Eine Suche nach der perfekten Stimme

FYI.

This story is over 5 years old.

Features

Eine Suche nach der perfekten Stimme

Warum mag ich eigentlich unreine Stimmen mehr als gefestigte? Und gibt es genre-übergreifende Eigenschaften, die eine "gute" Stimme ausmachen?

Spätestens seit Bob Dylan ist wohl allen klar, dass man keine reine Stimme braucht, um Massen für sich zu begeistern. Doch ich erinnere mich an meine ersten Jam-Sessions, wo sich nur diejenigen ans Mikrofon getraut haben, die der makellos jugendlichen Popstimme am nächsten kamen. Möglichst amerikanisch, möglichst rein, möglichst gefestigt. Ein paar Jahre später fühlt es sich für mich genau gegenteilig an: Die Radioeintagsfliegen werden ausgetauscht, langfristig bleiben die gebrochenen, am Ton vorbeischrammenden oder verrauchten Stimmen. Doch was braucht denn ein Stimmorgan genau, um aus der Masse hervorzutreten?

Anzeige

Ich höre mir zum zwanzigsten Mal die Live-Session von Lykke Li's Überhit "I Follow Rivers (Live on the Moon)" an. Nicht nur die mechanischen Bewegungen der bleichen Lykke und die minimalistisch ausgestattete Band heben diese Live-Aufnahme von der Studio-Produktion ab: Die am reinen Ton kratzende Stimme, die am Wortende verschluckten Vokale, der schwedische Akzent. Wird einem dies alles im Gesangsunterricht doch untersagt, hier schafft es Charakter, und ich glaube, dass es das ohne diese Unreinheiten nicht täte. Ist es diese Ehrlichkeit, die auch Künstler wie King Krule, Nicolas Jaar oder Ian Curtis mit ihrer Stimme brillieren lassen?

Ich frage bei meiner guten Freundin Meret Roth nach. Sie ist Gesangslehrerin, hat eine klassische Ausbildung, arbeitet unter anderem am Zürcher Opernhaus, steht aber genauso auf Endo Anaconda wie ich—also meine perfekte Ansprechpartnerin. Dass aber genannte Künstler auf mich einen ehrlichen, die klassische Stimme dagegen eher einen künstlichen Eindruck hinterlassen, will sie erstmal hinterfragen: "Es ist spannend, dass im Zusammenhang mit Opernstimmen oft von Künstlichkeit gesprochen wird. Die klassische Stimmbildung ist die der menschlichen Anatomie und Stimmfähigkeit am nächsten stehende Stimmtechnik—also eigentlich das komplette Gegenteil von Künstlichkeit", erklärt sie. Man versuche, mit der klassischen Stimmbildung das Grösstmögliche aus der menschlichen Stimme herauszuholen. So können Opernsänger, welche diese Technik perfektionierten, den grösstmöglichen Umfang ihrer Stimme nutzen—mehrere Oktaven—, können ihrer Stimme in der Lautstärke alles von Pianissimo zu Fortissimo abverlangen (klassische Sänger singen stets ohne Mikrophon) und können sehr lange singen, ohne ihre Stimme negativ zu belasten oder heiser zu werden. Als Beispiel dazu nennt Meret Wagner Opern, in denen die Sängerinnen und Sänger mehrere Stunden über dem Klang eines grossen Orchesters brillieren müssen. In diesem Zusammenhang ist Gesang als eine Form von Leistungssport zu sehen: Man perfektioniert die Technik, seine Anatomie zu nutzen, um sich dieser Belastungen auszusetzen, ohne dabei sich und seinen Körper kaputt zu machen.

Anzeige

Da nicht jeder Mensch automatisch Leistungssportler ist, seinen Körper also nicht spezifisch technisch fördert und perfektioniert, sei auch die Form, seine Stimme für Operngesang zu nutzen, nicht sehr verbreitet. Da sich der Klang der Stimme so anders anhört, als es die meisten von sich kennen, wird dies oft als künstlich angesehen, obwohl es, so erklärt mir Meret, rein anatomisch gesehen, die natürlichste Form der Stimmnutzung sei.

Verstanden. Ich blende die Argumentationsebene von Künstlichkeit und Authentizität aus. Für Meret ist das grundlegende Kriterium für eine "gute" Stimme erstmal Gesundheit: "Der Stimmapparat muss von Grund auf korrekt funktionieren, sprich, die Stimmlippen sollten nicht geschwollen sein und ganz schliessen können, die Muskulatur drum herum darf nicht falsch beansprucht werden, so, dass die Stimmfunktion beeinträchtigt wird", erklärt sie. Unter diesen Voraussetzungen sei der menschliche Stimmapparat sehr belastbar, wenn er gesund ist und keine Hyperfunktion vorliegt.

Ich sollte mich vom Bild lösen, dass die jeweilige Technik, eine Stimme zu benutzen, schon deren Charakter ausmacht. Diesen, lerne ich weiter, machen eher anatomische Gegebenheiten eines jeden individuellen Menschen aus. Ob ich also eine Stimme als gut, respektive als schön, angenehm oder berührend empfinde, ist erstmal eine subjektive Wahrnehmung. "Genauso, wie es grosse, schmächtige oder kräftig gebaute Menschen gibt, ist der Stimmapparat jedes Menschen anders und sitzt in einem unterschiedlichen Resonanzkörper, der für den Gesang entweder geeignet ist oder nicht", sagt Meret. So hat jede Stimme ihre eigene Klangfarbe und Möglichkeiten und je nach natürlicher Klangfarbe der Stimme, passt ein anderer Musik- beziehungsweise Gesangsstil dazu: Wenn eine Stimme von Natur aus hell, hoch und klar ist, ist wohl das Singen in einer Metal-Band eher unvorteilhaft. Wenn eine Stimme von Natur aus dunkel und voll klingt, kann man einen rockigen Gesangsstil viel eher in Betracht ziehen.

Anzeige

Um auf meine Frage zurückzukommen, warum es im Gesangsunterricht also vielleicht nicht förderlich ist, kratzende, pressende oder schreiende Stimmen generell zum Thema zu machen: Es hat einfach nicht jeder die Voraussetzung dazu, so zu klingen. Spezielle Stimmfarben sind vielleicht genau deshalb speziell, weil sie nicht einfach imitierbar sind.

"Jeder Mensch ist von Natur aus individuell gebaut. Man wird ebenso mit X-Beinen oder kurzen Armen geboren wie mit einer tiefen, hellen oder klaren Stimmfarbe. Wenn man aber einen Künstler in seinem Stimmklang zu imitieren versucht, der nicht eine ähnliche Stimme wie die eigene hat, kann es für die eigene Stimme sehr schnell sehr gefährlich werden. Man zwingt mit Muskelkraft seine Stimme in einen Klang, für den die eigene Anatomie nicht gebaut ist", gibt mir Meret zu verstehen.

Wir sind also bei einem wichtigen Punkt angelangt. Die Anatomie eines Sängers macht dessen Stimme. Keine spezifische Technik, kein spezifischer Ausdruck, kein spezifischer Umgang: Entwickelt sich die Stimme mit dem Künstler mit, imitiert man also nicht die Stimme eines ganz anderen Charakters, macht man schonmal alles richtig. Und sonst unter Umständen vieles falsch: Meret erzählt, dass es besonders gefährlich sei, bei Imitationen von Sängern, die einen "kaputten" Klang haben—also rauchig, tief und gebrochen. Man verstelle seine Stimme so, dass die normale Stimmfarbe verschwindet und die Stimmlippen nicht mehr korrekt aneinander schwingen. Die dadurch entstehenden Stimmknötchen, die man sich wie leichte Schürfungen auf den Stimmbändern vorstellen könne, beeinträchtigten die Stimmfunktion und -kraft sowie den Stimmklang extrem und könnten der Stimme ein Leben lang schaden.

Anzeige

Durch das Unterrichten kennt Meret diese Probleme. Die Geschädigten erleben dann, wie sie sich mit ihrer Stimme nicht mehr richtig und persönlich ausdrücken können, was wiederum eine Veränderung des Stimmcharakters mit sich bringt. Stimmknötchen kann man nur operativ entfernen oder die korrekte Stimmtechnik durch langjährige und minutiöse logopädische Stimmarbeit wieder erlernen.

Meret selbst hört sehr gerne den Klang von individuellen und rauchigen Stimmen. "Nur können wir diesen Klang nicht alle so reproduzieren. Die Stimme ist eine der wichtigsten Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen im Alltag, wie auch in der Musik. Man sollte hierbei stets auf sich und seine Stimme hören und sie nicht in etwas Unnatürliches reinzwängen, was langfristig schadet."

Eine Kohärenz zwischen der eigenen Persönlichkeit und der Stimmvorliebe sieht auch Till Ostendarp—seines Zeichens Sänger und Dirigent des Pirmin Baumgartner Orchesters und Live-Musiker in etlichen Bands: "Mit 15 machen sich die meisten noch keine Gedanken über Lyrics, Ausdruck und die Probleme des Lebens." Till erzählt von seinen musikalischen Anfängen, in denen er genauso spielen wollte wie Joey Jorison—mit denselben Skills, mit derselben Wucht. Für ihn liegt das vielmehr am Jungsein, als an einer Schule, die einem etwas falsch beibringt. "Man muss halt ein bisschen suchen und erwachsen werden, um James Blake oder Techno zu verstehen." Zudem sei ja alles auch eine Frage des Geschmacks.

Anzeige

Till ist unter anderem mit dem Zürcher Musiker Faber auf Tour, dessen Stimme sich, wüsste man nicht, wie jung der Herr ist, am ehesten einem alkohol- und zigarettengeschwängerten Leben zuordnen lassen würde. Auf die Frage, ob Fabers Musik auch ohne eine derart spezielle Stimme funktionieren würde, verweist Till auf das Gesamtpaket. Würde irgendetwas fehlen, würde das so nicht funktionieren. Oder anders gesagt: Faber mit belanglosen Texten wäre genauso komisch, wie Faber mit Engelsstimme. Zudem habe Faber auch nicht immer so roh und aggressiv gesungen. Das habe sich zusammen mit der Musik, den Texten und der Instrumentalisierung entwickelt, genauso wie alles andere mit der Stimme. Musik ist ein komplexes Geflecht, in dem sich alle Faktoren gegenseitig beeinflussen.

In die Kategorie Faber würde auch ein Tom Waits oder ein Gill Scott-Heron gehören. Nicht nur die Texte frönen dem Bukowski-esken Leben, sondern auch in der Stimme schlägt sich das Gesungene nieder. Der Inhalt wird zum Stilmittel. Wir sind wieder bei der Persönlichkeit angelangt: Der Kiffer singt verschliffen, die Aktivistin schreit, der Sensible wispert. Jedem die seine Stimme. Macht irgendwie Sinn. Schlussendlich tendiert man wohl auf die Künstler, denen man sich persönlich wie auch klanglich am nähesten fühlt.

Ich lasse Till meine Suche nach der perfekten Stimme schliessen, ganz einfach weil er den Hammer auf den Nagel trifft: "Die Stimme muss sich in die Musik integrieren oder umgekehrt." und "Jede Stimme passt—man muss nur den richtigen Platz finden."

Laut Till Ostendarp die "beste Live-Performance ever".