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Wie sich das Fortgehen junger Türken unter Erdogan verändert hat

Selbstmordanschläge, Tränengas-Granaten, Schlägertruppen. Junge Türken lassen sich davon nicht unterkriegen.

Fotos mit freundlicher Genehmigung. Die Quellen wollen anonym bleiben.

Ich bin im fünften Bezirk in Wien aufgewachsen. Türkinnen und Türken sind da allgegenwärtig. Ich habe mit ihnen im Haydngymnasium meine Schuljause getauscht, im Bacherpark Fußball gespielt und war in das eine oder andere türkische Mädchen verknallt. Sie sind nach wie vor ein Teil meines Lebens. Deshalb geht es mir auch nahe, wenn etwas in der Türkei passiert—sei es ein Erdbeben, die Gezi Park-Proteste oder eben der Militärputsch letzte Woche.

Ich bin ein großer Befürworter der EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei gewesen. Auch wenn es kulturelle Differenzen gibt, meine Kindheit hat mir gezeigt, dass das im gemeinsamen Leben keine große Rolle spielen muss. Mit Argwohn habe ich deshalb die politischen Entwicklungen der letzten Jahre in der Türkei verfolgt. Meine türkischen Bekannten und Freunde sind gemeinsam mit mir tief enttäuscht gewesen, als Erdoğan Präsident geworden ist. Sein konservatives Weltbild ist nicht das, was wir uns für die Türkei gewünscht hätten.

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Demonstration in Istanbul zum Weltfrauentag

Istanbul ist bei uns nicht nur deshalb so beliebt, weil es eine schöne Stadt ist, sondern auch, weil wir unsere Wertvorstellungen mit denen der dortigen, jungen Bevölkerung identifizieren können. Viele von uns waren schon mal in Istanbul und haben Bier in Beyoğlu im Schanigarten einer Bobo-Bar getrunken. Nach Taksim sind wir dann vielleicht in die nächste Bar gezogen oder in einen der zahlreichen Clubs gegangen. Die jungen Leute dort sind nicht viel anders als die in Wien, Berlin oder einer anderen europäischen Großstadt.

Mit dem steigenden Erfolg der muslimisch-konservativen Partei AKP übernahm auch Recep Tayyip Erdoğan eine politische Spitzenposition nach der anderen. Zuerst Ministerpräsident, der die Gezi-Park-Proteste brutal niederschlagen ließ, jetzt ein zunehmend despotisch amtierender Präsident. Ironischerweise begann er seinen politischen Aufstieg in den 90er-Jahren im so freizügigen Istanbul als Oberbürgermeister.

Die Dachterassen Istanbuls gehören zu den beliebtesten Partyorten

Özge ist 26 Jahre alt und in Istanbul aufgewachsen, zog für einige Jahre nach Österreich und lebt derzeit in Deutschland. Sie ist in ihrer Jugend vor allem mit der Punk-, Metal- und Harcore-Szene abgehangen. Sie hat in einer Band selbst Musik gemacht und in den zahlreichen Bars am Wochenende ihre Konzerte gespielt. "Wir haben die Konzerttickets zum Beispiel auf der Straße in der Istiklal Caddesi verkauft. Die Leute waren freundlich und Manche haben dann auch eins gekauft und sind am Abend zu uns gekommen."

Sie war 14, als sie anfing, vor allem im Stadtteil Kadıköy auszugehen. Als unter 18-Jährige Alkohol zu bekommen, war genau so schwierig wie hierzulande. Gesetzlich war es nicht erlaubt, aber irgendwie kam man schon an sein Bier in der Bar oder im Supermarkt. Mit 18 ging Özge vor allem in Clubs wie Indigo, Babylon oder Godet. Sie erinnert sich noch gerne an Nächte mit DJ Hell, Chicks On Speed oder Miss Kittin. "Das Nachtleben war dem in Europa sehr ähnlich. Jetzt ist der Alkohol in Istanbul extrem teuer und die Straßen sind viel unsicherer geworden. Du wirst als Frau dauernd angesprochen und belästigt. Es ist mittlerweile nicht mehr sicher, als Frau nach Mitternacht alleine auf der Straße zu sein. Als ich bei meinem Istanbul-Aufenthalt im Sommer 2012 zu Acid Pauli in die Mini Muzikhol gegangen bin, hat mich ein Mann an den Armen gepackt und wollte mich in sein Auto zerren. Das wäre früher in der Gegend nie passiert."

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Omar Souleyman von Hyperdub im Babylon Bomonti

Yasemine hat ihre Abende lieber in den vielen Bars verbracht. Sie ist 25 Jahre alt, in Istanbul groß geworden und lebt seit fünf Jahren in Österreich. Hier arbeitet sie in einem Club, in ihrer Heimat konnte sie damit aber nicht viel anfangen. "Das ist in Istanbul mehr ein Statussymbol. Die Getränke sind dort teuer und du brauchst schicke Kleidung." Yasemine hat die Zeit mit ihren Freunden lieber in Taksim verbracht. Für seine aufgeschlossenen Leute und die zahlreichen Lokale war der Stadtteil auch bei Touristen bekannt.

Die Straßen von Taksim sind heute aber nicht mehr so lebendig wie noch vor einigen Jahren. "Taksim ist tot! Man darf draußen nichts mehr trinken. Die Lokale haben ihre Tische weggeräumt." Yasemine erzählt von ihren Freunden, die lieber zuhause trinken und sich vor den teilweise bewaffneten Erdoğan-Anhängern fürchten, die ein Zuwiderhandeln sogar mit Prügel bestrafen.

Nachdem vor allem der damalige Ministerpräsident Erdoğan die Anti-Alkohol-Gesetze vorangetrieben hat, wurden diese dann im September 2013 im türkischen Parlament verabschiedet. Seitdem zahlt man eine Alkoholsteuer von mehr als 60 Prozent. Auf öffentlichen Plätzen und in Parks ist es verboten, Alkohol zu konsumieren. Lokalen wird der Betrieb mit Auflagen und Abgaben schwergemacht. Ein kleines Bier bekommt man in den Bars, die noch Alkohol ausschenken dürfen, nicht unter umgerechnet 4 Euro. In den Clubs zahlt man sogar noch mehr.

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Michael ist aus Österreich und kurz nach dem Putschversuch aus Istanbul zurückgekehrt. Er ist für ein Jahr hingezogen, um zu studieren. Ihm fiel es schwer, seine Freunde zurückzulassen und er ist tief besorgt über ihr weiteres Schicksal. Er erlebte neben dem Militärputsch letzte Woche auch den Selbstmordanschlag auf der Istiklal Caddesi im März und die gewaltsam aufgelöste Demonstration, nachdem ein Plattenladen von islamistischen Männern gestürmt wurde. Fans hatten sich anlässlich des Radiohead-Album-Releases während des Ramadans im Geschäft versammelt und Bier getrunken. "Wir wollten am nächsten Tag friedlich für unsere Rechte demonstrieren. Die Polizei löste das Ganze sofort auf. Ich habe die volle Ladung Tränengas abbekommen." Michael konnte mit seinen Freunden am Ende nur weglaufen.

Nach den Gezi-Protesten werden Demonstrationen immer weniger geduldet. Selbst wenn man im Gezi-Park picknicken will, ist die Polizei sofort zur Stelle. Es gibt keine Möglichkeit, dass sich Leute in der Öffentlichkeit versammeln oder vernetzen können. "Die jungen Leute leben ihr Leben weiter. Aber sie sind sehr pessimistisch geworden. Auch wenn sie müde und ausgelaugt sind vom Kampf der letzten Jahre, hoffnungslos sind sie trotzdem nicht. Sie helfen sich gegenseitig." Die Feierlaune in der Stadt ist trotzdem noch groß, erzählt Michael von seinen nächtlichen Umzügen. "Trotz der depressiven und melancholischen Stimmung, feiern sie extrem. Sie tanzen und singen gerne, ob in Clubs oder im Privaten." In seinem Umkreis nahm kaum jemand harte Drogen. "Das haben sie zum Feiern rgendwie nicht nötig. Dafür kiffen sie gerne. Das Gras ist aber mies." Michael macht einen genussvollen Schluck von seinem Bier. "Das Bier dort ist auch nicht wirklich gut" erzählt er und lacht.

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Vom Radiohead-Hören zu Tränengaswolken.

Bevor Burhan die Türkei vor zwei Jahren Richtung Frankreich verließ, war er jedes Wochenende in den Clubs und Bars von Istanbul, Ankara oder Izmir vor allem in der Queer-Party-Szene unterwegs. Er fährt immer wieder in seine Heimat zurück und schwärmt nach wie vor vom dortigen Nachtleben. Von Partys im Suma Beach oder im mittlerweile geschlossenen Wake Up Call. "Das Nachtleben und die Konzerte sind die wichtigsten Dinge für uns, damit wir uns wieder etwas besser fühlen und die Situation um uns herum vergessen können. Wir fürchten uns vor allem vor Terroranschlägen, aber das Feiern gibt uns Hoffnung. Wir feiern bis fünf oder sechs Uhr im Club und dann ziehen wir zu irgendeiner Afterhour weiter und machen dann manchmal tagelang durch. Die Leute sind auf der Tanzfläche so unglaublich emotional und innig miteinander."

Burhan entschied sich trotz seiner großen Verbundenheit zu Istanbul, die Stadt zu verlassen. Die politische Lage und die sich radikalisierende Gesellschaft wurde ihm zu viel. "Ich liebe dieses Land, aber die Leute sind so intolerant geworden. Diskriminierungen und Angriffe gegenüber Andersdenkenden sind zum Alltag geworden."

Ich habe mir wesentlich mehr Verzweiflung und Trauer bei den Gesprächen mit diesen jungen Türkinnen und Türken erwartet. Danach bin ich aber umso überraschter, wieviel Kraft und Lebensfreude sie trotz ihrer unsicheren Zukunft behalten haben. Sie scheinen sich nicht vom Feiern, Kunst schaffen, Demonstrieren oder Studieren abbringen zu lassen. Michael war vom Kampfgeist der Jungen ebenfalls begeistert: "Bei der LGBT-Demo im Juni habe ich vor allem Schüler gesehen, die für ihre Ideale einstehen wollten."

Die politische Situation in der Türkei sieht derzeit jedenfalls sehr düster aus. Wenn sich die Politiker im Parlament regelmäßig prügeln, dann ist nicht nur deshalb das Demokratieverständnis eines Landes fraglich. Umso stärker scheint jedoch der Zusammenhalt unter den Menschen in der Türkei zu sein. Dagegen kommt auch ein Erdoğan nur schwer an.

Alle Namen wurden geändert und Ortsbezeichnungen so weit wie möglich vermieden. Im Laufe der Gespräche und Vorfälle in der Türkei wurde uns klar, dass dadurch sowohl die Gesprächspartner als auch ihre Familien und Freunde vor Ort möglicherweise in Gefahr geraten könnten.

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