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Noisey Blog

So ist es, wenn in deinem Heimatbundesland auf einmal ein Amoklauf passiert

Eine persönliche Abhandlung zu einem schwierigen Thema.

Die Tatwaffe. Foto: Vorarlberger Polizei

Letzten Sonntag, dem 22.05.2016 gegen 3:00 Uhr Früh, kam es in Nenzing bei einem mehrtägigen Festival zu einem tragischen Amoklauf. Der Schütze Gregor S. hat nach einem Beziehungsstreit mit einer Langwaffe (laut Polizei der Nachbau einer Kalashnikov) wahllos in die Menge geschossen und beging danach Selbstmord. Es starben zwei Besucher direkt am Tatort, ein Schwerverletzter schwebt in Lebensgefahr.

Ich bin geboren und aufgwachsen in Hohenems, genau in der Mitte des Rheintals. Ich war jahrelang in der Bandszene engagiert und bin dann, wie viele andere auch, in die Exilhauptstadt Wien gezogen, um zu studieren. Nun erreichte mich am Sonntag Morgen die Meldung, dass in Nenzing bei einem Motorradtreffen ein Amoklauf passiert ist. Ungläubig durchforstete ich die üblichen Nachrichtenkanäle und schrieb zwei, drei Freunde von mir an, von denen ich vermutete, dass sie auf dem Konzert, welches im Rahmen des Motorradtreffens statt fand, waren oder zumindest etwas darüber wussten. Obwohl der Realzustand in Vorarlberg weit weg von dem Heile-Welt-Klischee ist, das sich hartnäckig über Postkarten verbreitet, ist ein Amoklauf doch etwas, was man nur aus den Nachrichten kennt und nicht aus dem direkten Umfeld.

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Ein Bekannter kennt ein Opfer, das jetzt im Krankenhaus liegt, der andere ist dann spontan doch nicht aufs Konzert, weil ihm etwas dazwischen kam. Ein anderer kannte den Täter persönlich und äußert sich nicht einmal im nächstem Umfeld zu dem, was passiert ist, weil nicht nur in den Medien, sondern auch in den Menschen die absolute Sensationsgeilheit ausgelöst wurde. Ich schwankte zwischen Interesse und Angewidertheit, als ich mitansah, wie eine Mutmaßung nach der anderen veröffentlicht wurde—zum Teil ohne eine Bestätigung und ohne Gewissheit. Wie ein Amoklauf, der in deiner unmittelbaren Nähe passiert ist, sensationalisiert wird. Der Täter war laut Recherche von vol.at in der Vorarlberger Neo-Nazi-Szene aktiv und wurde auch schon auffällig. Es war ein Waffenverbot über ihn verhängt.

Wer oder was ist also hier schuld? Nach solchen Taten wird immer sofort der Schuldige gesucht, verständlicherweise. Ist der Amoklauf passiert, weil der Täter ein "gewaltbereiter, von niederen Trieben geleiteter Neo-Nazi" war? Es lässt nichts darauf schließen, dass es eine ideologische Tat war. Auch, dass er in eine Menge von "seinen" Leuten feuert, wäre unglaubwürdig. Ist das lasche Waffengesetz Österreichs schuld? Der Täter wurde schon vor der Tat mit einem Waffenverbot belegt, das Gesetz hat hier also funktioniert und die Gefährdung erkannt. Die Meldung über den Amoklauf war kurz in den Schlagzeilen, ist aber unter den tausend Meldungen über die Bundespräsidentenwahl verschwunden.

Wie Psychiater Reinhard Haller gegenüber dem ORF angab, sind solche Amokläufe sehr selten, aber der Tathergang in Vorarlberg wäre für die Umstände typisch. Typisch daran ist, dass der Täter in einer emotionalen Extremsituation komplett ohne jede Mäßigung handelt und seiner Wut ohne Ziel und Richtung freien lauf lässt. Dass der Täter eine Langwaffe (mutmaßlich ein Sturmgewehr) im Auto hatte, war leider maßgeblich für den tragischen Tatausgang mit mehreren Toten verantwortlich. Es wird instrumentalisiert werden. Wir werden lesen, dass es einen großen Aufschrei gegeben hätte, wenn der Täter Muslim oder Flüchtling gewesen wäre. Wir werden lesen, dass wir strengere Waffengesetze brauchen, wir werden lesen, dass man endlich gegen die Neo-Nazis vorgehen muss, wir werden noch viel lesen. Was sagt das jedoch über unsere Gesellschaft, wenn jemand aus unserer Mitte (Neo-Nazi hin oder her) so eine Kurzschlusshandlung begeht?

Wenn man in den Nachrichten von den Gewalttaten in Orten, in denen man noch nie war und niemanden kennt, liest, macht man sich auch oft schuldig, jeden neuen Fetzen Information direkt aufzusaugen. Wenn es jedoch in unmittelbarer Nähe zu einem selbst passiert, merkt man auf einmal, wie die Medien und die Gesellschaft sich darauf stürzen und alles für Klicks, für Reaktionen und für die eigene Agenda instrumentalisiert wird. Jeder hat sofort eine Meinung, warum etwas passiert wäre, wer Schuld sei und was zu passieren hätte. Meiner Meinung nach sehen wir hier einen der gerne totgeschwiegenen, dunklen Auswüchse einer Gesellschaft, in der es viele Lebensrealitäten abseits der "Norm" gibt. Auch jene, die aus einem Beziehungsstreit eine Amoktat werden lassen. Denn im Endeffekt wird niemanden die "Wahrheit" interessieren. Mit Wahrheit meine ich die neue Realität, mit der die Opfer und Angehörigen konfrontiert sind, sondern es wird nur versucht werden, das Passierte so zu interpretieren, dass man die eigene Meinung bestätigt.

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