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Interviews

Sind wir eigentlich Sexisten, Tommy Vercetti?

Welche Systematik steckt hinter dem Alltagssexismus und wie können wir jetzt damit beginnen uns und unser Denken davon zu befreien?

In unserer Reihe "Zmittag uf Skype" diskutieren Rapper Tommy Vercetti und unser Redaktor Uğur Gültekin einmal monatlich via Skype über Themen, zu denen aktuell in der Schweizer Gesellschaft diskutiert wird. Die beiden haben es sich dabei zum Ziel gesetzt, nicht nur die Debatte und das gewählte Thema an sich, sondern auch sich selbst kritisch zu reflektieren. Tommy Vercetti bezeichnet sich selbstironisch als "schöngeistigen Marxisten". Er stellt sich dieses Jahr zur Wahl als Stadtrat der Stadt Bern, wo er auf der Liste der PdA (Partei der Arbeit) klar linke Positionen einnimmt.

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Kurz nachdem die SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler anfang Oktober auf Telebärn sexuelle Übergriffe zu relativieren versuchte und davon sprach, dass in manchen Fällen auch die Opfer Mitschuld an einer Vergewaltigung hätten, hatte auch die Schweiz ihren Aufschrei. Unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei berichteten vor allem Frauen, aber auch einige Männer von ihren Erfahrungen mit Sexismus im schweizerischen Alltag.

Nachdem das Thema in den sozialen Medien und den Mainstream-Medien breit diskutiert wurde, forderten immer mehr Stimmen vor allem Männer auf, sich zu äussern und Stellung zu nehmen. Inzwischen ist die Diskussion ein wenig ins Stocken geraten.

Tommy Vercetti und ich haben versucht, uns dem Alltagssexismus in uns selbst und der Gesellschaft zu stellen. Wir haben uns vorgenommen, dabei vernichtend ehrlich zu sein. Auch zu uns selbst. Dabei haben wir festgestellt, dass wir als Männer vor allem Täter sind, aber nicht nur und dass eine übergeordnete Systematik hinter dem Sexismus des Alltags steckt. Wir sind der Frage nachgegangen, wie die Systeme Sexismus, Macht und Ökonomie miteinander interagieren oder Einfluss aufeinander nehmen und wie sich diese Interaktion in der gelebten Realität auswirkt.

Noisey: Ich habe Respekt vor diesem Gespräch. Ich glaube, wir haben als privilegierte Männer nicht nur sexistische Tendenzen in uns, wir agieren oft auch sexistisch. Sexismus bedeutet, dass die Hälfte der Menschheit die andere unterdrückt und ihnen nicht die gleichen Rechte zuspricht. Und ich möchte nicht Teil dieses Unterdrückungsapparats sein. Im Gegenteil! Fakt ist: Wir wurden schon früh zu soliden Sexisten konditioniert und erzogen.
Tommy Vercetti: Da würde ich dir vollkommen zustimmen, obwohl man das in verschiedener Hinsicht relativieren muss: Natürlich wurden und werden andere Jahrgänge in anderen Weltgegenden noch zu viel solideren Sexisten erzogen. Das hat ja auch einen frustrierenden Beigeschmack: Gerade nach dem Aufbruch in den 70ern hätte man anderes erwarten können. Zudem sollte man sich daraus nicht eine Entschuldigung basteln—aber es ist sicher feministischer Konsens: Wir werden schon als Sexisten sozialisiert.

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Im Gegensatz zu anderen praktischen Systemen, denen wir meiner Meinung nach stärker ausgeliefert sind, können wir uns aber vom Denksystem des Sexismus' einfacher loslösen—ohne dass es für uns gleich merkliche Konsequenzen hat. Ich meine damit: Uns vom Geldsystem loszulösen ist praktisch gesehen ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn wir keine Sexisten mehr sein wollen und uns von diesem Denksystem befreien möchten, hat dies weitaus weniger Konsequenzen, wenn wir denn bereit sind auf Privilegien zu verzichten.
Das finde ich eine schöne und auch ermutigende Feststellung. Zu ergänzen wäre: eben nicht nur die Männer, sondern eben gerade auch die Frauen werden zu "Sexisten", beziehungsweise im Patriarchat sozialisiert. Ich würde deshalb auch behaupten: Es ist vielleicht leichter, uns davon zu lösen, andererseits fällt es—zumindest uns Männern—auch viel weniger auf. Sexismus ist gerade deshalb eine Selbstverständlichkeit, weil er über das biologische Geschlecht so stark mit "Natur" und "Natürlichkeit" argumentieren kann. Weiter gilt dieses leichtere Lösen wahrscheinlich auch vor allem für uns junge und privilegierte Männer—viele werden sich sehr stark in dieser Ersatz-Machtposition eingerichtet haben, und können sich wahrscheinlich nicht mal selbst eine Suppe kochen. Die Konsequenzen könnten ökonomisch jedoch durchaus fatal sein, wenn die Frauen mal die Frage der Bezahlung hinsichtlich ihrer Haus- und Betreuungsarbeit stellen würden, beziehungsweise diese nicht mehr selbstverständlich verrichten. Aber ich gebe dir recht: im Kleinen würde uns der Anfang wahrscheinlich verhältnismässig leicht fallen.

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Ich habe damit begonnen auf meine Sprache zu achten. Und mir fällt der Sexismus im Alltag nun noch viel mehr auf. Aber man muss ja auch ziemlich blind sein, wenn man diesen nicht sehen will. Kurze Anekdote: Die Schwester einer meiner Freunde beschimpft ihren Partner im Streit als "weiche Pussy". Ich finde diese Beschimpfung ist eine ziemlich treffende Entlarvung, wie der Sexismus 2016 hier bei uns in der Schweiz auch funktioniert.
Gerade die Sprache ist vollkommen durchzogen von stereotypen Geschlechterbildern, bis tief in die alltägliche Konversation hinein—aber vor allem beim Fluchen. Das ist ja ein wiederkehrendes Thema der Kritik, was unsere Musik betrifft, und dies teilweise völlig zu Recht. Das Dilemma ist: Wenn es um bestimmte emotionale wie auch bedeutungsmässige Nuancen geht, dann ist sexistisches Fluchen fast unumgänglich. Und ich gebe zu: Ich tue mich sehr schwer damit. "Bitch" zum Beispiel ist so ein kraftvolles, soundmässig grossartiges Wort und hat gleichzeitig so ausdifferenzierte Bedeutungsebenen von Feigheit, Hinterhältigkeit, Verrat, das es dazu keinen Ersatz gibt. Und selbstverständlich ist es gleichzeitig hoch sexistisch, trägt quasi den ganzen patriarchalen Ballast seit Eva auf sich. Sehr ähnlich "Pussy", dass die weiche, passive Materie des weiblichen Geschlechts betont, im Gegensatz zum eisernen standfesten aktiven Phallus.

Ich finde "weiche Pussy" deswegen so entlarvend, weil in diesem speziellen Fall eine Frau einem Mann vorwirft, nicht dem Bild des starken Mannes zu entsprechen. Und sie tut das, indem sie ihn mit demals schwach und negativ konnotiertenweiblichen Geschlechtsorgan vergleicht. Runtergebrochen sagt sie "Du bist eine Frau"—und das gilt dann als Beleidigung oder Herabsetzung.
Das ist genau der Punkt, beide Geschlechter übernehmen diese Bilder und Stereotypen. Aber eine kurze—und vielleicht heikle—Anmerkung: Ich finde die momentane Fokussierung auf den sogenannten "Alltagssexismus" problematisch. Dieser ist meiner Meinung nach ein Ausdruck von fundamentalem Sexismus, der sich in handfesten Herrschaftsverhältnissen ausdrückt—eben zum Beispiel der Herabwürdigung und sklavenmässigen Ausbeutung sozialer Arbeit—und es besteht das Risiko, dass diese unbedingt zu überwindenden Verhältnisse vergessen werden zugunsten von mehr "Anstand" im Alltag.

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Der #SchweizerAufschrei—ohne Zweifel eine grossartige Aktion, an dieser Stelle grossen Dank an die Initiantinnen der Aktion—bestand zum Beispiel vor allem in Schilderungen von sexuellen Übergriffen: von leichten verbalen bis zu schwerem Missbrauch. Ich fände eine zweite Welle enorm wichtig, die zum Beispiel sagt: "Jeder meiner bisherigen Chefs war ein Mann." Oder: "Im Verwaltungsrat meiner Firma sitzen nur Männer." Oder: "Im unterbezahlten Altersheim meines Grossvaters arbeiten zu 90% Frauen."

Dann lass uns auf eine andere Ebene gehen. Weg vom "Alltagssexismus", der doch im Grunde genommen der Ausdruck des von dir angesprochenen "fundamentalen Sexismus" ist, oder? Du sprichst von einer übergeordneten Stufe—von strukturellem und systematischem Sexismus.
Genau. Ich glaube, es ist unglaublich wichtig, die Verschränkungen von Sexismus, Macht, Körperkontrolle und Ökonomie offenzulegen, ohne dabei in die Nebenwiderspruch-Argumentation zu verfallen: Also ohne damit zu sagen, der Sexismus sei nur eine Nebenerscheinung des Kapitalismus, die mit seiner Abschaffung auch verschwindet. Der Kapitalismus hat nämlich sehr viel beigetragen zur Befreiung der Frau, wie wir sie im späten 20. Jahrhundert erlebten. Vereinfacht ausgedrückt: Er braucht effiziente Produzenten und Konsumenten, das Geschlecht und die geschlechtliche Orientierung sind ihm dabei egal. Es stellt sich also die Frage: Warum hält sich der Sexismus trotzdem so verbissen, beziehungsweise erlebt sogar ein Wiedererstarken? Und das hat meiner Meinung nach tatsächlich ökonomische Gründe.

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Dass die Geschichte des vorherrschenden Wirtschaftssystems eine Geschichte ist, die exklusiv von Männern geschrieben wurde und deswegen als eine patriarchale bezeichnet werden muss, kann an dieser Stelle vorgeschoben werden. Wenn ein Gesellschaftssystem Hierarchien schaffen will, findet er im Sexismus eine vermeintlich natur- oder "gottgegebene" Unterscheidungsmöglichkeit und die erste Möglichkeit zur Klassifizierung von Menschen. Ich sehe eindeutige Parallelen zwischen Sexismus, Rassismus und Klassismus. Sie folgen ähnliche Mustern und sie dienen der Erhaltung von Macht und Herrschaftsverhältnissen. Kannst du kurz erläutern und konkret offenlegen, was du mit der Verschränkung von "Sexismus, Macht, Körperkontrolle und Ökonomie" konkret meinst—vor allem mit dem Begriff "Körperkontrolle"?
Ich müsste mir wahrscheinlich selbst mal gründlich darüber Gedanken machen. Aber grundsätzlich geht es darum: Bei Trennlinien wie Geschlecht, Rasse oder ähnlichem geht es ja grundsätzlich immer um Herrschaft und diese Herrschaft muss an handfeste Vorteile gebunden sein. Solche Vorteile sind am Ende ganz plump materialistisch, es geht um Verfügbarkeit: von Ressourcen, von Arbeit, und eben auch von Körpern, zum Beispiel in sexueller Hinsicht. Nun ist es zwischen gleichgestellten Menschen, sagen wir mal zwischen zwei weissen Männern von ungefähr gleicher Bildung, natürlich schwierig zu argumentieren, weshalb der eine sich aufgrund des anderen bereichern darf. Und da kommen solche Trennlinien wie gerufen—vor allem wenn sie sich noch an so etwas "Naturgegebenes" anbinden lassen wie Geschlecht oder Rasse.

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Und gerade jetzt, wo wir uns in einer globalen Finanzkrise befinden, in der das Kapital nicht mehr in die Produktion, sondern in die parasitären Finanzmärkte investiert wird und Millionen von Menschen schlicht überflüssig werden, ist es kein Zufall, dass solche Trennlinien wieder an Aktualität gewinnen. Momentan ist eine wunderschöne Doku namens "13th" auf Netflix zu sehen, die erklärt, wie der Rassismus als Argumentation dient, um sich eine Armee von billigen Arbeitern nach der Abschaffung der Sklaverei zu sichern.

Ich stehe der Aussage "Der Kapitalismus hat nämlich sehr viel zur Befreiung der Frau beitragen" sehr kritisch gegenüber. Der Kapitalismus hat doch vor allem Arbeitskräfte benötigt, die das System aufrecht erhalten. Er hat dadurch in der westlichen Gesellschaft dazu beigetragen, dass gewisse ökonomische Abhängigkeiten vom männlichen Geschlecht weggefallen sind. Das ist eine gute Entwicklung, das stimmt. Aber: Der real existierende Kapitalismus entlohnt die Arbeit in Familien, wie Hausarbeit, Kindererziehung und zum Beispiel das ehrenamtliche Betreuen und Versorgen von älteren Menschen nicht. Ausserdem hat er die Sexualität, den weiblichen Körper und die Weiblichkeit an sich zu einem Konsumgut gemacht und den systematischen Sexismus damit stark gefördert.
Natürlich ist der Kapitalismus eng mit dem Patriarchat verknüpft, sein ganzes Weltbild ist eigentlich ein patriarchales. Trotzdem hat er zahlreiche emanzipatorische Momente, die ja auch zum Beispiel Marx hinsichtlich des Bürgertums hervorhebt. Und ähnlich beförderte der Kapitalismus auch die Emanzipation der Frauen, insofern es ihm eben egal ist, ob eine Frau oder ein Mann arbeitet oder konsumiert ja, es kommt ihm sogar zu Gute, wenn auch die Frau arbeitet und konsumiert.

In welchen Situationen würdest du dich als sexistisch bezeichnen?
Wie gesagt: Ganz sicher mal in der Sprache, ich bin ein leidenschaftlicher und dann auch sexistischer Flucher—Bitch, Hurensohn, schwul, Pussy, das ganze Programm. Dann bin ich ein Pascha—ich lasse mich gerne verwöhnen oder meine Freundin (und früher meine Mutter) mal selbstverständlich die Küche oder das Bad machen, weil das für die halt "normal" ist. Ich merke, dass ich Männern gegenüber grösseren Respekt habe und sie ernster nehme, sagen wir mal in einem Autoritätsverhältnis, wie einer Lehr- oder Führungsperson gegenüber. Dann habe ich in meinen 20 Jahren sexueller Aktivität sicher einige Male ein "ich weiss nicht so recht" für ein Ja genommen oder eine Betrunkenheit ausgenutzt. Zudem sitzt diese Idee tief in mir drin, dass die Frau den Mann sexuell bei Laune halten muss oder er dann halt das Recht hat, sich anderweitig zu orientieren. Ich kategorisiere unterbewusst immer noch nach Maria oder Eva, nach Heilige oder Nutte, was sich auch in Gesprächen mit Jungs zeigt, die zumindest früher von Trumps Locker Room Talk nicht weit entfernt waren. Und meine Freundin leistet klar den Löwenanteil Arbeit hinsichtlich unseres Babys. Die Liste ist wahrscheinlich endlos.

Auch bei mir ist die Liste sexistischer Angewohnheiten lang. Ich empfand mich als Jugendlicher in verschiedenen Situationen als zu sexuell. Manchmal störte mich das dann richtig. Und dann ging mir der asketische Gedanke durch den Kopf, dass ich meine Sexualität unterdrücken sollte. Ich stellte mir die Frage, ob diese sexuellen Bedürfnisse Konstrukte sind, die einem systematischen Sexismus entspringen und was ich tun kann, um sie zu durchbrechen und nicht zu reproduzieren. Erst später stellte ich fest, dass dieser Gedanke an sich—also dass man weniger sexuelle Lust empfinden sollte—sexistisch ist. Denn was gibt es schöneres als aufrichtige sexuelle Interaktion zwischen zwei Menschen auf Augenhöhe? Aber: Wenn Sexualität zum Produkt wird, die lediglich konsumiert wird und Körper lediglich zu Konsumgütern degradiert werden, dann kann es keine gesunde Sexualität sein, sondern ist ein Form von Herrschaft.
Ich finde sexuelle Lust nicht an sich problematisch, aber ganz klar die Weise, in welcher wir sie denken, leben konsumieren. Da ist ganz viele kranke Pervertierung geschehen, was unglaublich traurig ist. Der Gedanke weniger Lust empfinden zu wollen, verteufelt implizit die Frau als die Quelle dieses Verlangens—als die Verführerin. Wir müssten vielmehr die Frau einladen, ebenso ihre Lust zu leben, aber davor haben wir Männer eben auch Angst—da wären wir wieder bei Maria und Eva. Ich hoffe, wir Männer können mal einen Anfang machen, indem wir Feminismus ebenso selbstverständlich zu unserem Thema machen wie die Frauen, und damit der Verharmlosung, die von unserem Geschlecht ausgeht, den Boden entziehen. Und das bedeutet halt auch, auf Privilegien zu verzichten, mal einen nahen Freund zurechtzuweisen, mal einen Mackermoment bleiben lassen, und die Verflossene ohne den Trick zu vergessen, sie als Schlampe abzutun. Und dann noch viel Schmerzhafteres, viel in den Spiegel schauen, viele unangenehme Momente. Aber sonst können wir uns als Linke auch nicht mehr ernst nehmen—ich sage nicht, ich schaffe das, aber ich gebe mir grösste Mühe.

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