Meine Woche auf dem größten christlichen Festival der USA

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Meine Woche auf dem größten christlichen Festival der USA

„Die Art, wie sie durch Rap-Musik über Gott sprechen … Das ist einfach … Fantastisch!“

Fotos: Jaime Chew /  Aus der  Music Issue 2016

„Du wirst das Sheetz lieben, Eric", sagt mir Pastor Steve Price, als wir an einem frühen Junimorgen den Kirchenparkplatz im US-Bundesstaat Pennsylvania verlassen. Hinter uns fahren die Mitglieder einer christlichen Jugendgruppe Kolonne. „Es ist keine Tankstelle", sagt er. „Es ist ein gastronomisches Erlebnis." Price hat Recht. Zwei Stunden später serviert mir die füllige Frau hinter dem Tresen „Mac 'n' Cheese Bites", frittierte Bällchen aus Makkaroni und Käse. Ich habe von dieser etwas fragwürdigen Speise noch nie gehört, doch sie ist köstlich. Wahrscheinlich stirbt man von dem Zeug jung, aber dafür glücklich.

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Die Organisatoren verteilen im Gebetszelt des Creation Music Festival Gratisbibeln an Besucher.

Einer der Jugendlichen aus der Gruppe fragt mich, was ich von den knusprigen Delikatessen halte. „Ziemlich gut", sage ich. Dann stellt mir ein anderer Junge namens Caleb eine viel schwierigere Frage. „Warum bist du aus der Kirche ausgetreten?" Ich denke kurz nach und sage ihm dann die Wahrheit. „Ich weiß es nicht. Ich hab' einfach angefangen, ein bisschen mehr über alles nachzudenken." Er sieht mich an, nickt und geht auf die Toilette, während ich überlege, ob ich das Falsche gesagt habe. Habe ich einen Gedanken in Calebs Kopf gepflanzt, der ihm für den Rest seines Lebens zu schaffen machen oder ihn vom Pfad abbringen wird? Interessiert meine Aussage ihn überhaupt? Aber ich habe nicht gelogen. Ich habe einfach angefangen nachzugrübeln—darüber, warum Gott keine Homosexuellen respektiert oder warum Gott Sex nicht mag oder warum Gott überhaupt zulässt, dass jemand in die Hölle muss.

Ich esse Mac-'n'-Cheese-Bällchen und denke über meinen Glauben nach, weil ich unterwegs zu einem christlichen Rock-Festival im ländlichen Pennsylvania bin. Ich habe einige Fragen, denen ich nachgehen will. Als Musikjournalist habe ich bemerkt, dass viele Künstler heute offener über ihren Glauben sprechen (Rapper wie Kanye West, Kendrick Lamar und Chance the Rapper, dessen in diesem Jahr veröffentlichtes, ausgezeichnetes Album im Grunde aus HipHop-Gospel besteht). Ich frage mich, ob das bedeutet, dass christliche Musik nicht mehr unbedingt etwas Schlechtes sein muss. Ich möchte auch wissen, wie es ist, wenn Zehntausende Christen sich im Namen von Rock 'n' Roll versammeln—ein Genre durchzogen von Drogenkonsum, Sex und Rebellion. Rauchen die Leute dort Gras? Die schwierigste Frage ist allerdings die nach meinem eigenen Abfall vom Glauben. Eigentlich sind die anderen Fragen nur Ausreden, um diese letzte zu beantworten.

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Das Creation Music Festival ähnelt seinen weltlichen Gegenstücken in vieler Hinsicht. Zehntausende Fans sehen große Acts auf der Hauptbühne und Indie-Bands auf der Nebenbühne.

In meiner Kindheit und Jugend fuhr ich jeden Sommer ins Kirchenlager. Die Reise zum Creation Music Festival erinnert mich sehr daran. Wir reisten zu verschiedenen Colleges in Iowa, meist im Juli, wenn die Hitze in dem Bundesstaat unerträglich war. Unsere größte Sorge war, ob es eine Klimaanlage geben würde. Gab es keine, war es schwieriger, an Gott zu glauben (es gelang uns aber trotzdem).

Mein Glaube war ein einfacher, doch ich kann ihn schwer beschreiben. Damals hätte ich gesagt: „Ich habe keine Religion, ich habe eine Beziehung." Pastor Price sagt heute ähnliche Dinge. Er glaubt, wie ich einst, dass Jesus Christus bei der Kreuzigung die Sünden der Welt auf seine Schultern nahm. Es heißt, wenn du in den Himmel kommen und für immer mit Gott abhängen willst, musst du ihm nur "dein Herz öffnen" und er rettet dich vor der ewigen Verdammnis. Eigentlich ein astreiner Deal.

Anders als die meisten Kinder liebte ich die Kirche. Ich fand dort Gemeinschaft—Freunde wurden zu Familie, Familie wurde zu Freunden. Ab der Grundschule gehörte ich zur Grace Christian Fellowship, einer nicht konfessionsgebundenen Kirche mit etwa 150 Mitgliedern. Bald war ich Mitglied der Jugendgruppe, spielte bei der Messe Gitarre, betete vor und übernahm eine Führungsrolle. Ich tat mein Bestes, so zu sein wie Jesus.

Die Highschool näherte sich dem Ende, und ich musste mir eine Uni aussuchen. Ich fühlte mich von Gott berufen, auf die christliche Oral Roberts University zu gehen und Jugendpastor zu werden. Heute fühlt es sich seltsam an, diesen Satz zu tippen. Was bedeutet es, sich „von Gott berufen" zu fühlen? Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Es kam mir einfach richtig vor, also tat ich es.

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Dann hatte ich das, was Christen eine „Glaubenskrise" nennen. Man könnte auch „Erwachsenwerden" dazu sagen. Die ersten Zweifel waren schon da, und als ich an die Uni kam—die ORU hatte in der Vergangenheit mit Korruptionsskandalen zu tun gehabt—fiel alles auseinander. Ich sah das ganze Geld, das im Christentum fließt. Ich sah sture Ignoranz gegenüber den Tatsachen der Welt. Ich sah Nächstenliebe, die als Manipulation eingesetzt wurde, um eine neue Generation zu rekrutieren. Ich fing an, mich selbst als eins dieser manipulierten Schäfchen zu sehen.

Nach meinem ersten Studienjahr packte ich meine Sachen und kehrte nie wieder dorthin zurück.

Am letzten Tag des Festivals taufen Creation-Organisatoren Besucher, die ihren Glauben so zum Ausdruck bringen möchten.

Jedes Jahr versammeln sich für fast eine Woche die größten christlichen Musik-Acts auf der 115 Hektar großen Agape Farm, einem Retreat-Zentrum und Campingplatz im Herzen Pennsylvanias. Und mit ihnen kommen unzählige christliche Musikfans; die Besucherzahlen schwanken zwischen 40.000 und 100.000. Viele nennen das Land um Agape „God's Country", was ich nachvollziehen kann. Kleine Bäche plätschern durch eine Landschaft aus saftig-grünen Hügeln, und bei unserer Ankunft ziehen am Himmel die wattigsten Wölkchen vorbei, die ich je gesehen habe. Wenn es Gott gibt, ist er vielleicht Bob Ross, denn Gottes Land sieht mit all seinen "happy little trees" aus wie eine Leinwand des TV-Malers.

Meine große Frage bleibt eine schwierige, doch die kleinen sind leichter zu beantworten. Ich kann zum Beispiel schon nach kurzer Zeit sagen, dass Chance the Rapper das Genre christlicher Musik als Ganzes nicht besser gemacht hat (und dass es sich nicht lohnt, hier darüber zu reden, weil niemand auf dem Festival ihn zu kennen scheint).

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Das Creation Festival ist eine Kreuzung aus Kirchenlager, Kirmes-Essen und durchschnittlicher Musik. Wie anderswo auch gibt es hier eine Haupt- und eine Nebenbühne. Die großen Acts, wie die Newsboys (die christlichen U2), spielen auf der Main Stage, und die Indie-Acts, hauptsächlich Punk- und Hardcore-Bands, auf der Fringe Stage. Man sagt mir, dort bekäme ich „some real stuff" zu sehen—woanders hätte man von „shit" gesprochen.

Die Musik ist nicht durchweg schlecht. Sie ist einfach nur einfallslos. Bei diesem Genre geht es nicht darum, den besten oder innovativsten Sound der Welt zu haben. Die Headliner des ersten Abends, die Australier For King & Country, sind Coldplay in religiös. Die Show ist spektakulär, mit Explosionen und Getanze und Spezialeffekten. Es ist nichts, was ich nicht schon gehört hätte, aber so funktioniert das hier einfach. Jede christliche Band ist eigentlich eine religiöse Version einer weltlichen Band. Sie agieren als Ersatz für Christen, damit die feiern und tanzen können, ohne gegen ihren Glauben zu verstoßen. Als der Journalist John Jeremiah Sullivan vor über einem Jahrzehnt das Creation besuchte, schrieb er in GQ: „Christlicher Rock ist das einzige Musikgenre, das ich kenne, das sich gegen herausragende Leistungen immunisiert hat."

Das entgeht den Künstlern nicht, und tatsächlich wird darüber auf dem Festival diskutiert. Andy Mineo, ein christlicher Rapper, dem die Schublade „christlicher Rapper" zuwider ist, erzählt mir ausführlich von den Hindernissen, die das Genre sich seiner Meinung nach selbst in den Weg legt. „Christen wollen Dinge, die sie auf ihrem spirituellen Weg ermutigen. Dir und deinem Publikum hilft dieser Begriff also", sagt er. „Aber er kann auch einschränkend wirken. Die Kategorie ‚christlich' führt oft dazu, dass Nichtchristen damit nichts zu tun haben wollen. Sie hören nicht einmal rein. Musik aus dieser Kategorie kriegt erst gar keine Chance."

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„Man hat dir bestimmt gesagt, das hier sei das christliche Woodstock", hat Lora Harrison, eine junge Frau aus der Jugendgruppe, vor unserer Abreise zu mir gesagt und gelacht. „Das liegt daran, dass es stimmt."

Harrison spielt in einer Rock-Band und hat eine atemberaubende Stimme. Eines Tages singt sie eine A-Cappella-Version von „Amazing Grace", die vorübergehend meine Zweifel an der Existenz einer höheren Macht ausräumt. Sie betont, wie wichtig Musik für den Glauben sei. „Hier kehren wir zurück zum Kern der Dinge. Hier geht es um nichts anderes, als eine Woche lang unseren Schöpfer durch jede Form von Musik anzubeten, die uns gefällt." Später erzählt mir Harrison, sie habe mit fünf eine Schmerzsucht entwickelt und ihren Kopf gegen Ziegelmauern gerammt. Als sie 13 war, wurde ihr Bruder ermordet. Mit 17 wurde sie vergewaltigt. „Du fragst mich, wie ich da an Gott glauben kann", sagt sie. "Ich frage dich, wie du das nicht kannst."

Harrisons Worte hallen in meinem Kopf wider, als an einem Abend das ganze Festival—wirklich jede einzelne Person—sich zur Kerzenscheinmesse versammelt. David Crowder, ein Banjo-Spieler mit einem höllisch guten Cover von „I Saw the Light", der mit einer solchen Power Füße zum Stampfen bringt, dass man Gottes Antlitz vor sich sieht, hat gerade sein Set beendet. Dann kommt Pastor Harry Thomas, der vor fast 30 Jahren das Creation gegründet hat, auf die Bühne. „Preiset den Herrn", sagt er, mit ruhiger, sicherer Stimme. „Preiset den Herrn." Er erklärt den Besuchern den Hauptzweck des Festivals: junge Leute erreichen und ihnen versichern, dass jemand sie liebt, ganz gleich, wer sie sind und was ihnen zugestoßen ist. Dann verteilt er Süßigkeiten für alle.

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Ich stehe ganz vorn am Bühnenrand, zu Thomas' Füßen. Er hält eine Kerze hoch. „Jesus sagte, er ist das Licht der Welt. Und dann wandte er sich zu seinen Jüngern und sagte: 'Ihr seid das Licht der Welt.' Er meinte, jetzt seid ihr an der Reihe."

Ich steige auf die riesige Lautsprecherbox zu meiner Linken und blicke über die Abertausenden Menschen vor mir, die alle die Hände hochrecken. Winzige Flammen gehen überall in der Menge an. Ein jungenhafter Mann, vielleicht Anfang 20, ruft mich zu sich und hält mir seine Kerze hin. Ich halte meine daran und entzünde sie. Seine Augen funkeln im Kerzenschein, als sie meinen begegnen.

„Jesus liebt dich", sagt er. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, also sage ich das Einzige, das mir einfallen will.

„Jesus liebt dich auch." ***

Die komplette Doku I SAW THE LIGHT seht ihr bald auf Noisey

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