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Turbostaat im Interview: Warum deine Eltern bessere Punks waren als du

Auch wenn Punk heutzutage nicht mehr so schockieren kann wie früher, wissen Turbostaat, dass du heute die Leute viel leichter provozieren kannst.

Man, sahen wir scheiße aus. Was ist damals nur in uns gefahren? Manchmal erscheint sie noch in Träumen, diese pickelige Fresse mit der frechen Frise und dem viel zu breiten Grinsen. Welch unschuldige Unbeschwertheit, als es einfach echt egal war, wie verwahrlost man im Park das 20-Cent-Bier gesippt hat. Eieiei, war das schrecklich. Aber irgendwie auch geil. Heute dreht sich alles um Ambitionen, Facebook-Likes und Startup-Karriere. Ein Fauxpas beim Connections machen und du bist raus aus der Gang—Thug life!

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Ja, Generation Y ist mit Pauken und Trompeten angekommen, macht sich überall breit und gibt einen Fick auf deinen verzweifelten Versuch, mit einem Nokia 3310 den Vintage-Hype abzufangen und der längst vergangenen Jugend ihre magische Essenz zu rauben. Aber so sehr man es auch abstreitet und auf Instagram schönfiltert, das Leben war damals einfach cooler, egal wie laut sie alle hinter deinem Rücken gelacht haben. Und bis es nicht in 30 Jahren Generation ß heißt, wird wohl jeder mittelmäßig Erwachsene der guten alten Zeit hinterherheulen.

Jedes Punkerherz kennt das nur zu gut. Diese Trauer um Tage, als Anarchie mit Selbstverwirklichung einherging und Alternativen keine Alternative waren. Jeder Freigeist wird heute sehnsüchtig hinter dem Tresen der Sparkassen-Zweigstelle auf das geordnete Straßenleben schauen und sich wundern, wie es so weit kommen konnte. Durch seine Synapsen strömen Visionen von zerbrechendem Glas, das endlich dieses Spiegelbild vom Schlipsträger in tausend Teile spaltet. Wie war das doch schön, diese freie Selbstbestimmung und der bunter Strauß an fortwährenden Festivitäten: Häuser besetzen, verranzte Fender-Combos auf das Dach stellen und einfach leben. Und leben lassen, kein Zwang, aber zusammen. Aber lassen wir mal die Kirche im Dorf: In der Vergangenheit zu vegetieren, hat noch kaum einen weit gebracht. Darum die Frage: Ist heute wirklich alles so grau wie die Jacken der Senioren? Traut sich niemand mehr, eine Sternburg-Flasche gegen die Wand zu schmeißen?

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Turbostaat haben Antworten. Eben nicht Punks der ersten Stunde, keine Ultra-Anarchos oder etwa Musik-Dilettanten. Im Gegenteil: Die Husumer gehören wohl zur dritten Genration des Punk, und verstehen etwas von ihrem Fach. Vor allem aber von den Entwicklungen ehemaliger Musikdienstverweiger, die mittlerweile doch etwas mehr Gefallen an den Annehmlichkeiten des Backstages gefunden haben und gern den Zirkus mitmachen, der sich Industrie schimpft. Aufgewachsen sind Turbostaat zwischen Landgasthöfen im Norden Deutschlands, zwischen beschaulichen, losen Stadtkreisen wie Dithmarschen, dem Kleinstadtkosmos Flensburg und ihrer Heimat Husum. Dorfkinder durch und durch. Ihr neues Album Abalonia steckt wie jedes andere von ihnen voll verschlüsselter Botschaften, die entdeckt oder manchmal auch nur kurz angerissen werden wollen. Doch Konsens ist, dass es vielleicht—wer weiß—irgendwo diesen Zufluchtsort gibt, der einen so sein lässt, wie man sich fühlt und sieht. „Komm mit mir, wir bleiben nicht zum Sterben hier“, heißt eine der ersten aufrüttelnden Zeilen auf Abalonia. Weg von all dem Hass in kleinen Städtchen, bloß nicht aufreiben lassen? Ob hier das Punkerherz gesprochen hat, lassen die Gitarristen Marten Ebsen und Rollo Santos mit gewohnt kryptischen Worten wissen.

Wie seid ihr zum Punk gekommen?
Marten: Die Leute, die Punk als erste Welle erlebt haben, sind heute 50 Jahre alt. Wir sind einen kleinen Tick jünger, Punk wurde schon das dritte Mal durch die Medien geheizt. Als wir dann Teenager wurden, fand er eine Art Revival durch die Chaostage. Man konnte damit noch provozieren, wurde in der Innenstadt verkloppt, weil man bunte Haare hatte. Das ist heutzutage vorbei, glaube ich.

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Kann Punk heute noch schocken und provozieren?
Marten: Mit der Subkultur Punk kannst du per se nicht mehr schocken. Weil deine Eltern wahrscheinlich noch ärgere Punks waren als du selber. Aber mit den Inhalten bist du heute immer noch schnell dabei. Es geht ja ums Infragestellen von dem, was Mainstream oder die herrschende Meinung bildet. Da eckst du heute schneller an, als dir lieb ist. Muss es reiche Leute und Privateigentum geben? Müssen Mann und Frau sich so und so verhalten? Da gerätst du heute viel schneller an die Grenzen der Leute als früher.

Punk ist nicht mehr die gleiche Gegenbewegung wie in den 80ern, sondern durch die 90er zu einer Art Jugendmode verkommen. Wird deswegen weniger auf den Inhalt geachtet?
Rollo: Da gibt es verschiedene Ebenen. Auch heute gibt es noch die unbequeme linke Szene. Das war zu unserer Zeit auch nicht anders. Dann kamen aber Green Day und The Offspring auf. Ich dachte: Was soll denn das? Das war doch unsere Subkultur, auf einmal geht das hier voll rund und jeder Gymnasiast war Hobbypunk.
Marten: Da konntest du nicht mehr mit der Musik schocken, da haben auch alle BWL-Studenten Punk gehört.
Rollo: Abseits von diesem Pseudo-Punk-Ding wird es mittelfristig immer subkulturellen Punk geben, der auch gefährlich ist. Also Häuserkampf-Punks, weniger saufen in der Innenstadt, das war nie so meins.
Marten: Trotzdem muss man da keinen Unterschied machen. Das erinnert mich an früher, wo der Polizeihauptmann ankam und fragte: „Wer ist denn euer Anführer?“ Niemand hat jemand anderem zu sagen, wie Punk ist. Wenn du in der Innenstadt saufen willst, dann machst du das und verweigerst dich dem ganzen Verwertungsprozess der Gesellschaft.

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Wie wichtig ist Punk für die Kleinstädte?
Rollo: Immer noch ein unersetzbares Werkzeug, um Sachen und sich selbst zu verändern und herauszufordern. Dafür war Punk immer gut, auch weil du keine großen Voraussetzungen mitbringen musstest, um was zu schaffen.

Ziehen die Leute, die Konzerte do-it-yourself organisieren, alternative Lebensformen aufzeigen und Toleranz in die Scheuklappen-Dörfer bringen, nicht schnell weg aus ihrer Heimat?
Rollo: Wahrscheinlich, aber auch das schafft Punk. Dass sie sich nicht ihrem vorbestimmten Schicksal ergeben und in der örtlichen Sparkasse arbeiten, weil es eben das ist, was man da macht.

Macht die Flucht ins „bessere Leben“ die Dinge zu Hause nicht viel beschissener?
Marten: Für mich ist „selber machen“ wichtig am Punk. In unserem Dorf gab es keine Punk-Konzerte, also haben wir welche im Jugendtreff veranstaltet. Nicht doll, nicht viele, aus Veranstaltersicht würde man „Kinderkram“ sagen, aber da war ordentlich Ramba-Zamba für die Jungs und Mädchen. Dann ging es weiter in die nächsten Städte, aber alles musste man sich selber schaffen.

Ist solch ein Sehnsuchtsort, von dem ihr auf Abalonia singt, also wünschenswert?
Marten: Bei Abalonia geht es darum, dass man den Sehnsuchtsort durch eine Leerstelle ersetzt. Dass es den eigentlich nicht gibt oder man es nicht weiß. Die Frage danach bleibt auf der Platte unbeantwortet, die Suche geht weiter. Wir haben dieses lose Konzept gewählt, weil es in jedem Lied um andere Aspekte und Missstände der Gesellschaft geht, Gefühle werden personifiziert und [die Protagonistin Frau Semona] trifft diese auf ihrem Weg.

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Was sind denn explizit die Missstände, die ihr verteufelt?
Marten: Ein bunter Strauß an Sachen, die einen täglich aufregen: Rassismus, Ungerechtigkeiten, arm und reich, Umweltverschmutzungen, die ganze Scheiße. Jeden Tag verhungern Leute auf der Welt, wir hingegen schmeißen unser ganzes Essen in den Müll und beschweren uns, das Amazon nicht pünktlich kommt. Mich nervt, wie Geschlechterrollen in dieser Gesellschaft definiert werden; mich nerven die Autos auf der Straße, dass sich einen Haufen Menschen damit einen Arsch voll verdienen und meine Tochter hustet.

Wenn Punk auf nachhaltige Wirkung setzen will, wie begegnet er dann lieber den Missständen musikalisch—plakativ oder tiefsinnig?
Marten: Einem Rassisten kann man schon direkt sagen, dass er ein Rassist ist. Wenn er dann anfängt zu weinen, sollte er aufhören, rassistische Dinge zu tun oder zu sagen. Man kann Arschlöchern sagen, dass sie Arschlöcher sind; kann auf Dinge zeigen und sagen, das läuft verkehrt und das kann man besser machen.

Jeder hat heute eine Meinung—ist das gut so?
Rollo: Meinung steht ja ganz oft im direkten Gegensatz zu Wissen. Ich habe angefangen, Punk zu hören, als die einfachen Parolen eine geile Sache waren. Erst in den 90ern habe ich andere Bands gehört wie …But Alive, Dackelblut oder Boxhamsters, die auch politisch waren, aber von einem ganz anderen Ansatz her. Sie sangen übers Private. Die haben Geschichten erzählt, Bilder benutzt, um bestimmte Sachen zu sagen, das fand ich wahnsinnig interessant. Ich bin froh, dass Marten auch diese Art Texte schreibt.
Marten: Ich habe eine große Bewunderung für Bands wie Ton Steine Scherben. Wie man den Nagel so auf den Kopf treffen kann mit einem ganz einfachen, wohl formulierten Satz. Oder die alten Slime-Platten finde ich so großartig, das würde ich auch gern können als Texter.

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Welche Rolle spielt oder sollte Punkrock für die Politik spielen?
Marten: Wir kommen alle aus der linksautonomen Punkszene: besetzte Häuser, Antifa-Demos, Anti-Atomkraft. Für uns ist alles, was man tut, politisch. Wenn du dich zu gewissen Themen nicht verhältst, wie das einige Leute tun, verhältst du dich ja auch wieder dementsprechend.

Was ist im Punk von heute anders?
Rollo: Ich habe das Gefühl, dass nicht mehr so viele kleine unkommerzielle Konzerte stattfinden wie früher. Damals war es für uns als kleine Band gar kein Problem, Konzerte klarzumachen, wenn sich jemand hingesetzt und Leute angeschrieben oder angerufen hat. Heute höre ich oft, dass Bands fragen: Wo kann man denn mal spielen? Früher hat man Demo-Kassetten verschickt oder ein Konzert gespielt und am Ende des Abends kamen zwei Leute an und schlugen neue Konzerte vor. Da gab es in jeder Stadt einen Laden, wo Leute nach der Schule, Uni oder Feierabend Konzerte veranstaltet haben, nur aus Spaß an der Sache. Heute musst du dich an Kulturzentren oder kommerzielle Veranstaltungen wenden, was echt schade ist.

Wo hat euch der DIY-Ethos damals hingebracht?
Rollo: Unser drittes Konzert haben unsere Freunde in einem größeren Einfamilienhaus veranstaltet, einer Abrisshütte. In den Konzertraum hätten maximal 50 Leute reingepasst, es waren aber nur sechs da. Wir haben auf dem Boden gespielt, aber das hat alles keine Rolle gespielt. Es war total geil, da hinzufahren und dass überhaupt Leute gekommen sind. Wir haben wild gefeiert, alle lagen sich in den Armen. So war das früher: Man hat die kleinen Konzerte gespielt und sich mit den Veranstaltern angefreundet. Die haben mit Mühe Abende zusammengestellt. Wenn man heute Veranstaltern die Support-Band überlässt, nehmen sie welche, die kein Geld kosten und aus der gleichen Stadt kommen—das ist ihnen scheißegal. Ich finde schade, dass das etwas abgenommen hat, das war immer das Geile am Punk.

Würdet ihr sagen, Turbostaat ist euer Job?
Marten: Das ist ein Empfinden, kein Beruf.
Rollo: Ein Glücksfall.
Marten: Sonst würden wir Stütze abholen und dann auf Tour fahren haha.
Rollo: Früher haben wir auch irgendwelche lausigen Jobs gemacht, um auf Tour fahren zu können. Unser aller Leben war ausgerichtet auf diese Band. Am Gegenteil sind andere Bands im Laufe der Jahre zerbrochen, weil einer oder mehrere dann doch irgendwie was anderes wollten und für die Band keinen Platz und Zeit mehr hatten. Bei uns war von Anfang an immer klar: Wir wollten spielen, und zwar viel.
Marten: Das mit dem Broterwerb spielte überhaupt keine Rolle.
Rollo: Wenn man was zu essen brauchte, musste es so besorgt werden, dass es mit der Band gepasst hat. Ich habe ewig lange Jahre in der Kneipe hinter'm Tresen gestanden. Weil ich sagen konnte, dann und dann will ich arbeiten und dann und dann kann ich nicht, weil ich weg bin. Andere Bands waren fertig mit studieren und wollten dann was anderes. Ist ja legitim, aber ist geil, dass dies bei Turbostaat nie passiert ist und alle sich das als Lebensmittelpunkt ausgemacht haben.

Das hat was mit ungebremster Leidenschaft zu tun, die man gar nicht einzwängen kann.
Marten: Man selber erlebt das ja immer anders. Wir hängen ja auch viel rum und bohren in der Nase, stehen nicht tagtäglich auf und tüfteln: der Sound, der Sound, der Sound.