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Das Rapgeschäft und der Refrain

Die erfolgsversprechende Wahlverwandtschaft von HipHop und Pop macht eines unumgänglich: einen amtlichen Refrain—bei Durchschnittsrappern oft genug Auslöser für Fluten von Angstschweiß.

HipHop muss sich derzeit um wenig Dinge Sorgen machen. Eine bedeutende Sorge schleift er aber dafür schon seit Dekaden hinkend mit sich rum. Die Unmengen an Platinplatten, Chartplatzierungen und der Erfolgsdruck lassen es bereits länger offen zu Tage treten: Für eine ordentliche Hitsingle muss ein Rapper die Zwangsehe mit dem Popschema eingehen. Die Zeiten, in denen man drei Minuten auf denselben Beat kloppt und einfach ein paar Zeilen ab und an wiederholt, sind vorbei. Ein gestandender Refrain ist das Herzstück eines Songs, mitgrölen muss man können, die Lines müssen leicht von der Zunge gehen, es muss sich im Kopf festkrallen. Der gemeine Rockstar kennt sich in diesem Metier bestens aus: Fans, die bei jeder Gelegenheit und an jedem Tresen der Welt die Hymnen ihrer Helden singen, Arm in Arm, Krug an Krug—Stadien voller Irrer, die die Phrasen aus der eigenen Feder durch ihre Münder pressen. Das eigentliche Problem für die Könige des Sprechgesangs allerdings: Singen. Hier nun ein Potpourri aus Möglichkeiten dieses Dilemma zu lösen und dabei zu versagen.

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Der Faule

Die einzige Möglichkeit der Gesangsschule fern zu bleiben und vielleicht doch irgendwann einmal in den Genuss des Chors der Massen zu kommen, ist auch gleichzeitig die minimalistische. Ein Refrain? Das hat es doch früher nicht gegeben und wenn, dann dürfen sie maximal ein oder zwei Wörter haben. Alles was ringsherum noch passiert ist Staffage, bloßes Füllmaterial für Wörter wie „Big Bang“ oder „Quotentürke“. Das ist für Partytracks praktikabel, doch gerade im Gangsterrap kann man sich bei dieser kleinen Entscheidung leicht vertun, dann war alles für die Katz. Der Unterschied zwischen Wörtern wie „Bang“ und „Aura“ ist auf dem Papier so gering—denkste. Ich sehe bereits die tosende Arena vor mir mit gespielter Wut: „Aura“. Phonetik, Dramaturgie, Phrasierung, Emotion—das ist auf mehr als nur einer Ebene ein Griff ins Klo für Essah. Das Konzept der Ein-Wort-Refrains muss früher oder später versagen, weil Schummeln halt einfach nicht gilt.

Der Mutige

Augen zu und durch. Einfach machen. Wer sich der Notwendigkeit eines Refrains mit knallender Hook für Gänsehautatmosphäre bewusst ist, der beißt häufig in den sauren Apfel und stellt sich selbst in die Gesangskabine. Was da aufgefahren wird, um unseren angehenden Rap-Gott nicht seiner Würde zu berauben: Melodyne, Auto-Tune, Vocal Pitching—das komplette Waffenarsenal digitaler Stimmnachbearbeitung, tausendmal gedoppelt, weil sie einfach keinen Funk haben. Shady kann davon auch auf der neuen Platte im wahrsten Sinne mehr als nur ein Lied singen und Cro gibt sich bei „Whatever“ live gar nicht erst die Mühe, sondern lässt das Tonband ran. Noch schlimmer als auf diese Weise totproduzierte Stars sind allerdings die Kindermelodien, auf die unerfahrene Sänger kommen. Als hätte eine KITA kurz vor Feierabend noch ein Lied geschrieben: Nur nicht zu viele Töne, schön in der kompromittierenden mittleren Lage singen, keine stimmlichen Ausbrecher wagen und die eigene Street Credibility mit jedem Ton weiter unterwandern. Aber Sido sagt ja selbst: „Auf dem Weg nach oben ist noch vieles zu lernen“—also bitte. Das Konzept des auf Teufel komm' raus gesungenen Refrains muss versagen, weil es halt einfach scheiße klingt.

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Der Andere

Savas hat seinen Xavier, Eminem hat seine Rihanna, Jay Z hat seinen Justin, Marteria hat Yasha und Miss Platnum, Samy hat seine Liebe für Matteo jüngst entdeckt und auch Sido hat erkannt, dass 19 Gastrapper nicht gegen einen Mark Forster ankommen. Die Liste ist beliebig erweiterbar. Gott sei Dank gehören Features zum guten Ton im Rapbiz. Doch im Gegensatz zur üblichen Sausage Party, bei der jedes Label-Mate und jeder Jünger des Stars zwölf Zeilen durchziehen darf, ist Gastgesang heutzutage meist von jemandem angesagt, der es wirklich kann. Die bizarrste Zusammenarbeit in dieser Hinsicht ist gleichzeitig Sinnbild dafür, wie ernst die Lage ist und wie stark die Verzweiflung unter der scheinbar unantastbaren Rapfassade brodelt: Bushido und Karel Gott. Das Konzept des Features versagt an dieser Stelle, denn wenn das zentrale Element des Songs, das an was sich jeder erinnert, das was jeder mitsingt, was im Ohr stecken bleibt, nicht von einem selbst kommt, dann ist das—gelinde gesagt—ein Armutszeugnis. Außerdem: Wer kann die Horden an Gastgesängen schon live immer mit dabei haben, da wird es eng auf Tour im Nightliner. Das will man ja nicht.

Der Schüchterne

Kommt es hart auf hart besinnt man sich auf seine Wurzeln. Für den HipHop bedeutet das, einmal mehr in der Soulkiste zu kramen und dort liegt für männliche Rapper immer eine tiefe Bassstimme bereit, die Mutter aller faulen Ausreden. Hat man doch just bewiesen, dass einem das Mundwerk steht wie die Knarre am Halfter, kann man jetzt vom exaltierten Künstler zum Schmusebären degradiert werden, dass es dem Hörer die Hand vor die Stirn klatscht. Auf keinen Fall merkbar singen, niemandem in die Augen schauen, einen Hybrid aufbauen aus Sprechen und Summen und vor allem hoffen, dass es schnell vorbei geht. Auch wenn Marteria einem als erstes in den Kopf schießt: Samy ist Großmeister dieser Ambiguität, die in der Strophe orgiastisch nach vorne drücken will, nur um dann im Refrain voll in die Eisen zu steigen. Das Konzept des Barry White Gesangs scheitert, weil der Vers halt einfach mehr knallt als der Chorus.

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Der Dieb

Die sichere Bank: ein Sample. Ebenfalls Standardzutat in jeder guten Rap-Küche, erspart einem das Sample eines Refrains diverse Unannehmlichkeiten, wie lästige Mails schreiben, mit noch lästigeren Popmusikern abhängen. Bei einem echten Klassiker klauen, sichert einem auch die Liebe von Schwiegermutti. Und das allerbeste: Die resultierende Chartplatzierung ergibt sich als Mittelwert der eigenen momentan Position und Platzierung des Klassikers. Es gibt nur eine einzige Aufgabe, die unser Rapper—schwer genug fällt sie ihm meist—dann zu tun hat: Er muss das Erbe halbwegs diskret verwalten, sonst wird die Grabschändung von der gesellschaftlichen Raison als fieses Nachtreten empfunden, dann hat man den Skandal. Im Falle von SIDO und Rio schaut jeder Punker und Hausbesetzer sofort betroffen zu Boden, aber Hit bleibt eben Hit. Und deswegen scheitert das Konzept des gesampleten Refrains auch, weil dieses play it safe halt eine Feigheit offenbart, die von der Szene sofort geahndet werden müsste.

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