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Eine Untersuchung des musikalischen Röstigrabens

Warum es von Zürich nach Genf gefühlt weiter ist als von Basel nach Berlin. Ein Erklärungsversuch mit der Unterstützung von zwei Schweizer Bookern.
Foto: One Of A Million Festival, Pascal Berger

Meine erste Begegnung mit dem Gespenst Röstigraben habe ich wohl am Paléo Festival in Nyon gemacht, das in meiner Jugend zum Sommer-Standard gehörte. Das muss man sich schon erst mal vor Augen führen: Nur 2 Prozent des Publikums des grössten Schweizer Festivals sind Deutschschweizer. Rund 88 Prozent der Besucher sind Romands. Der Rest reist aus dem Ausland an. Ich als Deutschschweizer fand mich jedes Jahr neu in einem mir fremden Setting, zweihundert Kilometer von Zürich entfernt.

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Ähnlich ergeht es auch vielen Künstlern in meinem Umfeld bei Gigs in der Romandie oder im Tessin. Publikum, Feier-Potential und Kommunikation mit der Venue sind einfach anders. Was da als Hit-Song gefeiert wird, geht dort schnell mal unter, und umgekehrt. Gleichzeitig gleicht der Durchbruch in der Westschweiz einem kleinen internationalen. Ich selbst habe als Musiker schon fast jede Stadt der Deutschschweiz mehrmals bespielt, und damit bin ich nichts Besonderes. Jede Band, die etwas länger als ein Jahr durchhält, spielt sich einmal durch die östliche Hälfte der Schweiz. Aber: Nur wenige schaffen es ins Tessin, etwas mehr schaffen es in die Romandie. Und den Tessiner und Romand-Bands geht es gleich.

Fachkundige Unterstützung: Fabian Mösch und Nadia Mitic. Zvg

Um das Phänomen des musikalischen Röstigrabens zu ergründen, spreche ich mit zwei Bookern, denn die müssen den Überblick eigentlich am Besten haben. Fabian Mösch und Nadia Mitic arbeiten beide bei der Agentur Glad We Met, die schon im ersten Satz ihrer Beschreibung klar machen, warum sie die Richtigen für diesen Artikel sein müssen: "Am Anfang waren wir drei Agencys auf beiden Seiten des Röstigrabens: Breathing Hole in Baden, Braise in Lausanne und Stagency in Bern. Drei Agencys mit der gleichen Leidenschaft, Musik mit feinen Menschen zu teilen. 2017 haben wir entschieden, die Kräfte zu bündeln und fortan ausserhalb von irgendwelchen Sprachgrenzen aufzutreten."

Fabian stimmt meiner Beobachtung zu, dass wenige Künstler den Sprung über den Röstigraben schaffen. Regional funktionieren Künstler schnell mal. Aargauer Bands sind schnell in Zürich, schnell in Luzern. Diese Kreise zieht eigentlich jeder, die nächsten Schritte seien dann eher mal das Ausland, nicht unbedingt die Romandie. Auch aus Konsumentensicht ist der Röstigraben für Fabian zu spüren. Viele würden eher mal an ein Konzert einer isländischen Band als an eines einer Westschweizer Gruppe gehen – lieber The Great Park aus England als Sandor aus Lausanne. Der Reiz ist kleiner, wenn es eine Band aus Genf ist. Egal, ob man die Musik vorher gehört hat, oder nicht. Genf sei zu nahe, um exquisit zu wirken. Nadia kommt selbst aus Lausanne und kennt die Schwierigkeiten bei der Platzierung einer welschen Band in der Deutschschweiz sehr gut. "Wenn die Texte französisch sind, kann ich es noch verstehen, aber auch bei englischsprachigen und instrumentalen Acts aus der Romandie ist es nicht einfach, diese in der Deutschschweiz unterzubringen", sagt sie. Aber warum?

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Die inhaltliche Ebene

Vielleicht sind einfach die popkulturellen Wurzeln nicht die Gleichen. Nadia erzählt mir von einem Erlebnis in Bern, als ein DJ nach einem Konzert die 80er- und 90er-Hits der Deutschschweiz aufgelegt hat. "Während alle völlig ausgetickt sind, mussten wir gehen – wir haben weder etwas verstanden, noch was gekannt." Genauso würde es wohl auch einem Deutschschweizer an einer Party in der Romandie gehen. Es seien einfach nicht dieselben Bezüge.

Mit dieser unterschiedlichen musikalischen Sozialisierung ist die Schweiz keine Ausnahme. Nadia erzählt mir eine Geschichte aus Brüssel, wo sich Flamen (die niederländischsprachigen Belgier) und Wallonen (die französischsprachigen Belgier) das Kulturleben teilen. Dort steht die Venue Ancienne Belgique, die eine klassische Event-Location ist, welche jeder mieten kann. "Betreut wird die Halle von Flamen, die sich an einem Abend ansehen durften, wie etliche Besucher vor der Location campten, um rechtzeitig in die Halle zu stürmen. Diese war dann voll mit knapp 2.000 Gästen, die jedes Wort mitgesungen haben. Nur: Die Band aus Frankreich war den Betreibern überhaupt kein Begriff. Sie ist vor allem unter den Wallonen eine Legende, der Grossteil der flämischen Bevölkerung Belgiens hat wohl weder den Namen noch einen Song je gehört."

Es gibt also sowas wie eine Identität, die sich über die Sprachgrenze hinwegsetzt. Das würde zum Beispiel erklären, wieso Stress immer in der Deutschschweiz bekannter war als in der französischen Schweiz, obwohl seine Musik französisch ist: Er präsentiert einen Lifestyle, der bei uns hip ist. Da wird die Sprache schnell nebensächlich.

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Die Musik habe eine Farbe, so Nadia, die entweder die eine oder aber die andere Seite anspricht. Samba De La Muerte oder aber Pandour würden mehr im deutschen Teil der Schweiz spielen, obwohl die einen aus Frankreich, die anderen aus Fribourg kämen. Auch Fabian erkennt eine inhaltliche Ebene: Die Nähe zu Frankreich ergebe auch eine andere Sound-Erziehung, eine andere Ästhetik in den Klängen und Produktionen.


Ein Ausflug mit Pandour nach Fribourg, in die Romandie:


Die sprachliche Ebene

Seit kurzem läuft Jeans for Jesus' Single "Wosch No Chli Blibä" in den Radios der Romandie. Vorher hätte Nadia noch nichts von der Band gehört, die in der Deutschschweiz schon zum zweiten Mal einen Hype erlebt. Am Anfang wäre sie über das Schweizerdeutsch etwas erstaunt gewesen, beim Ausblenden der Lyrics hätte sie aber Begeisterung für die Musik zeigen können. Und hängt an: "Wer hört sich schon an, was Shakira singt? Ich verstehe und spreche Englisch, trotzdem höre ich sehr selten auf die Lyrics. Warum geht uns das beim Englischen oft so – und bei französischer Musik ist das eine Hürde? Wir müssen erreichen, dass man französische Musik im Deutschschweizer Radio hört und einfach nur denkt: Ah, OK, das gefällt mir."

Die Gewohnheit in den Köpfen

"Ja, wir müssen die Leute erziehen, mehr auf die Musik zu hören", sagt Nadia. Es gebe Fälle, in denen die Herkunft eines Künstlers inzwischen eher absurd als wichtig sei. Pyrit ist ein St. Galler, der in Paris wohnt und bei Swiss Music Export von der welschen Seite betreut wird. Wo gehört er in der Schweiz jetzt hin? Bis anhin macht er in der französischen Schweiz mehr von sich Reden. Oder Verveine. Sie macht elektronische Musik mit englischen Lyrics, wohnt in Belgien und gewann dieses Jahr die m4music Demotape Clinic. Der Zusatz Vevey ist so gut wie überflüssig.

Auch bei anderen Beispielen wird klar, wie sehr die Herkunft ein Image prägt, dabei aber die Musik in den Hintergrund rückt: "Frank Powers ist viel mehr als der 'Strassenmusiker aus Brugg', als der er in jedem Artikel bezeichnet wird. Seine Geschichte mag ja damit zusammenhängen, aber getourt hat er schon einiges mehr als so manche Zürcher Band und seine Musik klingt nicht speziell nach Aargau", sagt Fabian. Erzwingen solle man aber auch nichts. Fabian erzählt von einer Band, die sich gerne einfach mit "(EU)" anschreiben lässt. Wirkt auf Fabian und mich zwar etwas gewollt, aber ein Ansatz ist es.

Das Tessin wollen wir aber auch nicht vergessen. Die Tür zum italienischen Schweiz steht den beiden Bookern gerade offen, Nadia arbeitet mit Peter Kernel und Camilla Sparksss, für Fabian ist mit dem La-Tessinoise-Festival die Bandbreite an Tessiner Acts sichtbarer geworden. "Wir alle mögen Musik, wir mögen Menschen, wir sind neugierig. Ich bin sicher, dass noch viel passieren kann. Wenn die Tür erstmal offen steht, wird es langsam losgehen." Und dies ist auch nötig. In der Romandie gibt es gerade mal um die zehn spannende Venues. Wie soll eine Band da durch die "Schweiz" touren? Die Romandie braucht die Deutschschweiz. Fabian ist sich auch sicher, dass es umgekehrt genauso gilt. Schon nur, weil er aus Erfahrung sagen kann, dass viele seiner Deutschschweizer Acts die schönsten Erlebnisse in der Romandie hatten.

"Machen, anstossen, connecten", wollen die zwei Booker schlussendlich Schweizer Musikschaffenden mitgeben. Es brauche nicht unbedingt Events wie die Röstigraben Showcases, die unter anderem im Papiersaal in Zürich stattfanden. Es seien aber offene Augen und Ohren essentiell. Ein B-Sides Festival müsse nicht benennen, was es tut, es tue es einfach, die Veranstalter würden hier den wichtigen ersten Schritt machen. Sie verbinden und involvieren die verschiedensten Gruppen aller Sprachregionen der Schweiz, und das sei die Chance, die jeder Veranstalter und Booker hat, um beim Konsumenten eine neue Gewohnheit zu etablieren.


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