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Türkische Protestmusik gegen Erdoğan

Hey Erdoğan, die Musiker des türkischen Widerstandes fressen dein Pfeffergas zum Frühstück.

Auch wenn der Medienrummel hierzulande längst abgeklungen ist, gehen die Demonstrationen gegen die Kastration der Demokratie in der Türkei weiter. Was als friedlicher Widerstand gegen die Zerstörung des Taksim Gezi Parks begann, ist mittlerweile zu einem nationalen Protest gewachsen, der sein Ventil auch in der neugewonnenen musikalischen Kreativität wiederfindet.

Die Protestmusik spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle und schöpft aus einer langen anatolischen Tradition. Sie kann bis in die vorislamische Zeit zu den mystischen Aşık Minnesängern zurückverfolgt werden, die ihre Wurzeln im Schamanismus haben. Damals wie heute galten türkische Musiker als Verfechter der Wahrheit. Was heute wirklich innovativ an der Form der Proteste ist, kann direkt auf das Internet und die Viralität der Meme-Kultur zurückverfolgt werden, daher sind die sozialen Medien Erdoğan auch so ein Dorn im Auge. Der Protest der Musiker wird vom Volk unterstützt und dafür werden sie auch hoch angesehen. Je mehr Wind Erdoğan daher sät, umso mehr Sturm erntet er dafür.

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Die Musik als kreativer Ausdruck des Protests erlangte schon einmal einen Höhepunkt während der 68er Bewegung in der Türkei, bei der sich die Musiker auch schon nichts von der repressiven Regierung gefallen ließen. Sie widersetzten sich einfach schöpferisch gegen den Staat, indem sie die subventionierte türkische Volksmusik nahmen und mit westlichen Prog-, Psych- und Funk-Einflüssen vermischten und subversive Texte einbauten. Dabei ist das Genre des „Anadolu Rocks" entstanden, welches stark von Bands wie Cem Karaca und Moğollar geprägt wurde.

Die türkische Protestmusik erlebt aber auch dank der Hipsterbars in Neukölln und in Dalston gerade wieder ein ganz schönes Revival. Wo gestern noch zu Trap getanzt wurde, laufen heute türkische Klassiker. Plattenfreaks wie Barış K sammeln die Raritäten aus Vinyl schon seit langem auf den Istanbuler Flohmärkten und spätestens seit Labels wie Finders Keepers und Sublime Frequencies Künstler wie Selda Bağcan und Erkin Koray nachgepresst haben, ist die Musik auch wieder auf den Plattentellern von westlichen Radio-DJs gelandet.

Direkte Einflüsse dieses Genres und der Fusion von Orient und Okzident kann man heute noch an Bands wie Baba Zula sehen, die auch bei den aktuellen Protesten mit am Start waren.

Vor allem die jungen Musiker, wie die der Avant-Rock-Band Replikas und dem weiblichen Elektro-Duo Kim Ki O, waren von der ersten Stunde an mit dabei und haben sowohl an der Frontline, als auch mit ihrer Musik gegen die brutale Polizeigewalt gekämpft. Viele wie sie fühlten sich in den letzten Jahren kreativ immer weiter von der kulturell regressiven Regierung der AKP in die Ecke gedrängt und beschrieben die Stimmung ihrer Musik als stark von dem sozialen und politischen Klima im Lande gedrückt.

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Serhat Köksal, der unter dem Künstlernamen 2/5BZ auftritt und politische Multimedia-Collagen macht, brach sich sogar beide Arme, als er bei der ersten Razzia auf den Gezi Park bei der Flucht vor der Polizei in einen zusammenbrechenden Baugraben stürzte.

Der Leadsänger der Siya Siyabend, Bizon Murat, der als türkischer Tom Waits der Straße bekannt ist, beschrieb die dramatische Lage zuletzt als ein „Blutvergießen des Volkes".

Reaktionär dazu haben viele Musiker gleich ganze Stücke der Bewegung gewidmet, um ihren Support zu zeigen. Die türkische Folk-Grunge Band Duman hat ein Video gemacht, in dem sie den massiven Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern verarscht.

Auch der mittlerweile in Istanbul lebende Kreuzberger Rapper Fuat Ergin, der bei Staigers Royal Bunker mit M.O.R. bekannt wurde, zeigte seinen Support, indem er den islamistischen Rauptierkapitalismus Erdoğans in seinem Song disst.

Das Istanbuler Free-Jazz Quartett konstruKt nahm einen kurzen, aber dafür umso wilderen Track auf, der vom eklektischen und revolutionären Temparament des Gezi Parks inspiriert wurde.

Es wurde sogar ein neues Genre namens Halkstep deklariert, was eine Mischung aus Halkmüzigi (türk. Volksmusik) und Dubstep ist, seine Wurzeln tief in der Geschichte der türkischen Protestmusik verbirgt und ebenfalls geschickt politische Repliken subvertiert.

Zuletzt brachten einige der oben genannten Musiker zusammen mit heranwachsenden Künstlern eine Compilation unter dem Hashtag #Direnmuzik heraus, was soviel heißt wie „Halte durch, Musik" und ein Anlehnung an #DirenGeziParki (Halte durch, Gezi Park) ist.

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Der Reggae-Künstler Toussaint the Liberator hat extra ein Cover von „Chase The Devil" aufgenommen, in dem er Tayyip Erdoğan des Besseren belehrt, nachdem dieser sich selbst und seine Anhänger als „Schwarze" und somit ironischerweise als Unterdrückte bezeichnet hat.

Kurz zuvor hatte der deutsche Klavierkünstler Davide Martello seinen Flügel mitten auf den Taksim Platz aufgestellt, um die Demonstranten musikalisch zu unterstützen. In der Nacht wurden schwerste Ausschreitungen erwartet, doch die Polizei hielt sich zurück und schloss sich dem magischen Spontankonzert an. Das Video ging um die Welt.

Die musikalische Kreativität des aktuellen Widerstandes ist aber auch stark von der Meme-Kultur des Internets geprägt, was bei der jungen türkischen Demographie kein Wunder ist. So werden kurzerhand autoritäre Symbole und Repliken gehijacked, musikalisch subvertiert und viral über soziale Medien verbreitet. Als Erdoğan die Demonstranten anfangs als „Plünderer" (Çapulcu) abstempelte, wurde der Begriff schnell zum Neologismus erklärt und die Hymne „Everyday I'm Çapuling" dazu erfunden.

Solange die türkische Regierung auch weiterhin versucht, das Volk zu spalten und die sogenannten „marginalen Gruppen" mit Polizeigewalt zu unterdrücken, wird auch der musikalische Protest immer weiter angefeuert, so wie wir es auch aus der Vergangenheit kennen. In diesem Sinne, „Biber gazı oley" oder eben Pfeffergas, hurra!

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