Rap aus Serbien
Screenshot von YouTube aus dem Video "THCF FEAT. COBY - BUDALA (IDJPLAY)" von IDJVideos.TV

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Rap aus Serbien: Wo Gangstersein ganz andere Dimensionen hat

Leichenentsorgung per Fleischwolf? Drogenhandel? Bei den Künstlern vom Balkan ist das düstere Realität und keine bloße 'Scarface'-Huldigung.

'Serbischer Folk-Rap' klingt zuerst wie ein Fantasiegenre, das sich David Vujanic ausgedacht hat, um sich über westliche Vorurteile gegenüber Osteuropäern lustig zu machen. Aber so absurd die Bezeichnung auch klingt, das Genre gibt es wirklich – und es ist einer der eigenständigsten und spannendsten HipHop-Sprösslinge der vergangenen Jahre.

Serbischer Folk-Rap ist im Grunde genau das, was die Verpackung verspricht. Er verbindet moderne HipHop-Beats mit Klängen, die man vielleicht eher auf einer Balkan-Hochzeit erwarten würde. Der klagende Gesang, die traditionellen Instrumente und die Melodien stammen aus alten serbischen Volksliedern. Die gegensätzlichen Elemente werden hier auf eine Weise miteinander kombiniert, die bizarr wie episch ist. Aber bei aller musikalischen Nähe zu lokalen Musiktraditionen ist nichts an dem Genre volkstümlich oder rückständig. Viele der größten serbischen Folk-Rap-Hits sind rücksichtlos brutal und lassen Road Rap aus UK im Vergleich harmlos aussehen.

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Wirklich wundern sollte einen die Brutalität eigentlich nicht: Serbien hat ein Jahrzehnt Bürgerkrieg hinter sich. Land und Leute sind bis heute von diesem kollektiven Trauma gezeichnet. Hinweise darauf werden auch im Folk-Rap reflektiert. Das Genre lässt sich als Serbiens Antwort auf Grime bezeichnen. Der Unterschied ist nur, dass die Protagonisten einen bewaffneten Konflikt miterlebt haben und nicht die Brutalität der sogenannten Postcode Wars.

Ein perfektes Beispiel für den Folk-Rap-Sound ist der in Belgrad lebende Produzent, Sänger und gelegentliche Rapper Coby – ausgesprochen Tschob-ii. Als wahrscheinlich größtes Talent der Szene hat Coby Tracks für eine Reihe internationaler Stars wie French Montana und Rick Ross produziert, aber auch die jüngsten Hits im serbischen HipHop gehen auf seine Kappe.

In "Crni Sin" (siehe oben) eröffnet Coby den Track mit einem langgezogenen Klagegesang in Autotune, der musikalisch irgendwo zwischen türkischem Folk und Drake-Refrain angesiedelt ist. Das Einsetzen der Snare baut die Spannung weiter auf, während im Hintergrund traditionelle Gesänge nachhallen und das Intro seinen Höhepunkt erreicht. Dann erklingt eine digitale Akkordeon-Melodie. Visuell untermalt wird das alles mit Bildern einer weinenden Mutter, eines bedrückenden Gefängnisflurs und den mürrischen Minen von Männern, die sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken. Das Video untermalt nicht nur den bedrohlichen Unterton des Tracks, der typisch für Folk-Rap ist, sondern reflektiert auch den sozialen Hintergrund, der die Musik inspiriert.

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Auch wenn serbischer Folk-Rap in kommerzielle Gefilde abdriften kann – wo es von slawischen Jason Derulos nur so wimmelt –, präsentieren Künstler wie Coby eine rauere und düstere Seite des Genres. THCF zum Beispiel, eine Crew mit der Coby regelmäßig zusammenarbeitet, zählt in ihrem Hit "Ideš Za Kanadu" die Machenschaften des Zemunski-Klans auf – eine der brutalsten Belgrader Mafiafamilien der 90er. Der Songtitel heißt übersetzt "Für dich geht's nach Kanada", was auf den ersten Blick harmlos klingt, allerdings war es das Codewort des Clans für Mord. Die Lyrics erzählen von Drogenhandel, Mord und der Verwendung eines Fleischwolfs zur Entledigung von Leichen.

Auf YouTube hat der Track über 38 Millionen Views. Diese Zahl wird lediglich von "Krvavi Balkan" übertroffen, was übersetzt "Blutiger Balkan" bedeutet. Diese weitere THCF-Coby-Kollabo handelt vom organisierten Verbrechen in der Region. Genau wie "Ideš Za Kanadu" wurde der Song vom serbischen Sender TV Prva für eine Dokumentation in Auftrag gegeben. Zu "Krvavi Balkan", das über 40 Millionen Views hat, gibt es auch ein Musikvideo, in dem Archivaufnahmen von Mordschauplätzen neben nachgestellten Szenen von Entführungen und Folter aus besagter Dokumentation zu sehen sind. Obwohl die Stücke fürs Fernsehen gemacht wurden, bringen sie in Serbien jeden Club zum Kochen. Jedes Mal, wenn der Song gespielt wird, gibt es beim Refrain einen Strudel aus Pistolenfingern und alle rufen wie aus einem Mund: "Bang-Bang, Bang-Bang, für dich geht's nach Kanada!"

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Wie man merkt, sind Texte und Bilder über Verbrechen im serbischen Folk-Rap weit verbreitet. Klar, das Gleiche ließe sich über fast jedes HipHop-Subgenre auf der ganzen Welt sagen, aber serbische Künstler imitieren nicht bloß die amerikanische Blaupause von Künstlern wie Tupac oder Nas. Folk-Rap ist ein Produkt der serbischen Gesellschaft. Das Leben auf dem Balkan mag sich über die Jahre vielleicht normalisiert haben, aber die Mafia ist dort immer noch mit der Regierung verbandelt, Politiker unfassbar korrupt und die aktuelle Regierung übersät mit Milosevic-Anhängern. Für einen Teil der Fans amerikanischen Raps beschränkt sich das Gangstertum auf ein Ghetto irgendwo weit weg. Es ist ein abstraktes Phänomen, das lediglich auf Pusha-T-Alben und in den Nachrichten stattfindet. In Serbien allerdings ist es für die meisten Menschen gelebte Realität.

"Wenn du 'Kanada' oder 'Krvavi Balkan' hörst, dann sind das Sachen, die heute noch passieren. Das ist kein Witz. Das ist keine Fantasie. Das ist unsere Realität", sagt mir ein prominenter Folk-Rapper, der allerdings anonym bleiben will, um nicht als Sprecher der Szene wahrgenommen zu werden. "Aber die Leute hören dieses Zeug in Clubs und du solltest dich fragen, warum das so viele Millionen Views hat … Es ist wahrscheinlich eine Sache unserer kollektiven Einstellung. Was willst du auch erwarten, wenn alle zwanzig Jahre Krieg ist? Solche Sachen wirst du nicht so schnell wieder los."

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Aber natürlich ist Belgrad nicht South Side Chicago. Die Stadt ist nicht gerade bekannt für grassierende Straßenkriminalität, aber das liegt vielleicht auch daran, dass das organisierte Verbrechen dort so tief in die Gesellschaft verwurzelt ist. Immer mal wieder kommt es am helllichten Tag zu einem gezielten Ganggemetzel. Diese Vorfälle werden aber schnell wieder von den etablierten Medien vergessen – so ist das in einem Mafiastaat. Serbische Folk-Rapper sind keine Gangster, aber du musst auch wirklich kein Verbrecher sein, um mit Belgrads Unterwelt in Kontakt zu kommen.

Ich selbst bin ein relativ unscheinbarer und halbwegs gesetzestreuer Bürger dieser Stadt, aber ich weiß, dass nur ein feiner Grat zwischen mir und einer Reihe abgehärteter Verbrecher steht. Viele Mafiosi sind hier öffentliche Figuren: Du siehst sie in schicken Restaurants und es ist mehr als offensichtlich, wer in Belgrad sein Geld mit krummen Geschäften verdient. In dieser Hinsicht sind die kriminellen Themen im Folk-Rap nicht so autobiographisch wie zum Beispiel bei Eazy E. Sie spiegeln vielmehr eine dominante Allgegenwärtigkeit des Verbrechens wider, die die serbische Gesellschaft in jeder Pore durchzieht.

Der Ausgewogenheit halber sei hier angemerkt, dass THCF und Coby, genau wie andere Folk-Rap-Künstler eine Reihe poptauglicher Songs veröffentlicht haben. Aber wenige davon sind so erfolgreich wie die düsteren Tracks, was einiges über unsere nationale Psyche verrät. Kriminalität wird in Serbien glorifiziert.

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2015 nahm zum Beispiel Kristijan Gloubovic, ein berühmter Gangster aus den 1990ern, an einer Reality-TV-Serie teil, um seine Haftstrafe für Heroinschmuggel zu umgehen. Kurz nachdem er bei der Sendung rausgewählt worden war, musste er in den Knast. Aus dem Gefängnis heraus veröffentlichte er dann seinen eigenen Rap-Track "Moj Czas", der über eineinhalb Millionen Views hat. Die Tatsache, dass Personen wie Kristijan wie Promis gefeiert und nicht wie Ausgestoßene behandelt werden, spricht Bände darüber, wie Kriminalität im heutigen Serbien oft gesehen wird.

Wie sind wir als Land an diesen Punkt gekommen? Im Grunde haben wir das alles dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Chaos der 1990er zu verdanken, als die Hyperinflation an ihrem schrecklichen Höhepunkt 313 Millionen Prozent erreichte. Alle mussten sparen und Politiker veruntreuten alles, was sie in die Finger kriegen konnten. Recht und Ordnung lösten sich in Wohlgefallen auf, was der Mafia freie Bahn gab. Während der Großteil der Bevölkerung in bitterer Armut lebte, waren Verbrecher die einzigen, die irgendeine Form von Prestige genießen konnten. Und genau so wie Kim Kardashian dafür berühmt ist, reich und glamourös zu sein, wurden serbische Gangster durch ihren immensen Reichtum zu Vorbildern.

Auch wenn sich die Zustände seitdem verbessert haben, hat Serbien immer noch den niedrigsten Lebensstandard in Europa. Die Gebildeten wandern aus und Gangster gehören immer noch zu den Wenigen, die hier ein wirklich gutes Leben haben – was ihre weitere Anbetung sichert. Das könnte – neben den musikalischen Qualitäten – ein Grund dafür sein, warum THCFs und Cobys Form des Folk-Rap so beliebt ist: Weil sie den Zuhörern die Gelegenheit gibt, die eigenen eskapistischen Gangster-Fantasien auszuleben.

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"Wenn die Leute viel Rap hören, heißt das, dass es im Land nicht so läuft, wie es laufen sollte", hat Borko Vujicic von THCF 2015 in einem Interview gesagt. "Ich finde, dass diejenigen, die an der Macht sind, sich ernsthaft fragen müssen, warum so viele Menschen 'bang-bang' machen und jemanden nach Kanada schicken wollen. Hier herrscht eine echte Wut."

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