„Selbst der beschissenste Abend auf Tour ist immer noch besser als ein regulärer Job”—Unterwegs mit der letzten echten Rock’n’Roll-Band

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Erlebnisbericht

„Selbst der beschissenste Abend auf Tour ist immer noch besser als ein regulärer Job”—Unterwegs mit der letzten echten Rock’n’Roll-Band

Wir haben Dead Lord begleitet und bekamen einen realistischen Eindruck vom sagenumwobenen „Sex, Drugs & Rock’n’Roll-Lifestyle“ im Jahr 2016.

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„Sex, Drugs & Rock'n'Roll"—ein Spruch, der durch die Exzesse legendärer Rockgrößen wie Guns N' Roses, Black Sabbath oder den Rolling Stones zum Lebensmotto eines jeden Pubertierenden wurde. Damals wurde sich auf Tour jegliche Substanzen im ungesunden Übermaß reingepfiffen, Alkohol zum Runterkommen getrunken und Groupies gruppenweise aufs Hotelzimmer geladen. Doch was ist davon eigentlich geblieben? Wie viel von diesem Mythos steckt heutzutage noch im Rock? Wir haben die schwedischen Unterground-Helden Dead Lord fünf Tage lang auf ihrer gemeinsamen Tour mit Night Viper und den Lizzies begleitet und bekamen einen Eindruck vom sagenumwobenen „Sex, Drugs & Rock'n'Roll"-Lifestyle im Jahr 2016.

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Salzburg: Aftershowparty-Verbot im Bus

Nach einer sehr herzlichen Begrüßung landet auch schon das erste Bier in meiner Hand. Dead Lord sind gefährlich gut gelaunt und trinkfest wie man an sich ein Rudel Wikinger auf Beutezug eben vorstellt. Im Fachjargon nennt man diesen Zustand „Tour-Modus". Um trotz der hohen Schlagzahl stets fit zu bleiben, gibt es eine Geheimrezeptur: Underberg. Gitarrist Olle Hedenström dazu: „Wenn du morgens, mittags und abends einen Underberg trinkst geht es dir gut."

Nach dem Soundcheck, das zweitnervigste Prozedere neben dem täglichen End- und Beladen des Anhängers, steht das verspätete Mittagessen auf dem Plan. Wiener Schnitzel und halbgare Kartoffelecken für die Fleischfresser, Vegetarier bekommen Pizza.

Die Show läuft gut, heute wird viel Merchandise verkauft. Das ist wichtiges Geld für die Zeiten zwischen den Tourneen. Sänger Hakim verdeutlicht: „Wenn wir einen Monat unterwegs sind, können wir im folgenden von dem Erspielten und den Erträgen des Merchandise leben. Manchmal auch etwas länger, da wir während einer Tour meistens kaum Ausgaben haben. Ein gewisses Risiko bleibt trotzdem. Sollte es bis zur nächsten Tour länger dauern, halten wir uns mit Jobs über Wasser." Der Frontmann repariert Gitarren, Schlagzeuger Adam arbeitet in Bars und Bassist Martin unterrichtet Musik. Gitarrist Olle spielt obendrein noch in der Doom-Band Kongh und schafft es laut Hakim „irgendwie ohne einen weiteren Job über die Runden zu kommen." Einen Plan B gibt es nicht, zumindest nicht für den selbstsicheren Sänger: „Wenn es irgendwann nicht mehr funktioniert oder ich keine Lust mehr habe, mache ich eben etwas Neues. Bisher hat das immer ganz gut funktioniert."

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Weil die Venue Rockhouse schon bald schließen wird, soll die Party in den Bus verlegt werden, doch der Fahrer duldet keine Feierlichkeiten im Doppeldecker. Die Bands sind wütend und enttäuscht. Bevor es eskaliert, bietet der Veranstalter an, das Rockhouse eine Stunde länger zu öffnen. Sein Angebot wird dankend angenommen. Aus einer Stunde werden zwei, vielleicht auch drei.

Wien: Gras und Begrüßungskot

Katerstimmung. Bis 13:00 Uhr ist auch die letzte Party-Leiche aus ihrer Koje geklettert. Das Frühstück im Bus fällt sparsam aus. Toastbrot mit Margarine, Chips, Konterbier und natürlich Underberg. Mehr hat der Kühlschrank nicht zu bieten. Bands und Fahrer ignorieren sich gekonnt. Gegen 14:00 Uhr parken wir vor dem Viper Room, einem Live-Club im Herzen von Wien. Olle verschwindet im Herrenklo um nur wenige Sekunden drauf sichtlich angewidert zurückzukommen. In beiden Toiletten schwimmen bereits  Häufchen. „Wer zur Hölle macht sowas?", ruft der Schwede durch die Lokalität. Betretenes Schweigen. Die Täter können nicht gestellt werden. Zeit für die Körperpflege. Die Dusche ist so klein, dass sich nur erfahrende Höhlentaucher in ihr zurechtfinden können. Dead Lord haben heute keine Lust und verschieben die Reinigung auf morgen.

Die Show ist besser besucht als am Vortag, also reißen die Schweden alles ab. Weil auch der Viper Room recht früh schließt, wird die Party auf die Straße verlegt. Ein Joint macht die Runde. „Gras kommt vor einem Konzert nicht in Frage, denn es fördert nicht unbedingt die Energie, die man für eine gute Rock-Show benötigt. Andere Drogen stehen vorher auch nicht zur Debatte." Der Fronter hat bereits seine Erfahrungen gemacht: „Auf dem Muskelrock Festival habe ich wohl ein wenig übertrieben. Ich kann mich nur noch an die ersten Stunden erinnern. Was danach passierte, weiß ich nicht mehr. Es ist kein besonders gutes Gefühl, wenn dir andere Leute erzählen, was du alles angestellt hast," er lacht verschmitzt und fährt fort: „Aber das ist alles halb so wild. Im Normalfall trinken wir zu viel oder sind dicht bis in die Haarspitzen. Sollte es zu wild werden, haben wir ja immer noch unsere Tourmanagerin, die uns drauf hinweist, besser ins Bett zu gehen. Wirklich problematisch wäre es nur, wenn jemand aufgrund harter Drogen schlechte Konzerte spielt oder nicht mehr zu den Proben kommt. Das war jedoch noch nicht der Fall."

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Zur großen Überraschung aller hat der Busfahrer heute kein Problem mit einer Aftershowparty. Während ein Drittel der Reisegemeinschaft in die Betten hüpft, verteilt sich der Rest im unteren Teil des Busses, lacht und gießt sich gegenseitig Bier und Rotwein in die Münder. Erst um fünf Uhr in der Frühe taumeln alle in die Kojen.

Budapest: Hangover des Todes

Der Schädel dröhnt. Um 13:00 Uhr stehen alle (mehr oder weniger) parat und erledigen den Aufbau. Das Catering besteht aus Nudeln mit Pesto, Tofu, Reis und einer braunen Soße mit Fleischeinlage, das sich nur schwer unter den überdimensionierten Fettaugen erahnen lässt. Der lokale Promoter hat sogar einen Kuchen gebacken, auf den er mit Zuckerguss die Namen der drei Bands geschrieben hat. Süß!

Heute hat jede Band ihren eigenen Backstage, mit ausreichend Bier, Wein, Wasser und Knabbereien. Wir hören Van Halen, Kiss, plaudern und trinken den Kühlschrank leer. Zwei weibliche Fans warten in der Eingangshalle (vier Stunden vor Einlass) und hoffen, ein paar Fotos mit Dead Lord abzustauben. Diese lassen sich natürlich nicht lange Bitten und spurten in Windeseile nach vorne. Man ist freundlich zueinander, doch keine der Damen schafft es in die Kojen der Schweden-Rocker. Wer einen weiblichen Fan mit in den Bus nehmen möchte, was allerdings nur höchst selten vorkommt, muss das vorher mit der Tourmanagerin absprechen. Weitere Regeln für den Umgang mit Groupies gibt es nicht. Hakim spricht Klartext: „Jeder kann tun und lassen was er will. Es gab eine Zeit, in der ich es ständig drauf angelegt habe, mit möglichst vielen Frauen ins Bett zu steigen. Mittlerweile bin ich etwas ruhiger." Adam ist in einer festen Beziehung, Martin kommt gerade aus einer sehr langen. „Olle ist der Frauen-Magnet. Er lässt nichts anbrennen," beschreibt Hakim den Gitarrist. „Man kann uns jedenfalls nicht mit Mötley Crüe vergleichen. Wir sind nette Typen, die sehr respektvoll mit anderen Menschen umgehen. Außerdem müssen wir oft direkt nach den Konzerten abbauen und zum nächsten Veranstaltungsort fahren. Es bleibt also gar keine Zeit für Sex."

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Das ungarische Publikum ist unerwartet alt—zumindest verglichen mit den beiden Konzerten in Österreich. Hier scheint kaum jemand unter Ende dreißig zu sein. Das macht aber auch nichts, denn die Budapester sind in Partylaune und brüllen sich die Seele aus dem Leib. Ein besonders aufgeregter Fan fordert schon nach dem zweiten Song die Zugabe.

Viel Zeit zum Feiern bleibt leider nicht, denn für morgen steht das ca. 700 km entfernte Breslau auf dem Plan. Schnell organisiert Martin ein Rollbrett auf dem Olle und ich alles Ess- und Trinkbare aus dem Backstage stapeln und anschließend mit einem beachtlichen Tempo durch die langen Gänge schieben. Kurz vor dem Ausgang geschieht das Unglück: Eine Flasche Rotwein geht zu Bruch, keine 30 Sekunden später die nächste. Der Security sieht den roten Traubensaft die Treppen herunterströmen und stürmt auf uns zu. Wir packen, was noch brauchbar ist und sehen zu das wir Land gewinnen. Ohne nennenswerte Blessuren gelangen wir in den sicheren Bus, der sofort den Motor startet.

Breslau: Der totale Abfuck

Mit zweistündiger Verspätung trudeln wir ein. Es regnet, es ist kalt und Breslau wirkt so grau, wie in Tante Helgas Erinnerungen an den Ostblock aus dem Jahr 1981. Missmutig verlässt einer nach dem anderen den Bus und verschwindet schnell im Firlej, der heutigen Venue. Der Konzertraum ist schick und geräumig. Leider findet die Show in einem Kabuff nebenan statt, das kaum genug Platz für das Equipment bietet.

Im Backstage wartet schon das Essen. Eine Hand voll Obst, Weißbrot und Margarine. Wurst und Käse gibt es auch, die zur großen Freude der Vegetarier, Scheibe für Scheibe abwechselnd drapiert wurden. Das Hauptgericht besteht aus einem kleinen Topf voll Suppe, mit der sich nicht mal die Hälfte, der Reisegruppe sättigen ließe. Mit Bier wollen die Musiker der Fassungslosigkeit entgegenwirken, doch der Veranstalter rückt nicht mehr als eine Kiste raus, was in etwa eineinhalb Flaschen pro Musiker der drei Bands bedeutet. Tourmanagerin Cat schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Sie wirkt, als stünde sie kurz davor den gesamten Laden in Flammen aufgehen zu lassen, bleibt jedoch cool.

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Es kommen mehr Zuschauer als erwartet: 25. Diese nehmen sofort auf den Holzkisten Platz, die im Halbkreis vor der Bühne aufgestellt wurden. Man zieht es tatsächlich vor zu sitzen. Eine blonde Dame, deren voluminöse Brüste beinahe aus ihrem knappen Leberoberteil plumpsen, tanzt sehr lasziv vor Gitarrist Olle. Als dieser sie entdeckt, wandern seine Mundwinkel steil nach oben. Die Schweden geben ordentlich Gas, doch während des vierten Songs fällt der Strom aus. In weniger als 10 Sekunden hat jeder sein Instrument abgelegt und ist von der Bühne verschwunden. Wenn Blicke töten könnten, bräuchte Hakim einen Waffenschein.

Nach zehnminütiger Zwangspause funktioniert der Strom wieder und die Band fährt mit ihrem Programm fort—jetzt noch energiegeladener als zuvor. Die Leute haben schließlich für eine geile Rock-Show bezahlt. Ein alter Herr kramt ein großes Tablett aus seiner Tasche und beginnt die vier Protagonisten aus einem Meter Entfernung zu filmen. Dann entdeckt er die tanzende Dame und richtet fortan die Kamera nur noch auf sie. Sein Lechzen und Sabbern ist ekelhaft.

Olle schlendert noch eine Weile durch die Bar, aber die üppige Blondine ist nicht mehr aufzufinden. „Ich habe nichts gegen Groupies, aber um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht dran erinnern, jemals eine Dame getroffen zu haben, die sagte: Ich will mir dir schlafen, weil du ein Musiker bist. Auf der anderen Seite habe ich festgestellt, dass es als Musiker einfacher ist, eine nette Nacht zu haben, warum auch immer. Prinzipiell habe ich zu Hause mehr Sex als auf Tour."

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Wieder im Backstage macht es sich Hakim mit einer Flasche Wodka bequem und beginnt zu plaudern: „Klar fragt man sich an einem Abend wie heute: Warum zur Hölle mache ich das alles überhaupt? Wenn man viel unterwegs ist, weiß man jedoch, dass sowas eben passiert. Auch die beschissenen Erfahrungen gehören dazu. In der Regel landen wir auf jeder Tour an einem grauenvollen Ort wie diesen. Damit muss man leben. Also versuche ich das Beste draus zu machen, betrinke mich und hoffe, dass es morgen besser sein wird." Er wirkt müde, kann den Frust nur mäßig überspielen. „Ist es das wirklich wert?", frage ich. „Klar ist es das. Wir wollen Musik machen, Songs schreiben und so viel touren wie möglich. Man weiß zwar nie, was einen am nächsten Tag erwartet, aber wir sehen die unterschiedlichsten Orte und treffen jeden Tag neue Menschen. Das ist ein abenteuerliches und größtenteils sehr spaßiges Leben. Deshalb haben wir uns dafür entschieden. Andere Leute arbeiten von morgens bis abends und sterben irgendwann. Ich kann mir so ein Leben nicht vorstellen." Er nimmt einen ordentlichen Schluck aus der Flasche und stellt mit einem süffisanten Grinsen fest: „Selbst der beschissenste Abend auf Tour ist immer noch besser als ein regulärer Job. Man kann sich ja betrinken."

Berlin: Alles wird gut

Gegen 12:00 Uhr erreichen wir das Urban Spree am Fuße der Warschauer Brücke. Überall stehen leere Bierflaschen rum, es müffelt. Hier wurde gestern ausgiebig gefeiert. Der Backstage ist so gemütlich wie der Rohbau einer Bahnhofshalle, aber die Vorfreude auf den Abend lässt die Band drüber hinwegsehen. Dead Lord lieben Berlin und können es kaum erwarten, ihre Verstärker aufzudrehen.

Das Urban Spree platzt aus allen Nähten. Alle Hits werden von den Fans leidenschaftlich zelebriert. Polen ist längst vergessen. Die glücklich verschwitzten Gesichter von Hakim, Olle, Martin und Adam Gesichter lassen keinen Zweifel daran.

Mehr Infos zu Dead Lord findet ihr auf Facebook.

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