Wir haben mit einem Freiwilligen gesprochen, der Festivalbesuchern auf Drogentrips hilft
Foto: Thijs Roest 

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Festival Guide

Wir haben mit einem Freiwilligen gesprochen, der Festivalbesuchern auf Drogentrips hilft

"Als wir auf ihm saßen, dachte er, wir würden ihn am Boden festnähen, damit wir seine Organe ernten und seine Genitalien austauschen könnten."

Dieser Artikel ist Teil des VICE Guides für Festivals, alle Texte findet ihr hier.

Das Psy-fi Trance-Festival in Leeuwarden ist das einzige Festival in den Niederlanden mit einer toleranten Drogenpolitik. Dort kann man offiziell legale Psychedelika kaufen, die Inhaltsstoffe seiner Drogen testen lassen und 2015 gab es nach dem Vorbild von Festivals wie dem Burning Man in den USA und dem Boom Festival in Portugal zum ersten Mal ein spezielles Zelt für Menschen, die einen schlechten Trip erleben.

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Ein großes Freiwilligenteam leistet dort die sogenannte "Psy-Care", wörtlich Pflege der Psyche. Das Psy-Care-Zelt ist also eine Art Erste-Hilfe-Station für den Geist anstatt für den Körper. "Einige Festivalbesucher sind völlig nüchtern und möchten nur über eine schwierige Erfahrung sprechen, die sie in der Vergangenheit während eines Trips gemacht haben", erzählt Joost Breeksema, "doch die meisten haben eine bewusstseinserweiternde Substanz eingenommen und sind mittendrin in der schlechten Erfahrung. Wir unterstützen sie und versuchen dabei zu helfen, aus dem negativen Gefühl etwas Positives zu machen."

Foto: Thijs Roes

Joost ist einer der Freiwilligen, die damals während des gesamten Festivals im Psy-Care Zelt tätig waren. Er hatte das vorher schon auf dem Boom Festival und dem Burning Man gemacht. Sein Interesse an Psy-Care hat mit seiner Arbeit für Stichting OPEN zu tun, einer niederländischen Organisation, die sich für eine wissenschaftliche Erforschung von bewusstseinserweiternden Drogen einsetzt.

"Seit langem erforschen Menschen die Auswirkungen psychedelischer Substanzen auf unser Gehirn. Sie untersuchen, welchen Einfluss sie auf das Bewusstsein haben, und wie sie bei der Behandlung von Depressionen, Abhängigkeiten, Angsterkrankungen und posttraumatischem Stress helfen können", sagt Joost. "In den 1950ern gingen Wissenschaftler davon aus, dass Psychedelika lediglich Psychosen hervorrufen. Das lag jedoch daran, dass sie ihre Experimente in Krankenzimmern durchführten, wo Probanden während ihres Trips an Maschinen angeschlossen und dazu gezwungen wurden, schwierige Fragen autoritärer Ärzte in weißen Kitteln zu beantworten." Sie entdeckten aber schnell, dass die Erfahrung einer Person stark von ihrer Umgebung beeinflusst wird. Die Wahrscheinlichkeit, eine schlechte Erfahrung zu machen, ist wesentlich geringer in einem ruhigen, bequemen Umfeld, in dem man von verständnisvollen Menschen umgeben ist.

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Genau das bietet Psy-Care. Ein Festival kann ziemlich extrem sein – hohe Temperaturen, laute Musik, durchgemachte Nächte, Freunde, die man aus den Augen verliert. Deshalb bietet das Psy-Care-Team einen sicheren Ort, an dem Konsumenten runterkommen können. "Das Zelt befindet sich an einem möglichst leisen Ort. Es ist weit weg von der Hauptbühne, aber nicht so isoliert, dass man uns nicht findet. Wir haben Matratzen mit Kissen und alles Lebensnotwendige. Decken, um sich warmzuhalten, Sonnenschutz, Wasser, Tee, ein paar süße Snacks und Buntstifte, damit Leute auf ihrem Trip ihre Kreativität ausleben können."

Außerdem gibt es im Zelt nur wenige Reize, auch wenn es nicht komplett steril ist. "Es ist kein langweiliger, weißer Ort, aber da die sinnliche Wahrnehmung während eines Trips so intensiv ist, vermeiden wir leuchtende Farben oder verrückte Muster. Es gibt auch keine Musik."

Jemandem, der eine halbe Stunde nackt im Schlamm umherirrt, oder in Panik gerät, weil er denkt, dass alle Menschen in seiner Umgebung sich in blutrünstige Werwölfe verwandeln, hilft es nicht, wenn ihn die Security aufgabelt.

Die Freiwilligen des Psy-Care-Zelts arbeiten mit der Security und dem Rettungszelt zusammen, um sicherzustellen, dass Menschen mit psychologischen Problemen nicht unnötig im normalen Versorgungssystem enden. "Anstatt Beruhigungsmittel zu verabreichen oder jemanden, der sich 'unnormal' verhält, in eine psychiatrische Klinik einzuliefern, versuchen wir, aus seiner negativen Erfahrung mit Psychedelika etwas Erträgliches und Positives zu machen. Das erreichen wir mithilfe von Empathie und indem wir persönlich auf den Konsumenten eingehen", sagt Joost.

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Jemandem, der eine halbe Stunde nackt im Schlamm umherirrt, oder in Panik gerät, weil er denkt, dass alle Menschen in seiner Umgebung sich in blutrünstige Werwölfe verwandeln, hilft es nicht, wenn ihn die Security aufgabelt. "Einmal hat mich die Security morgens um 6 Uhr angerufen, wegen eines aggressiven Typen im Rettungszelt. Ein blutverschmierter Punkrocker mit einem pinken Irokesen saß da und starrte misstrauisch um sich. Als ich ankam, war er von sechs uniformierten Arnold Schwarzeneggern eingekreist", erzählt Joost.

"Das kann für Festivalbesucher aus anderen Ländern wirklich beängstigend sein. Wenn sie eine Uniform sehen, wird ihnen plötzlich bewusst, dass sie etwas Illegales getan haben. Ich habe mich dem Kerl vorsichtig genähert. Er war Italiener, deswegen habe ich ihn in seiner Muttersprache gefragt, ob er an einen gemütlichen ruhigen Ort gehen wollte." Er habe sich sofort beruhigt, gelächelt, seinen Arm um Joost gelegt und sei mit ihm zum Zelt gekommen. Sobald er sich ausreichend beruhigt hatte, seien sie zurück zum Rettungszelt, um seine Wunden zu behandeln. "Er hatte zu viele verschiedene Drogen auf einmal genommen, darunter auch Ketamin. Er blutete, weil er immer wieder auf sein Gesicht gefallen war. Am nächsten Tag brachte er uns eine Flasche Portwein als Dankeschön."

Ein Sitter für Erwachsene auf Drogen

Freiwillige wie Joost sind als "Sitter" bekannt. Denn im Grund ist alles, was sie tun, sich neben einem Festivalbesucher während seines Trips hinzusetzen, Ruhe auszustrahlen und sich freundlich zu verhalten. Sie versuchen kein revolutionäres Therapieverfahren in Gang zu setzen, sondern reagieren einfach auf die jeweilige Lage.

Laut Joost hilft es, wenn man selbst Erfahrungen mit Psychedelika gemacht hat, sodass man weiß, in welchem verletzlichen, empfindlichen Zustand sich Leute auf einem bewusstseinserweiternden Trip befinden. Zum idealen Team gehören auch eine Krankenschwester und ein Psychologe, Freiwillige mit möglichst vielen verschiedenen Hintergründen, die viele verschiedene Sprachen sprechen, und ungefähr die gleiche Anzahl an Männern und Frauen. Zum Beispiel wird sich eine junge Frau, die sich auf einem Trip an ihren dominanten Vater oder Exfreund erinnert, eher keinem Mann anvertrauen.

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"Einmal stand ein Typ nackt im See und redete mit sich selbst. Ich habe versucht, ihn vom Ufer aus anzusprechen, aber er hat nicht reagiert. Du hast keine Ahnung, in welcher Art von Welt jemand in diesem Augenblick gerade ist. Er spricht vielleicht mit einer Welle, mit dem Universum oder mit seinem verstorbenen Vater. Ich ging ins Wasser und habe fünfzehn Minuten lang vorsichtig mit ihm gesprochen." Joost habe ihm gesagt, dass es langsam dunkel werde, dass es im Zelt gemütlich und warm sei und dass sie trockene Klamotten für ihn hätten. Schließlich sei er mitgegangen und nachdem er sich abgetrocknet und sich mit einer Decke neben Joost auf den Zeltboden gelegt habe, sei er richtig aktiv geworden. "Ich verbrachte Stunden damit, mit ihm zu zeichnen und zu malen. Nach einer Weile wurde er müde und schlief ein."

Auch, wenn jemand einschläft, bleibt der Sitter in seiner Nähe. "Einmal saß ich sechs Stunden lang neben einem Typen, ohne irgendwelchen Kontakt zu ihm zu haben. Wir haben ihn vom Festivalgelände genommen, weil er bewegungslos auf der Tanzfläche lag. Seine Augen waren offen, aber er reagierte nicht. Wir legten ihn auf ein Bett und er blieb völlig teilnahmslos. Ich legte eine Flasche Wasser neben ihn und ab und zu setzte er sich auf, um einen Schluck zu trinken. Später kam er dann auf uns zu und erzählte uns, dass er eine unglaublich tiefgreifende Erfahrung während unserer unglaublich langweiligen Schicht gemacht hatte. Tja, davon haben wir nichts gemerkt. Trotzdem ist es gut, dass Psy-Care zur Stelle war. So lag er nicht stundenlang draußen unter der Sonne und konnte seinen großartigen Trip an einem schattigen Plätzchen erleben, an dem jemand sicherstellte, dass er genug Flüssigkeit zu sich nahm."

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Die Sitter arbeiten in Schichten von sechs bis acht Stunden. Wenn eine Schicht endet, übernimmt ein neuer Sitter den jeweiligen Festivalbesucher. "Ein Typ war mit meiner Kollegin hektisch hin und her gelaufen. Als ich an der Reihe war, ihre Schicht zu übernehmen, liefen wir eine Weile zu dritt umher", erinnert sich Joost. "Sie stellte mich vor, doch er reagierte nicht. Er schrie die ganze Zeit Zahlen von Eins bis Zehn. Sechs, Fünf, Vier, Null, Null, Null, Zwei Acht. Ich bin mehr als zwei Stunden mit ihm umhergerannt, bis er plötzlich merkte, dass er LSD genommen hatte und auf einem Trip war. Er wollte los und seine Freunde suchen. Als ich fragte, ob ich ihm helfen könnte, sagte er nur 'Bitte geh weg'. Und dann ging er."

Sitter zwingen niemanden dazu, im Zelt zu bleiben – man hat die Wahl. Es kann jedoch frustrierend sein, dass manche sich wegschleichen, ohne dem Sitter Bescheid zu sagen, weil sie von ihrem Trip runtergekommen sind und ihnen die Ereignisse jetzt peinlich sind.

Manchmal vergessen Leute, dass sie überhaupt etwas genommen haben, und denken, dass das, was sie empfinden, nie vorbeigehen wird.

Einige Behandlungen sind wirklich einfach. Joost beschreibt beispielsweise zwei Niederländer, die Space Cakes gegessen hatten und beide dachten, sie hätte einen Herzinfarkt. Er gab ihnen Tee und etwas Süßes und wiederholte hartnäckig, dass Cannabis nicht körperlich schädlich ist. Innerhalb einer halben Stunde schliefen sie friedlich nebeneinander unter einer Decke.

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"Wenn die Person kommunizieren kann, versuchen wir immer herauszufinden, welche Drogen sie wann genommen hat. Manchmal vergessen Leute, dass sie überhaupt etwas genommen haben, und denken, dass das, was sie empfinden, nie vorbeigehen wird. Dann ist es hilfreich, wenn wir sagen können: 'Hey, du hast LSD genommen, dessen Wirkung acht bis zehn Stunden lang anhält. In drei Stunden fühlst du dich also besser.'"

Joost erinnert sich an einen weiteren Mann, der LSD und MDMA genommen hatte und keinen Kontakt mehr zu seinen Freunden aufnehmen konnte. Er wollte nur noch allein auf einem Bett sitzen, Musik hören und weinen. "Da muss man aufpassen", sagt Joost. "Der Typ fühlte sich im einen Moment sicher, weil ich neben ihm saß, und wurde trotzdem manchmal paranoid, weil er dachte, ich würde ihn zu oft anstarren. Es ist wirklich schwierig, in solchen Momenten die richtige Balance zu finden."

Der richtige Umgang mit Extremfällen

Bei seiner allerersten Schicht in einem Psy-Care-Zelt auf dem Boom Festival wurde Joost ins Gesicht getreten. Die Sicherheitsleute hatten einen paranoiden Portugiesen reingebracht, der um sich trat und schrie. Er hatte einen Bart und Dreadlocks und war von einer dicken Staubschicht bedeckt. "Als die Sicherheitsleute ihn losließen, dachte ich, ich wäre weit genug von ihm entfernt, aber seine Fußsohle traf meine Lippe und ich bin nach hinten gekippt", sagt er. "Um ihn zu beruhigen, saßen drei von uns auf seinen Armen und Beinen und wickelten ihn dann in ein Laken ein."

Er habe alles Mögliche über Vergewaltigung und sexuelle Orientierungen geschrieen. "Seine Augen waren auf mich gerichtet, aber er sah starr durch mich durch. Wir gingen davon aus, dass er irgendein unterdrücktes Erlebnis während seines Trips erneut durchlebte. Später erzählte er uns, dass er 500 Mikrogramm LSD (das Fünffache einer einzelnen Dosis) von der Hand eines Deutschen geleckt hatte. Er dachte, er sei in einem Kriegsgebiet, wo er Dämonen bekämpfen und durch mit Blut gefüllte Särge kriechen müsse. Als wir auf ihm saßen, dachte er, wir würden ihn am Boden festnähen, sodass wir seine Organe ernten und seine Genitalien austauschen könnten."

Die schwierigste Seite an diesem Job ist es, Personen auf einem schlechten Trip von denjenigen zu unterscheiden, die psychotische Symptome zeigen und professionelle Hilfe oder Medikamente benötigen. "Wir kennen den Hintergrund der Person nicht. Ob sie zum Beispiel familiär vorbelastet ist oder mit Depressionen zu kämpfen hat. Psychedelika können ein Auslöser dafür sein. Einmal habe ich beispielsweise einen Franzosen aufgegabelt, der seit drei Stunden splitterfasernackt in der Dusche stand und sie streichelte. Er blieb drei Tage lang bei uns und war verwirrt und benebelt. Letztendlich wurde er in eine Psychiatrie gebracht und ich hörte, dass er ein paar Wochen später immer noch dort war."

Der Psy-Care Bereich auf dem Boom Festival ist extrem professionell. Es gibt ein riesiges Zelt, das wie ein Kuchen in Bereiche aufgeteilt werden kann, sodass jeder Festivalbesucher bei seinem Trip ein wenig Privatsphäre hat. Soweit ist man in den Niederlanden noch nicht. Joost erinnert sich, dass das Zelt auf dem Psy-fi Trance-Festival viel kleiner und der Standort weniger geeignet war, trotzdem hätten die Freiwilligen während des gesamten Festivals ununterbrochen Menschen helfen können.

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