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Festival Guide

Eine soziologische Betrachtung von Festival-Barbarismus

Es geht nichts über die Freude, sich auf einem Festival wie ein Tier zu benehmen. Aber es gibt eine Ekel-Grenze. Und die hat eine wissenschaftliche Erklärung.
FF
illustriert von Father Futureback
Illustration: Father Futureback

Dieser Artikel ist Teil des VICE Guides für Festivals, alle Texte findet ihr hier.

Am letzten Abend eines Festivals, als ich einen betrunkenen Kerl hysterisch brüllen hörte, während er in ein Open-Air-Pissoir kackte und seine Freunde ihn lachend anfeuerten – da hörte für mich der Spaß auf. Ich war völlig am Boden. Wegen der Barbarei dieses Mannes, vor allem aber, weil ich mich so ernüchtert fühlte. Ich meine, wenn es eine Sache gibt, die Festivals unterhaltsam macht, dann, dass man Sachen machen kann, die in der normalen, zivilisierten Welt undenkbar sind: Bier zum Frühstück trinken oder gegen sein eigenes Zelt pinkeln. Zivilisation ist gleich "Laaangeweile". Wenn ich mir einen Außenminister vorstelle, wie er bei einem Staatsempfang mit Champagner im Kristallglas über die Probleme der armen Landbevölkerung spricht, läuft es mir aber genauso eiskalt den Rücken runter. Sei also mal nicht zu hart zu dem Kerl da! Lass ihn in seinem Klappstuhl hängen und Löcher in sein Dosenbier hauen, wenn er das so will, ok?

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Aber trotz allem: Der Typ, der ins Pissoir gekackt hat – er trug eine Fischermütze, was alles nur noch viel schlimmer machte – konfrontierte mich irgendwie mit dem absoluten Limit des für mich Aushaltbaren. Es gibt eine Erklärung dafür, die man in dem Buch Prozess der Zivilisation des Soziologen Norbert Elias finden kann.

Seit dem barbarischen Mittelalter haben sich die Menschen immer weiter zivilisiert

Seit dem Mittelalter haben sich die Menschen immer weiter zivilisiert, sodass sie der Barbarei gegenüber immer sensibler wurden. Im Mittelalter hätte der Durschnittsheini wahrscheinlich nur gelacht, wenn er den Typen im Fischerhut gesehen hätte, oder er hätte sich direkt neben ihn gesetzt zum Gruppenkacken. Hundert oder zweihundert Jahre später hätte ein Vorbeigehender vielleicht gelächelt und wäre weitergegangen. Hundert Jahre danach hätte der Durschnittsbürger bei diesem Anblick wahrscheinlich skeptisch die Augenbraue gehoben. Heute aber war ich völlig entsetzt und abgestoßen – das Verhalten des Typen war für mich komplett inakzeptabel und außerhalb jedes Rahmens.


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Niemand hat im Laufe der Jahrhunderte bewusst beschlossen, dass es eine gute Idee wäre, mehr Zivilisation einzuführen (Habe ich schon erwähnt, dass Zivilisation langweilig ist?), aber es passierte trotzdem. Der langsame Prozess der Zivilisierung bekam plötzlichen Aufschwung durch die Gründung von Nationen mit Königen und deren Höfen, wie beispielsweise Ludwig dem XIV. und dem Hof von Versailles in Frankreich. Davor war das Land einfach nur in verschiedene Regionen unterteilt gewesen, deren Ritter sich gegenseitig tagtäglich brutal bekämpften.

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Am königlichen Hof zahlte es sich aus, seine barbarischen Instinkte zu unterdrücken. Wenn man eine Meinungsverschiedenheit mit jemandem hatte, war es klüger, höflich zu nicken und denjenigen dann durch politische Intrigen zu ruinieren, als sein Herz herauszureißen und dann lächelnd auf seinen toten Körper zu pinkeln.

In dieser Ära hatte der Kämpfer die meiste Macht, der am furchtlosesten war. Je barbarischer du warst, desto mehr Angst hatten die Leute vor dir, desto mehr Land konntest du erobern. Bis es schließlich nur noch eine allmächtige Armee und einen einzigen König gab. Der konnte dann die Bewohner seines Landes dazu zwingen, Steuern zu bezahlen, sodass er seine Armee verstärken konnte. Von dort an war man gut beraten, wenn man seinen Mund hielt, denn wenn man sich mit einer ganzen Armee anlegen wollte, konnte man schnell im Knast landen. Tatsächlich wurde man in dieser Zeit oft verhaftet, wenn man im Alltag gewalttätig wurde, sodass die Fähigkeit, sich zu beherrschen, eine Priorität wurde.

Am königlichen Hof zahlte es sich aus, seine barbarischen Instinkte zu unterdrücken. Wenn man eine Meinungsverschiedenheit mit jemandem hatte, war es klüger, höflich zu nicken und denjenigen dann durch politische Intrigen zu ruinieren, als sein Herz herauszureißen und dann lächelnd auf seinen toten Körper zu pinkeln. Es entstanden Regeln des zivilisierten Benehmens, die sich dann langsam in der Gesellschaft ausbreiteten.

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Und weil jede soziale Klasse gerne auf die Klasse unter sich herabschaut, dachten sich die Menschen immer mehr Regeln der sozialen Etikette aus. Früher war es OK, wenn man bei einer Mahlzeit mal furzen musste. Später wurde von einer zivilisierten Person erwartet, dass sie das Ganze mit einem höflichen Husten tarnte. Noch ein bisschen später wurde von der zivilisierten Person erwartet, sich kurz nach draußen zu entschuldigen, um einen Moment frische Luft zu schnappen. Heute habe ich panische Angst, dass meine Freundin auch nur den kleinsten Furz durch die Wand hört, wenn ich auf der Toilette sitze.

Es ist extrem anstrengend, ständig seine barbarischen Triebe zu unterdrücken

Ich möchte ihre Fürze auch nicht hören. Das liegt nicht nur daran, dass wir schon in sehr jungen Jahren lernen, unsere barbarischen Instinkte zu unterdrücken, sondern auch daran, dass es für uns eine selbstverständliche Gewohnheit ist. Deswegen sind wir so aufrichtig entsetzt, wenn wir mit Barbarismus in Form von Fürzen oder Typen, die in Open-Air-Pissoirs kacken, konfrontiert werden.

Gleichzeitig ist es extrem anstrengend, ständig seine barbarischen Triebe unterdrücken zu müssen. Aus diesem Grund macht es auch so verdammt viel Spaß, auf einem Festival eine Woche lang nicht zu duschen, lauwarmes Bier zum Frühstück zu trinken, schamlos seine Plautze raushängen zu lassen, gegen ein Zelt zu pinkeln und sich grölend und schreiend im Matsch zu wälzen. Alles Dinge, die Leute im Mittelalter wahrscheinlich völlig normal oder sogar zivilisiert und deswegen langweilig gefunden hätten. All dies gesagt: Wir leben im Jahr 2018, also scheiß bitte einfach ins verdammte Dixie-Klo.

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