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Interviews

Fachsimpeln mit Suicidal Tendencies über Merchandise und Punkrock-Style

"Wir kannten damals das Wort Merchandise gar nicht" – Suicidal Tendencies-Sänger Mike Muir und der Einfluss seiner Band auf eine Industrie.

Alle Fotos: Vincent Grundke

Astra Kulturhaus, Berlin. Hardcore-Tour mit den Szene-Walls Of Jericho, Agnostic Front und Suicidal Tendencies. Unruhe, die fast schon zu schmecken ist. Ein pappiger, nervöser Film aus Unbehagen und Staunen zieht sich über die Zungenpapillen. Hier sind sie, Hardcore-Kids aus drei Generationen. Hibbeln mit ihren Sneakers von Stelle zu Stelle. Bandana oder breites Cap, Schirm nach oben geklappt, Jersey Shirt, lockere Basketball-Hose. Und überall dieses kantigen Suicidal Tendencies-Logo. Was auf der Straße wie wild zusammengewürfelte Trash Art oder Kinderkunst aussieht, ist für die Bekleideten Statement, Zugehörigkeit und Leidenschaft. Mit sichtlichem Stolz erfüllt hoppeln sie vor die Bühne, werfen sich breit grinsend in den ungehemmt nach allen Seiten ausbrechenden Pit.

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Wegen der hohen Sicherheitsbestimmungen, die seit der chronisch drohenden Terror-Gefahr aufgestockt wurden, gibt es mittlerweile in jedem noch so kleinen Klub Fotogräben. Aber nicht heute im Astra. Zehn Sekunden durch die ersten Reihen gekämpft und schon beschlägt die Kameralinse mit einem Schweißfilm. Über die Fotografen fallen in einer Tour Stagediver, ich werde mit voller Wucht an die Bühnenkante gepresst. Ein Wahnsinnsgefühl. Hier wird ein Ritual abgefeiert, ständig fliegen Menschen in alle Richtungen, verausgaben sich in Windmühlenbewegungen ihrer Gliedmaßen. Live ausgetragene Leidenschaft, ohne Kompromisse. So heftig wie auf der Bühne: Bei Walls Of Jericho rennt die muskelbepackte Sängerin Candace Puopolo wie ein Tiger auf Beutezug von links nach rechts, tickt für Momente immer wieder aus und stampft mit voller Wucht auf den Boden. Ihre roten Haare peitschen blitzschnell durch die Luft. Erstmal die offene Kinnlade wieder schließen und sich am Merchstand umsehen.

Während die New York Hardcore-Legende Agnostic Front vier Shirt-Motive, zwei Girlies, ein Pullover, ein Cap und zwei Flaggen anbietet, trumpfen Suicidal Tendencies etwas dicker auf: Neun Shirts, drei Jersey-Motive, ein Longsleeve, zwei Pullis, ein Beanie, ein Bandana und zehn (!) verschiedene Caps. Der Bestseller. Überall Blitze, Pentagramme, Teufel, Totenköpfe, Skelette. Selbst auf den Shirts haben die Klappergestelle ihre Band-eigenen Flip Up Hats auf. Es ist nun über 30 Jahre her, da haben Suicidal Tendencies der Szene einen Stempel aufgesetzt. Aus der Band wurde eine Marke, aus der Marke Merchandise. Mittlerweile leben Bands im Metal und Hardcore größtenteils von ihren Merch-Verkäufen. Also haben wir uns mit dem Sänger Mike Muir über den Skater-Look und Merchandise-Kult im Hardcore unterhalten:

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Noisey: Kannst du dich an das erste Mal erinnern, als du Leute in Suicidal Tendencies-Merch gesehen hast?
Mike: Am Anfang haben wir die Sachen selbst gedruckt. Ein Freund war Künstler, er hat die handgezeichnet, auch das erste Cover. Als wir jung waren, sind die Leute zu Shows gegangen und mit Jersey Shirts von genau diesem Konzert wiedergekommen. Wir wussten genau, wo sie letzte Nacht waren. "Yeah man! Ich war da, es war großartig, ich war so betrunken, ich erinnere mich an gar nichts!" Alle anderen sahen mit sowas ähnlich aus. Aber als Suicidal maßgefertigte, handgezeichnete Shirts verkauften – wir hatten Haufen davon – waren das unser Shirts, unser Statement.

Was hat dir das bedeutet?
Auf unserem ersten Album-Cover sind viele Shirts von Fans, die uns falsch geschrieben haben oder die wirklich schlecht gezeichnet waren. Wir wollten klarstellen: Du musst kein Künstler sein, um eine Band zu mögen. Wenn du dich mit etwas identifizierst und dafür etwas anziehst, dann weil du fühlst, dass du ein Teil davon bist. Daher stammt die ganze Merchandise-Sache, wir kannten damals das Wort Merchandise gar nicht. Wir wollten das nicht für andere Leute tragen, sondern für uns selbst.

Viele andere, die mehr Musik gemacht haben, wollten billiges Zeug schnell raushauen, Fließbandarbeit. Wir wollten Zeug kreieren, das wir tragen, das wir cool finden. Ich erinnere mich an so viele Male, wo wir in Venues gespielt haben und unsere Hats mitbrachten. Niemand trug Hats auf der Welt damals!

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Also hat die Kappen damals keiner gekauft?
Andere Bands ja, die hatten schon Hats auf. Bevor wir aber die Flip Up Hats hatten, hat man das auf keiner Show gesehen. Für Sachen, wo wir keine Bezugsquelle finden konnten - wie die Basketball- oder Football-Jersey Shirts, da haben wir das Material gekauft, es zerschnitten und so gemacht, wie es uns passt. Wir haben das Venice-Size genannt haha. Anderthalb Größen größer also, haha.

Wie war die "Szene" damals in Venice Beach? Wie sahen die Leute aus und wie habt ihr dagegen ausgesehen?
Die Leute in Venice sahen aus wie wir, als wir zur Schule gegangen sind. Überhaupt nicht von Musik beeinflusst. Genau wie mein Vater - ich habe da noch Bilder von, wie er in Oakland aufgewachsen ist. Zugeknöpfte Hemden, die Khakis und Dickies und all das. Dickies war damals in den Staaten Kleidung für arme Leute. Lustig, dass man sagt, Mode nimmt die Kleidung der Unterschicht, macht sie schlechter und verlangt mehr Geld dafür. Wenn die Leute also Arbeitskleidung kaufen wollten – das konnten sie nicht jeden Monat – wollten sie sicher sein, das die auch hält. Die Dickies waren gut! Als Bands anfingen, Kleidung zu verkaufen, haben sie die billige aus Indonesien genommen, die kratzt. Wir haben lieber Dickies bestellt und Zoll bezahlt. Wir argumentierten zwar, dass das zu viel Geld kostet, aber heute sehen wir Leute, die ihr Shirt vor 20 Jahren gekauft haben und das immer noch in gutem Zustand ist. [Der Träger] erinnert sich daran und Freunde von ihm sehen das. Andere Shirts hängen jetzt an einer Seite, das Design blättert ab. Unsere einfache Philosophie war eben: Wir machen Sachen, die wir auch selber tragen.

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Also habt ihr nicht aus kommerziellem Sinne hochwertige Shirts ausgesucht, sondern allein wegen der Qualität?
Das Ding mit Suicidal ist wie Superman, haha. Wenn er sein Superman-Shirt anzieht, wird es Teil von ihm. Man zieht Suicidal an und es repräsentiert etwas für andere Leute.

War das seltsam oder einschüchternd, als die Fans euren Stil kopiert haben, plötzlich so aussahen wie du mit Bandana?
Nicht wirklich. Menschen identifizieren sich damit und fühlen sich stark. Ein schönes Gefühl. In Indonesien gibt es eine Flut an Fans, die durch Bootlegs entstanden sind. Selbst wenn sie nicht so gut Englisch sprechen, ist es wichtig, dass sie ausdrücken, was diese Band für sie bedeutet. Als wir anfingen, sahen für mich die Leute, die zu Punk-Rock-Konzerten gingen, aus wie zu Halloween verkleidet. So gingen sie aber nicht zur Schule! Suicidal war ein Weg, so auch zur Schule zu gehen und abzuhängen. Seine Uniform in das zu verändern, an das man geglaubt hat.

Wurdest du mit deinem Bandana auch belächelt?
Als wir zum ersten Mal nach Europa, England kamen, riefen die Leute im Akzent: "Oh schaut, es ist ein Pirat!" Ich geriet in so viele Prügeleien und Streits: "Ich werde deinen verdammten Arsch zusammentreten!" Haha. "Warum musst du gewalttätig werden?" - "Warum musst du dumm werden?"- "Das ist doch nur, weil du so aussiehst."- "Schau in deinen verdammten Spiegel, Alter! Schau dich mal an." Als ich vom Hotel nur drei Blocks gelaufen bin, haben mich höllisch viele Leute angequatscht. Ich dachte: Was zur Hölle ist falsch mit diesen Menschen? Sie mussten einfach ihre Kommentare machen. Wo ich herkomme, lässt man Leute so sein, wie sie sind. An der Westküste bin ich mit der New-York-Attitüde rumgerannt. Als ich mit 16 zum ersten Mal in NY war, habe ich was gelernt: Ich dachte, die Leute wären nur so tough der Konfrontation halber. Dabei war es ein Statement. "Ich bin von hier, leg dich nicht mit mir an."

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Es gibt so viele Bands, die durch verschiedene Stadien gegangen sind – Glam Rock … Wie kommt es, dass es bei Suicidal keine solchen Bilder gibt? Weil wir uns nie so angezogen haben, haha. Um solche Phasen haben wir uns nie geschert. Mir wurde so oft gesagt, als die Punk-Bands groß waren: "Mike, du bist echt gut, aber du wirst es nie schaffen, wenn du so aussiehst. Du musst dich mehr Punk anziehen." Und ich so: "Hey, warte mal. Du redest davon, als Punk individuell zu sein und dann sagst du, ich soll mich so und so wie du anziehen, mir Lidschatten über die Augen schmieren?" Das ist nicht das, was wir tun. Wir haben viel von den jungen Skatern übernommen – Buttom-up-Shirts. Ich hatte das Glück, dass mein Bruder Pro-Skateboarder war. Als ich mit ihm zu Skate-Contests gegangen bin und sie dort Suicidal gespielt haben, das hat mir echt viel bedeutet. Letztes Jahr sind wir in die Skateboard-Hall Of Fame aufgenommen worden, das war eine riesen Sache.

Haben sich eure Designs über all die Jahre verändert?
Wir haben mit recht einfachen Motiven angefangen. Wir mussten sie aber bald abändern, weil die Leute das nachgemacht haben. Zeit verstrich, dann haben wir Anfang der 90er für Guns N' Roses den Support gemacht und die Leute attackierten uns und fragten: "Warum wollt ihr so aussehen wie Axl Rose?" Haha. Tjaaaa, so habe ich mich schon immer angezogen? Wir haben einen Core-Look und sind davon nie groß abgewichen.

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Was ist euer Bestseller: die Caps?
Auf jeden Fall die Bandanas und Caps. Wir haben davon so unglaublich viele verkauft. Da waren auch viele Shirts, die wir über die Jahre verkauft haben. Wir machen immer spezielle für die Touren. Eins der ältesten war wahrscheinlich das von Lance Mountain, dem Pro-Skater, der heute auch in der Skateboard-Hall of Fame ist. Wir verkaufen das noch. Oder das "Possessed", das wir als erstes handgezeichnet haben. Dann wollten es mehr Leute und wir konnten nicht alle Shirts so bemalen. Es war eins der ersten Shirts, die wir dann gedruckt haben.

Inwiefern hat sich das Online-Geschäft auf eure Merch-Verkäufe ausgewirkt?
Wir haben das schon immer so ähnlich gemacht, schau einfach in die alten Thrasher-Magazine Anfang der 80er. Heute gehen die Leute eben ins Internet und suchen sich da ihre Informationen. Das ist ein großer Teil unserer Arbeit, dort testen wir Vieles aus. Es ist ein Weg, direkter zu sein. Wir haben jetzt ST-Tattoo gegründet, zu dem Leute aus aller Welt kommen. Sie hätten ihr Tattoo überall stechen lassen können, aber machen es in Venice. Manchmal mögen es Menschen eben direkter.

Joaquin (26) ist mit 13 Jahren zu Punk gekommen. Gerade macht er sein kaputtes Knie lang, dass er sich beim letzten The Exploited-Konzert aufschnitt. Kurze Story: Moshpit, umfallen, zerbrochene Flaschen. Seit zwei Monaten kann er nicht arbeiten.

Ju (37, l.) fing mit 11 an, Hardcore zu hören. Und Scam (48, r.) erst mit 30. Dafür umso intensiver. Wenn sie nicht die Liebe zu ST ausleben können und rotzevoll sind, dann tanzen sie auch zu Electronic Music.

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Seit Charly (20, l.) 15 Jahre ist, hört sie Suicidal Tendencies. Ihr erstes Konzert war zusammen mit Papa Kalle (57) vor fünf Jahren – bei Sucidial. Kalle ist schon seit 1989 am Ball, war Skate-Punk. Er freut sich, dass es mit der Szene wieder bergauf geht, auch wenn Suicidal Tendencies keine Megastars mehr sind wie in den 80ern.

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