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"Nur Verrückte und Angesoffene gehen in die Kirche" – Abgründe eines Organisten

Kotzen, Sex und Tod. All das erlebt man als Orgelspieler in einer Kirche. Und Menschen, die nackt zur Kommunion gehen.

Ich habe mich mit einem Orgelspieler getroffen, der in einer größeren Kirche in Wien seinen Dienst versieht und den wir ganz unironisch Christian nennen. Er spielt bei Messen—richtig—Orgel. Der Name ist erstunken und erlogen, aber da es in Wien nicht so viele junge Organisten gibt, haben wir uns das herausgenommen. Wir wollen ja nicht, dass er ans Kreuz genagelt wird oder an einer Reliquie erster Klasse lecken muss. Von Christian habe ich mir erzählen lassen, wie es eigentlich so ist, Organist zu sein und was einem da so passiert. Eines kann ich euch spoilern: Ich habe fucking viel gelacht und mit einigem Scheiß nicht gerechnet. Der folgende Text ist eine Nacherzählung aus seiner persönlichen Perspektive.

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Diese Sorte Geschichte hängt meistens mit Verrückten oder Angesoffenen zusammen. So auch meine. In der Kirche hast du diesbezüglich das Paradies—es gehen nur Verrückte oder Angesoffene in die Kirche. Kein Mensch, der gerade ausschauen, denken und atmen gleichzeitig kann, geht freiwillig in eine Kirche—außer er arbeitet dort. Wie ihr euch vielleicht schon denken könnt, haben diese Geschichten hauptsächlich mit Körperflüssigkeiten zu tun. Ach, du hattest ein anderes Bild von der Kirche? Falsch gelegen. Schau dir mal die Altersstruktur einer Kirche genauer an. Das Erste, was man sich durch den Kopf gehen lassen muss, wenn man Kirchenzusammenhänge erörtern will, ist einerseits die Altersstruktur der Leute, die hingehen. Und zweitens, dass wir wirklich seit ewigen Zeiten keinen derben Weltkrieg mehr hatten. Die meisten haben den letzten nicht miterlebt und diejenigen, die ihn miterlebt haben, sind uralt und gehen wahrscheinlich in die Kirche. Das erwähne ich deshalb, weil Religion prinzipiell etwas ist, das Leuten Hoffnung gibt, die ihnen über schwierige Situationen hinweg hilft. Die haben wir nicht. Ob ihr es glaubt oder nicht, aber so tragisch ist unsere Gesellschaft gerade nicht. Deswegen verssammeln sich in der Kirche nur Nationalisten oder rechtskonservative, junge Großfamilien. Das behaupte ich jetzt mal aufgrund meiner Beobachtungen.

Foto via Flickr | Dennis Jarvis | CC BY-SA 2.0

Wie man sich ausrechnen kann, ist das Deppat-Potential enorm hoch. Es kommt nun—als Resultat des hohen Alters—immer wieder vor, dass Leute krepieren. Drei Mal konnte ich das schon bezeugen—drei Mal, während ich gespielt habe. Und nein, ich deute das nicht als Zeichen. Als diese Leute gestorben sind, habe ich von oben nicht viel mitbekommen. Einmal habe ich eigentlich nur gesehen, wie ein Rettungswagen gekommen ist und dann war da auch nicht mehr viel zu machen. Die kippen da auf der Kirchenbank um und sind tot. Meistens sind das alte Leute—mit jungen ist das zum Glück noch nicht vorgekommen. Die Anwesenden nehmen sowas immer relativ locker. Eines von den drei Malen habe ich mitbekommen, dass es irgendwann mal einen Poscher gemacht hat und die gute Frau am Boden lag—und der Geist ist quasi aus ihr herausgefahren. Besser es passiert in der Kirche als sonst wo. Schließlich kann man von Kirchenbesuchern annehmen, dass sie das Ganze ernst nehmen, von dem der Herr Pfarrer erzählt. Deshalb können die Leute damit auch ganz gut umgehen, wenn es jemanden in der Kirche erwischt.

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In der Stadt ist der Gottesdienst sonst aber vergleichsweise langweilig. Das ändert sich schlagartig, sobald man aufs Land fährt. Gerade bei Hochzeiten fahren alle auf der Felge und es ist bereits mehrfach vorgekommen, dass es zu wüsten Schlägereien in der Kirche gekommen ist. Je weiter man aufs Land rausfährt, desto häufiger tritt das auf. Was auch wieder damit zusammenhängt, dass eigentlich nur Trottel in die Kirche gehen. Und da kommt es eben vor, dass es drei, vier größere Familien im Dorf gibt—ich will das Wort „Bauer“ nicht überstrapazieren, aber sagen wir so: Dynastiemäßig wurde schon viel Zeit, ja viele Jahrhunderte mit dem Ackerbau und der Viehzucht verbracht. Und es kommt relativ häufig vor, dass sich da Leute zu prügeln anfangen, weil der Sohn von dem einen Bauern mit der Braut des anderen Bauern irgendwann einmal zusammen war und der es nun überhaupt nicht packt, dass sie den Sohn des dritten Bauern heiratet. So kommt es dann dazu, dass sich seine ganze Partie eine Nacht vor der Hochzeit komplett zuschüttet, dann die Kirche stürmt und anfängen die anderen zu verprügeln, weil sie der Meinung sind, dass die Situation und die Leute scheiße sind. Das kommt häufig vor.

Jede Art alkoholrelevanter Sachen kommt häufig vor. Dass sich Leute in der Kirche ausziehen zum Beispiel. Dauernd. Wer so etwas macht? Es gibt ein paar Kandidaten, die kenne ich aber nur aus Wien. Da gibt es einen im sechsten Bezirk in einer Kirche, der zum Beispiel regelmäßig im Bademantel kommt. Um Vorurteile zu vernichten: Er sieht nicht obdachlos aus. Jedes Mal, wenn Kommunionsspende ist, wirft er seinen Morgenmantel weg und geht nackt zur Kommunion. Da wurde auch schon die Polzei gerufen. Allerdings war ich da nicht dabei—ein Kollege hat mir völlig entgeistert davon berichtet. Man kennt den Nackten. Er macht das hin und wieder und tut keinem was. Er ist durchschnittlich auch nicht schlimmer als der restliche Kirchen-Ruß, der da so in den Bänken sitzt.

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Foto via Flickr | Paul Stevenson | CC BY 2.0

Dann gibt es noch Leute, die sich permanent anspeiben, weil sie völlig angesoffen sind. Das kommt andauernd vor. Vor allem ist das auch bei Hochzeiten ein Ding. Am Land ist es ja relativ üblich, dass sie am Abend davor poltern gehen und nicht ein Monat vorher. Da kübeln sich sowohl Braut als auch Bräutigam einen Abend vorher komplett nieder und gerade im Sommer kommt es da—wegen der temperaturbedingten Kreislaufprobleme und dem großen Unterschied von heißt und kalt—zu ärgeren Speibereien. Da waren schon ganze Kirchenbänke verseucht. Dort stinkt es dann auch. Lustigerweise ist das für niemanden ein Grund, die Hochzeit abzubrechen. Nach über 16 Jahren Berufserfahrung habe ich es noch nie erlebt, dass eine Messe abgebrochen wurde. Wie bereits erzählt, sind da immehin auch Leute draufgegangen. Vielleicht wurde sie mal kurz unterbrochen, aber dass einmal jemand sagt „Nein, das machen wir jetzt nicht zu Ende“, ist noch nie vorgekommen.

Das hängt wahrscheinlich auch mit dem Wesen einer Messe zusammen: Am Schluss sollte ja alles besser sein als vorher. Wieso soll man das, woran man glaubt, was alles besser macht, mittendrin abbrechen, nur weil etwas Schlechtes passiert? Ich kann das natürlich nicht nachvollziehen—wie eben die meisten Leute, die bis zehn zählen können. Da kann man auch mit drei angekotzten Kirchenbänken und einem Nackten bei der Kommunion oder zwei Leichen in der letzten Reihe noch weiter machen. Quasi. Das gehört ja auch zur Show.

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Sonst passieren auch jede Menge dummer Sachen. Zum Beispiel, dass Leute mitten in der Messe aufstehen und herumschreien. Dieser Ort zieht von der Definition her Leute mit psychischen Problemen an. In der Verfassung gilt es als Religionsgemeinschaft. Was man darunter verstehen mag, sei dahingestellt. Aber die römisch-katholische Kirche ist nichts anderes als eine Sekte, nur größer. Deshalb hat sie so etwas wie eine Daseinsberechtigung, man darf nie vergessen, dass die Kirche nichts anderes als eine Sekte mit großen Strukturen ist. Solche Sachen ziehen eben Freaks an. Das ist völlig klar.

Ich selbst habe das noch nicht miterlebt, weil es mir zu blöd ist, aber: Von Kollegen habe ich gehört, dass Leute bei Roratemessen, die meistens um sechs Uhr morgens gehalten und von Mitarbeitern gerne als Frühschicht beschrieben werden, Erscheinungen und irgendwelche Epiphanien haben. Was klar ist, weil: Schlafmangel, schlechte Luft, Weihrauch und grelles Licht, das von der aufgehenden Sonne durch die Kirchenfenster scheint. Das kann ein beeindruckendes Schauspiel sein. Und da wird kolportiert, das Leute dann getanzt haben und völlig vom heiligen Geist, oder irgendwas anderem beseelt, den Ablauf der Messe gestört haben.

Was die Pfarrer angeht, gibt es eine Grundregel: Wenn er aus einem Mönchs- oder anderem Orden kommt, der gemeinschaftlich organisiert ist, dann ist er meistens cooler als Freelancer, die nur an der Theologischen Hochschule studiert haben und dann eine Stelle bekommen. Das kann damit zusammenhängen, dass du in einer Bubengemeinschaft doch ein bisschen sozialer bist oder Sozialkompetenzen entwickeln musst, als wenn du ein Einzelgänger bist, der Mitte 30 draufkommt, dass er eigentlich ein Verkünder des Wortes Gottes ist. Es ist aber schwer zu erklären, warum sich gerade in der katholischen Kirche pädophile Übergriffe so häufen. Die meisten führen das auf den Zölibat zurück. Viele Priester, die ich kenne, sind allerdings in einer Beziehung mit ihrer Pfarrhaushälterin oder einem Gemeindemitglied beiderlei Geschlechts. Es kommt mir so vor, als wäre statistisch die Wahrscheinlichkeit das Pfarrer homosexuell sind höher, als bei KFZ-Mechanikern oder Schlossern. Aber das ist eine rein persönliche Beobachtung und nichts, was untersucht ist—zumindest nicht, dass ich wüsste.

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Foto via Flickr | Dylan J C | CC BY 2.0

Es gibt auch coole Pfarrer—was mich bei dem Berufsbild auch sehr wundert. Die jüngeren sind aber nicht notwendigerweise besser als die älteren. Das ist dann doch zu unterschiedlich, als das man es über einen Kamm scheren könnte. Die größten Freaks sind hingegen meistens von der Diakone. Das sind geweihte Laienmitarbeiter, die sind zwar geweiht, dürfen gewisse Sachen machen, gewisse nicht, sind aber keine Pfarrer. Meistens sind sie verheiratet, haben dreißig Kinder von denen mindestens eins Brunhilde und eins Wolfgang heißt. Die sind wirklich schlimm und auch die Radikaleren. Die sagen dann auch allen anderen, wie sie zu leben haben und auch die auch dabei erwischt werden, wie sie die kleinen Ministranten irgendwo schustern. Ich war auch selbst zwei Jahre Ministrant, dann bin ich direkt an die Orgel gewechselt (und mir ist das zum Glück nie passiert).

Aber wenig ist mir egaler als die Kirche. Ich kann zwar die Leute, die dort hingehen, bis zu einem gewissen Grad akzeptieren, aber im Prinzip mache ich einfach die Filmmusik für die Dodeln, die daran glauben, und das werde ich ihnen auch nicht vorwerfen.Wenn einem alles wurscht ist, dann fängt man auch an, Sachen zu ignorieren. Das ist wie bei einem Arzt, der fünf Mal am Tag irgendwelchen Familien sagen muss, dass jemand Krebs hat. Natürlich ist das lästig, aber so richtig überwältigende Momente gab es für mich nie. Man wird abgehärtet. Ich bin damit groß geworden und es hat sich tatsächlich nichts geändert. Mit der Dauer stumpft man ab. Stichwort Sex in der Kirche. Auch das war damals kein Big Deal—irgend jemand musste es ja tun. Wir hatten beide die Notwendigkeit wahrgenommen, dass es zu tun ist. Es war erschreckend casual. Wir haben uns da alle mehr erwartet. Mit „alle“ meine ich „beide“—da gab es andere Festln, zu denen ich aber nicht eingeladen war. Am Ende war es nur unbequem und zu hoch.

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Leider gibt es sonst keine nennenswerten Fickgeschichten, weil Organisten jetzt nicht unbedingt zu Sexsymbolen zählen. Hornisten hingegen sind wegen ihrer hohen Lippenspannung sehr, sehr begehrt. Das wissen irgendwie alle. Die gehen nie alleine heim. Typisch für Organisten sind übrigens Rückenprobleme. Und wir sind alle Super-Nerds, bekommen keine Farbe und sind kälteresistent. Und wir sind mindstens so gut untereinander vernetzt wie Bläser. Organisten sind vielleicht einen Tick freakiger und einen Tick respektloser als der Rest.

In Organistenkreisen gibt es übrigens auch ein inoffizielles Hochzeitslieder-Ranking. Meine Top 3 beginnen mit—Überraschung—dem guten dritten Platz: Dem Abspannlied von Herr der Ringe: Die Gefährten. Also eine „Ein Ring, um sie zu Knechten“-Geschichte. Der zweite Platz geht an „Elisabeth“, was bei einer Hochzeit auch relativ wenig Sinn macht. Aber mein absoluter Top-Favorit für das unpassendste Hochzeitslied, das allerdings regelmäßig bestellt wird, ist „I still haven´t found, what I´m looking for“.

Man fragt dann auch immer nach, ob sie das tatsächlich ernst meinen. Es gibt zum Beispiel viele, die sich Schuberts „Ave Maria“ zur Hochzeit bestellen und man kann Menschen, die keine Musiker sind nicht vorwerfen, dass sie den Hintergrund nicht kennen. Dass das aus Jungfrau am See von Schubert ist und dass eben die Jungfrau das Lied am See singt und sich danach von der Klippe stürzt—dass sie das wissen, erwarte ich von den Leuten nicht, ich weise sie aber immer darauf hin. Aber so viel Englisch muss man können, dass „I still haven´t found what I´m looking for“ nicht zumindest ein bisschen komisch riecht. Nächste Woche muss ich zum Beispiel bei einer Hochzeit Dr. Alban spielen. Das ist auch noch eine Musikerhochzeit. Das ist eine ironische Überhöhung, die aber nicht funktioniert, weil wir in einer Kirche sind. Da frage ich mich, was mit ihrem Schädel los ist. Erstens sind wir in einer Kirche, was per se schon ein bisschen konservativ ist, sonst würde kein Mensch in die Kirche gehen (für die Verwandten macht das heutzutage keiner mehr) und dann wollen die mir das als super-innovativ und hip verkaufen? Hör doch auf.

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Bei Begräbnissen ist es ein bisschen anders. Da stört es mich nicht so. Ich musste zum Beispiel einmal „Spiel mir das Lied vom Tod“ auf ausdrücklichen Wunsch des Typen, den sie danach eingegraben haben, spielen. Alle fanden das extrem geschmacklos. Ich fand das aber völlig OK—er ist der Chef—er ist zwar tot, aber die anderen können alle scheißen gehen. Wenn er das haben will, dann sei ihm das gegönnt. Bei Hochzeiten bin ich weniger tolerant. Die sind nicht tot—knapp davor, aber vielleicht im Vorstadium. Ich gönne es Leuten, wenn sie gewisse Wünsche an Lieder haben, die sie umgesetzt haben wollen, weil sie in ihrem ganzen Leben in der Regel ein Mal in der Kirche heiraten. Wenn sie da von Silbermond „Das Beste“ hören wollen, bin ich der Letzte, der ihnen das nicht spielt. Ich speib mich halb an dabei, aber es ist nicht meine Party. Ich bin Dienstleister und spiele das so gut es geht und ohne jegliche Ironie. Man muss da schon ein bisschen drüberstehen und die Leute brauchen auch niemanden, der ihre Unwissenheit kommentiert. Es ist nicht mein Job, ihren Musikgeschmack zu korrigieren.

Schlechte Bezahlung gibt es übrigens auch. Ein Kollege hat einmal bei einer Hochzeit in Tirol gepielt, was doch sechs Stunden Reisezeit von Wien sind und hat für einen kompletten Tag 150 Euro bekommen. Davon musste er drei oder vier Wunschnummern auch erst transkribieren. Und dann steht da eine Kutsche für EUR 2.500 vor der Kirche, die vierzig Meter zum Kirchenwirt fahrt. Das ist ein altes Problem und wird sich so schnell auch nicht ändern. Now for something completely different, nur um es nicht unkommentiert zu lassen: Es hat acht Jahre gedauert, bis ich draufgekommen bin, dass eine überwältigende Mehrheit der Organisten, die keine Familie haben, schwul sind. Gerade in Wien gibt es seit einigen Jahren eine Organisten-Mafia. Da trifft man sich, weil die Jungen die Alten loswerden wollen—wir haben schon so gut wie alle Flagship-Kirchen übernommen. Da ist es oft lustig, wenn sich die Organisten-Cosa Nostra am Stammtisch trifft und man draufkommt, wie viele da schon etwas miteinander hatten. Es ist halt immer noch ein Männerjob, obwohl es schon einige Organistinnen gibt.

Organisten sind übrigens die ärgsten Alkoholiker. Da kann es schon passieren, dass sich Kollegen anscheißen oder über der Orgel einschlafen, weil sie so restfett sind. Aber das ist nicht der einzige Beruf, bei dem sich Menschen ansaufen. Fahrscheinkontrolleure sind da nur so ein Stichwort, das mir einfällt.

Isabella auf Twitter: @isaykah

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