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You Need to Hear This

Gerard ist Optimist ohne Grund

Es kommt nicht oft vor, dass wir einen Musiker zweimal innerhalb eines Jahres interviewen. Bei Gerard machen wir aber eine Ausnahme.

Foto: Maximilian Theßeling.

Es kommt nicht oft vor, dass wir einen Musiker zweimal innerhalb eines Jahres interviewen. Ehrlich gesagt kam das noch nie vor. Aber mit Gerard könnten wir uns noch zehnmal treffen, und zwar nicht nur, weil der gebürtige Oberösterreicher und Wahlwiener ein sehr sympathischer Zeitgenosse ist, er hat mit seinem dritten Album Blausicht auch eine der wichtigsten Platten des Deutschrap-Jahres hingelegt.

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Gerard erzählt die Geschichte eines Mitt-Zwanzigers, dem die große weite Welt offen steht und der eigentlich alle Möglichkeiten haben sollte. Normalerweise würden solche Artikel, gerne von 50-Jährigen Feuilletonisten und selbsternannten Zeitgeistforschern verfasst, jetzt in folgende Richtung abschweifen: Leider hat dieser Typ, genauso wie seine ganze Generation, keinen Plan, keinen Biss und keinen Mut—wie es ein Welt-Redakteur schreibt—diese Möglichkeiten am Schopf zu packen. Doch dem ist nicht so, denn Gerard macht mit diesem Album Lust auf das Leben und hat uns, nicht zuletzt wegen des in Richtung Cloudrap schielenden Klangteppichs seines Produzentenkumpels NVIE Motho, einen kleinen Klassiker geschenkt.

Wir haben ihn nach seinem Auftritt und Interview beim Red Bull Music Academy Radio in Berlin abgefangen und mit ihm über Mike Skinner, unvermeidlichen Optimismus und den „Gerard-Flow“ gesprochen.

Du hast gerade als letzten Song The Streets anspielen lassen. Er scheint ein großes Vorbild für dich zu sein, was schätzt du an ihm besonders?
Gerard: Ich bin einfach ein Fan davon, wie Mike Skinner Songs schreibt, also von Alltagssituation aufs große Ganze zu schließen. Seine Alben sind einfach sehr durchdacht und rund. Das versuche ich bei meinen Alben auch zu schaffen.

Hast du dir etwas abgeguckt, wie er an die Albumproduktion herangeht?
Ich habe tatsächlich seine Biografie gelesen. Dort schreibt er, dass er sehr lange an einem Song sitzt, was ich nicht gedacht hätte. Für „Dry Your Eyes“ hat er zweieinhalb Monate gebraucht. Ich saß für das Album auch sehr lange an den Texten, so dass ich mir fast schon dämlich vorkam, einen ganzen Nachmittag an einem Zweizeiler zu schreiben. Mike Skinner hat auch gesagt, dass man sich in seiner Karriere an drei, vier Songs erinnert. Wenn man die Relation einer zehnjährigen Karriere und zwei Monaten Arbeit sieht, dann macht das schon Sinn.

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Kannst du mal erklären, was der Albumtitel Blausicht genau bedeutet?
Das ist eine Zusammensetzung aus „ins Blaue leben“ und „Aussicht auf morgen“.

Mir ist aufgefallen, dass du sehr optimistisch in die Zukunft schaust.
Genau, auch wenn ich in vielen Interviews in den letzten Wochen darauf angesprochen wurde, dass die Platte sehr melancholisch ist. Das finde ich gar nicht. Es ist ein sehr positives Album geworden.

Woher kommt diese optimistische Grundeinstellung auf das Leben?
Na, weil einem nichts anderes übrig bleibt. Als ich mit meinem Jura-Studium fertig war, habe ich überlegt, was ich mache. Will ich jetzt zwei, drei Jahre wieder irgendetwas machen, oder entscheide ich mich jetzt und mache ein Album? Dann habe ich mir Selbstmantra-mäßig Ansporn gegeben und ein nach vorne blickendes Album gemacht.

Du versuchst ja durch deine Geschichte darauf zu schließen, wie unsere Generation tickt. Klingt man dann nicht schnell sehr anmaßend?
Ich erzähle nur meine Geschichte und ich bemühe mich sehr, den Zeigefinger in der Tasche zu lassen. Ich will nicht predigen, sondern nur von meinem Leben erzählen. Wenn sich da jemand wiederfinden kann, dann ist es cool, aber ich will auf keinen Fall für eine ganze Generation sprechen. Um Gottes Willen.

Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist, solche Themen zu fassen. Oder ist es bei dir einfach so herausgesprudelt?
Voll. Ich erzähle ja Geschichten, die ich alle in den letzten Jahren erlebt habe. Aber nach den 13 Songs war dann auch Schluss. Die Überlegung kam auf, noch drei Songs für eine Special-Edition zu machen und ich meinte: Nee, auf keinen Fall. Jeder Song ist für sich ein Statement. Die beiden Bonus-Songs, die jetzt drauf sind, sind schon vorher entstanden.

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Warum hast du dich entschieden, einen so futuristischen Soundteppich zu wählen?
NVIE Motho, einer meiner besten Freunde, hat das Album zu 80 Prozent produziert und der Rest ist von den Wiener Produzenten Mainloop und Fid Mella und von DJ Stickle. Der Sound hat sich sehr natürlich entwickelt, weil wir alle Fans von dieser Art Musik sind und die Blogs immer nach dem neuesten Scheiß durchforsten. Wir haben aber auch „boombapigere“ oder „straightere“ Beats eingefügt, um den Sound zu erden, damit er nicht zu sehr abdreht und wegfliegt.

Für dich selbst oder aus Angst, dass die Platte nicht bei der HipHop-Gemeinde ankommt?
Nee, gar nicht. Ich liebe diese Art von Beats ja auch, keine Frage. Außerdem geht ein Song wie „Wie neu“, der harte Drums hat, live super ab.

Ist es schwerer auf langsamen, elektronischen Beats zu rappen? Rapper sagen oft, es ist schwieriger, langsam als schnell zu rappen.
Ganz ehrlich, ich weiß auch nicht, wie viele Takte ich da rappe. Ich mache einfach immer, wie ich es mir denke. Auf YouTube lese ich: Wieso kommt das Reimwort nicht jetzt, sondern zwei Zeilen später? Oder: Warum rappt er in den Takt hinein? Aber ich höre viel UK-Rap und da ist es Gang und Gäbe, dass man mit Pausen und verschiedenen Flows arbeitet. Ich glaube, auf YouTube checken das die Leute mittlerweile auch und sprechen sogar vom „Gerard-Flow“. (lacht)

Wenn man so reflektiert über sein Leben rappt wie du, passen da überhaupt noch die Rap-klassischen Kicks und Snares oder muss es zwangsläufig in Richtung Cloudrap gehen?
Wahrscheinlich schon. Aber wir machen diesen Sound nicht, weil er gerade so angesagt ist. Wir feiern das schon ewig und arbeiten seit zwei Jahren daran. Kanye hat sich ja auch Hudson geschnappt, wir haben also unbewusst wahrscheinlich den Zeitgeist getroffen.

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Du sprichst Hudson Mohawke an. Er scheint für dich und dein Produzententeam eine große Inspiration gewesen zu sein.
Auf jeden Fall. Der hat ja voll die Wien-Connection und hat bei uns schon vor acht, neun Jahren aufgelegt. Von daher wurden wir auch ein bisschen mit dem erzogen.

Warum hast du bis auf OK Kid keine Features drauf? Weil das Album so persönlich ist?
Ich hätte Features von sehr großen Namen haben können, aber das wollte ich dann nicht. Wir wollten lieber diese Underdog-Position haben und aus dem Nichts kommen, als ein paar Jungs, die was Geiles gemacht haben. Dann kann uns keiner vorwerfen, dass uns Rapper X hochgezogen hat. Wir hatten auch einen Refrain von einem sehr bekannten Sänger auf dem letzten Song, aber wir haben es eiskalt runtergekickt, weil es nicht gepasst hat. Aber weißt du, die Platte war mir so wichtig, dass ich nicht in zwei Jahren den Song hören will und mir dann denken muss: Hätte ich den Refrain mal selber gemacht.

Kannst du dir vorstellen, dass das Album von der breiten Masse angenommen wird? Immerhin kannst du damit eigentlich jeden in unserer Generation ansprechen.
Man müsste es schaffen, dass viele Leute es überhaupt einmal hören. Vielleicht wenn ein Song in einer Werbung kommt oder im Kino läuft. Aber darauf zielen wir nicht ab. Die beste Variante ist eh, wenn, wie bei Casper, der Erfolg aus sich selbst wächst und sich durch Mundpropaganda rumspricht, weil es einfach ein gutes Album ist.

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Mittlerweile ist die Qualität im Deutschrap einfach so gestiegen, dass man sich kein schlechtes Album erlauben kann. Das ist für uns Hörer schön, aber für die Rapper wird der Druck natürlich ziemlich hoch.
Aber man motiviert sich gegenseitig auch. Ganz ehrlich, ich will, dass mich Casper und Marteria auf einer gleichen künstlerischen Ebene sehen. Die Größe ist wieder was anderes, aber wenn die mich in Interviews loben, dann freut mich das einfach sehr. An denen will ich mich schon orientieren. Ich will einfach Statements schaffen und Klassiker bringen.

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