lüge.

Als die Auto-Szene, in der B Rabbit und Future zu „Sweet Home Alabama" freestylen einsetzt, habe ich mich wieder etwas erholt und setze wieder den Mobb Deep-Enya-Blick auf. Was 8 Mile zu so einem großartigen HipHop-Film macht, ist nicht unbedingt seine Handlung, sein Drehbuch, die Besetzung oder dramaturgische Umsetzung (was natürlich auch alles großartig ist), sondern dass die Musik das Highlight des Filmes ist. Der Soundtrack, die diversen Freestyles, der verdammte „Ten Freaky Girls"-Song und natürlich die Battles. Obwohl Eminem zur damaligen Zeit der vermutlich der größte Star der Musikwelt war, ist der wahre Star des Film die Musik, für die Eminem lediglich als Wirt fungiert, den sie braucht, um physisch in Erscheinung treten zu können.

Brittany Murphy aka Alex aka die erklärte Erzfeindin meines 12-jährigen Selbst kreuzt mit den Freeworld-Atzen auf und unterbricht den „Ten Freaky Girls"-Track. Wenn es etwas gibt, was ich hasse, dann ist das Marzipan, Ungerechtigkeit und die verdammten Leadaz of the Freeworld-Typen (vor allem Wink, dieser Ehrenlose). Eminem zieht dem bösen Freeworld-Typen der von einer Autohaube aus ihn und seine Freunde beleidigt die Beine weg, der knallt auf die Motorhaube und ich mache diese Gewinner-Geste, wie Tom Cruise damals auf Oprahs Couch.

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Die waschlappige Alex und Eminem reden das erste Mal miteinander. Sie setzt sich neben ihn auf die Motorhaube und bricht das Eis mit „du sollst ein echt fetter Rapper sein". Ich hass die halt. Ich kann das nicht mitansehen. Wir spulen ein paar Minuten vor, wo die ganze Gang bei Wink feiert und Alex pseudo-verführerisch rumtanzt bis die Szene von einem nicht ganz unbedeutenden Detail unterbrochen wird, das vielleicht nicht jedem aufgefallen ist (obwohl der Film zugegebenermaßen nicht sehr deep und die Mindfuck-Moment rar gesät sind). Der etwas einfältige Cheddar Bob unterhält sich mit einem Mädchen über die Leadez of the Freeworld, mit denen sie befreundet zu sein scheint. Eminem hört bei der Unterhaltung, wie das Mädchen erzählt, dass Papa Doc Clarence heißt und auf die Cranbrook Privatschule gegangen ist—wichtige Information, die ihm bei seinem finalen Battle gegen Papa Doc noch hilfreich sein würde.

Überhaupt ist Cheddar Bobs Charakter nicht zu unterschätzen. Während viele ihn nur als den dusseligen Typen, der sich selbst ins Bein schießt, wahrnehmen, ist Cheddar Bob tatsächlich essentiell für Eminems Erfolg beim finalen Battle verantwortlich. Nicht nur versorgt er ihn mit der peinlichen Info über Papa Docs wahre Identität, sondern bringt B Rabbit mit seiner Frage, ob er Angst vor dem Battle habe, weil Papa Doc so viel über ihn weiß, auch auf die Idee, all seine Schwächen selbst aufzuzählen, um Papa Doc keine Angriffsfläche zu bieten. Eine Methode, die bis heute bei Rapbattes als der B-Rabbit-Move in die Geschichte eingegangen ist (behaupte ich zumindest).

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Womit wir bei der ultimativen Schlüsselszene angekommen wären: das finale Battle. Natürlich passiert in der Zwischenzeit noch ganz viel: Eminem wird verhauen (Heulkrampf), Wink bumst Alex (Triumph und Zorn), Eminem fliegt Zuhause raus und haut sich schon wieder, diesmal mit seinem Stiefvater Greg (Erkenntnis: Gewalt übt eine fragwürdige Anziehung auf mich aus). Aber wenn das hier keine Hausarbeit werden soll, muss man auch mal die ein andere Szene überspringen.

Also, das finale Battle. Oh the Glory! High Five an tausend Engel in Gottes ewigem Himmelreich! Was für ein Ende, was für Reime, was für ein großartiges blaues Auge! Erstes Highlight: Eminems nackter Hintern (und Proof, der im Publikum über die Eminems Zeile, sein Gegner sähe aus wie „Ein Wurm mit Zöpfen" lacht. Ach Proof, wir vermissen dich). Es steht natürlich außer Frage, dass das letzte Battle gegen Papa Doc aus jeglicher Sicht unübertroffen ist. Aber mein persönliches Lieblingsbattle war eigentlich immer das zweite gegen Lotto. Allein schon wegen Eminems Zeile, Lottos Unterhemd würde schreien, dass es ihm nicht passt.

Falls es jemanden interessiert, wie die Battlepartner ausgewählt wurden: Es gab ein Casting, bei dem Eminem eigentlich nur so tun sollte, als würde er ebenfalls battlen, damit nachdem die endgültigen Rapper gecasted worden waren, Eminems Parts nur noch eingefügt werden müssten. Nachdem die Crowd aber über die Parts der „Casting-Battlepartner" lachte, begann Eminem einfach mitzufreestylen. Die Parts, die es nicht in den finalen Film geschafft haben, waren als Bonusmaterial auf der DVD zu sehen (welche ich mir natürlich direkt im WOM gekauft hatte). Aber fühlt euch glücklich: Hier ist ein YouTube-Link:

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Aber gut, kommen wir zum Battle aller Battles. Der befriedigendsten Filmszene der Welt. Allein über das Battle gegen Papa Doc könnte eine Doc-torarbeit geschrieben werden. Wo soll ich anfangen? Vermutlich mit dem cleveren Move, mit dem Eminem die Crowd, die eindeutig gegen ihn ist, dennoch auf seine Seite zu ziehen, indem er sie zum allgemeinen HipHop-Gruß animiert. Wer kann sich da schon verweigern? Vor allem, wenn das Cypher-Instrumental aller Cypher-Instrumentals läuft (Zur Erinnerung: „Shook Ones Pt. ll"). Ich habe jedenfalls meine Hände oben. Diesen Absatz musste ich komplett über dem Kopf tippen.

Und dann beginnt das, was sich jeder Mensch in seinen kühnsten Fantasien unter der Dusche ausmalt: Auf den Erzfeind zu treffen und nicht erst fünf Minuten später auf die perfekte Antwort zu kommen, sondern genau im perfekten Moment. Obwohl das Battle natürlich gespickt ist mit Bars Bars Bars, verhelfen Eminem, beziehungsweise B Rabbit, am Ende nicht seine Skills, sein Flow oder seine „Shook Ones"-Referenz („There ain't such things as halfway crooks") zum Sieg, nein, was Eminem am Ende triumphieren lässt, ist die schärfste Waffe der Welt: die Wahrheit. Die Wahrheit über sich selbst, die er als vermeintliche Schwäche zu einer Stärke ins Gegenteil verkehrt und die Wahrheit über seinen überlegenen Gegner: dass dieser tatsächlich ein „Halfway Crook", ein pseudo-Gangster, ist, der eigentlich aus guten Verhältnissen kommt. Ingeborg Bachmann hatte wohl doch nicht ganz Recht. Die Wahrheit ist nicht jedem zuzumuten. Zumindest nicht Papa Doc. Der choked und spannt so den perfekten Bogen zur Anfangsszene, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

Aber euch ist die Wahrheit aber definitiv zuzumuten: 8 Mile ist immer noch einer der besten HipHop-Filme aller Zeiten. Ihr könnt die Hände jetzt wieder runter nehmen.

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