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Was ich von den Zeugen Jehovas über Musik gelernt habe

Die Musik ist ein Geschenk Gottes. Missbrauche es nicht.

Jahrelang haben die Zeugen Jehovas probiert, mich auf der Mariahilferstraße mithilfe von Broschüren und Jugendratgebern zu rekrutieren. Jahrelang habe ich dankend abgelehnt—bis meine Neugier zu groß wurde, ich mir das literarische Meisterwerk Fragen junger Leute—praktische Antworten geschnappt habe und schnell weggerannt bin, bevor die creepy Frau am Stand mich in ein Gespräch verwickeln konnte. In den nächsten Tagen habe ich meine Freunde und Familie in den Wahnsinn getrieben, weil ich ihnen ständig aus dem Ratgeber vorgelesen habe. Ich weiß immer noch nicht genau, ob ich über den Inhalt lachen oder heulen soll. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand durch dieses „Buch“ gebrainwasht wird, aber die Zeugen Jehovas haben in Österreich über 21.000 aktive Mitglieder, die diese Moralvorstellungen vertreten und den Ratgeber vermutlich sehr ernst nehmen. Auf der Rückseite des Ratgebers steht, dass dafür hunderte Jugendliche auf der ganzen Welt befragt wurden, die aus eigener Erfahrung wissen, wie gut es ist, nach der Bibel zu leben. „Du wirst sehen, dass die Bibel auch dir helfen kann.“

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Fragen junger Leute soll Jugendliche in einer Lebenslage abholen, in der sie mit vielen Problemen kämpfen, am schwächsten und am leichtesten zu beeinflussen sind—wie es eben bei religiösen Gruppierungen so ist. Das Buch befasst sich mit Themen wie (Online)Freundschaft, Sex, Eltern, Gefühlen, der Beziehung zu Gott (eh klar, das ist doch das größte Problem jedes Teenagers), Musik und einigem mehr. Der Ratgeber ist in einem verständnisvollen Ton geschrieben—wenn ich ihn lese, erklingt in meinem Kopf die besorgte Stimme von Gary Turk (Das ist der Smartphone-Hasser, der mit Look Up auf Youtube viral gegangen ist). Die Ratschläge sind außerdem allesamt mit Bibelstellen belegt.

Ich habe viele—sagen wir mal—interessante Dinge aus Fragen junger Leute gelernt. Zum Beispiel, wie ich meinen potentiellen Partner besser kennenlerne: Gemeinsam über die Bibel sprechen, beobachten wie er sich beim Predigen engagiert, zusammen beim Reinigen des Königreichssaals mithelfen … Standard-Sachen eben. Am meisten lachen und weinen musste ich allerdings, als es zu den sexuellen Themen kam. Ich weiß jetzt: Selbstbefriedigung ist selbstsüchtig und kann zu großen Problemen führen. Oder: Wenn ich mich vor sexueller Belästigung schützen will, darf ich nicht flirten oder mich provokant anziehen. Oder: Homosexualität wird heutzutage oft verharmlost. Wenn ich mich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühle, ist das vermutlich nur eine Phase. Ich darf dem Drang auf keinem Fall nachgeben. Ich darf überhaupt keinen sexuellen Gefühlen nachgehen—bis zur Ehe. Um das zu schaffen, soll ich mit Jehova reden. Ein Zitat eines Jugendlichen im Ratgeber: „Immer wenn homosexuelle Gefühle in mir hochkommen, denke ich über meinen Lieblingsbibeltext nach.“ Wow. So viel unterdrücken von Gefühlen und Drängen kann ja nur gut ausgehen.

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Ein eigenes, zehnseitiges Kapitel im Ratgeber ist auch dem Umgang mit Musik gewidmet. Es heißt „Wie viel Musik tut mir gut?“. Denn—ihr hättet es vielleicht schon erraten können—auch Musik ist laut den Zeugen Jehovas oftmals böse. Hier sind die Facts, die ihr auf jeden Fall wissen solltet (wenn ihr vorhabt den Zeugen Jehovas beizutreten):

Falls du bei deinen Lieblingssongs Bedenken hast, sie deine Eltern hören zu lassen, kann es sein, dass deine Musik nicht ganz in Ordnung ist.
Die zweiseitige Einleitung des Kapitels befasst sich mit jungen Leuten, die mit ihren Eltern streiten, weil diese etwas gegen die Musik ihrer Kinder haben. Tut man das heutzutage wirklich noch? Falls ja, hier die Lösung des Problems: „Wenn deine Eltern Achtung vor der Bibel haben, ist das ein großer Vorteil.“ Ihr sollt aufeinander zugehen und mithilfe der Bibel entscheiden, was inakzeptabel und was nur eine Frage des Geschmacks ist. Dabei sind zwei Sachen besonders wichtig: Welche Botschaft deine Musik aussendet und wie viel Musik du konsumierst. Zuerst wird die erste Frage behandelt.

Mit der Musik ist es wie mit dem Essen. Das Richtige in der richtigen Menge ist gut. Das Falsche ist immer schlecht.
Ein Jugendlicher namens Steve klagt über die Tatsache: „Warum haben ausgerechnet die schönsten Lieder immer die schlimmsten Texte!“ Tja. Sorry, Steve. Kein Money Boy, kein The Weeknd und auch kein Kanye für dich. Es folgt ein dramatischer Vergleich, in dem „böse“ Musik, die gut klingt, mit Gift, das in Zuckerguss getränkt ist, gleichgestellt wird. Dann wird Hiob zitiert, um Glaubwürdigkeit und religiösen Pepp zu verleihen. Auf der nächsten Seite befindet sich meine absolute Lieblingsstelle: „Leider geht es beim Großteil der aktuellsten Musik um Sex, Gewalt und Drogen. Falls du der Meinung bist, die Texte würden dir nichts ausmachen, zeigt das ,Gift‘ wahrscheinlich schon Wirkung.“

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Dynamische Marketingexperten werden dafür bezahlt, deinen Musikgeschmack zu beeinflussen und zu bestimmen.
Auch deine Freunde werden dich unter Druck setzen, unakzeptable Musik zu hören. Lass dir nichts vorschreiben, sonst verlierst du die Kontrolle über dein eigenes Leben. Schon klar, dass man selbst entscheiden sollte, was man hören will. Aber ist es es dann nicht ein bisschen sehr widersprüchlich, dass das ganze Kapitel des Ratgebers davon handelt, wie viel und welche Musik man hören darf?

Sieh dir das Cover genau an—brutale, erotische oder mystische Bilder sind ein Warnsignal.
Als ich gerade durch meine iTunes-Mediathek gescrollt bin, musste ich feststellen, dass ich leider einiges löschen sollte, um nicht weiter vergiftet zu werden. Manche Cover verkörpern sogar alle drei Eigenschaften. Mein größtes Problem sind aber die mystischen Bilder. So viele mystische Bilder everywhere—ahh wie definiert sich überhaupt mystisch? Ist das Bild da oben auch mystisch?

Lass nicht zu, dass sich bei dir alles nur noch um Musik dreht.
Für mich als Redakteurin einer Musikzeitschrift ist eh schon alles zu spät. Aber für euch gibt es noch einen Ausweg. Lasst euer Leben nicht von der Musik beherrschen. Und hört keine Musik beim Bibel lesen, so wie Jessica aus dem Ratgeber es tut. Die Musik ist ein Geschenk Gottes. Missbraucht es nicht.

Hier könnt ihr noch ein paar Neujahrsvorsätze aufschreiben:

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