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The Music Issue 2017

"Drummen ist Kampfsport" – Die Schlagzeugerin von Hole knüppelt ohne Bandagen

Schlüsselkind, Lesbe, Rockstar: Patty Schemel gibt in einem Auszug aus ihren Memoiren Einblick in ein außergewöhnliches Leben.
Hole hinter der Bühne des Roseland Ballroom, New York City, 1985 | Foto: Melissa auf der Maur

Aus der Music Issue 2017

Im Sommer, bevor ich in die sechste Klasse kam, zog Dad aus. Niemand war überrascht, dass meine ältere Schwester, Susan, mit ihm mitging – sie war jetzt ein richtiger Teenager. Larry und ich blieben bei Mom zu Hause. Dad würde mit Susan nach Seattle ziehen, in eine Wohnung, und wir würden ihn an den Wochenenden besuchen. Zumindest war das der Plan. Das größte Trostpflaster bei der ganzen Scheidung war, dass ich Susan nicht mehr ertragen musste und das Zimmer und alle Schubladen in der Kommode für mich hatte. Ich war die Älteste im Haus, jetzt wo sie weg war – also tatsächlich, denn meine Mutter nahm so wenig an unserem Leben teil wie Dad und Susan.

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Zum ersten Mal hatte unsere Mutter die Freiheit, ihre eigene innere Revolution zu erleben. Sie musste zwar arbeiten gehen, aber das gefiel ihr offensichtlich viel besser, als bei uns zu Hause zu bleiben und Hausfrau zu spielen. Nun konnte sie sich neu erfinden. Sie fing bei der General Phone Company an (dem Hauptrivalen von Dads Arbeitgeber, Pacific Bell) und wurde für die Anonymen Alkoholiker (AA) politisch aktiv. Innerhalb kurzer Zeit wurde sie zur Beauftragten für den Staat Washington. Deswegen hielt sie oft Reden auf Konferenzen und ließ meinen Bruder und mich übers Wochenende allein, was wir sehr zu schätzen wussten.

Als die Schule im Herbst wieder losging, fing damit auch ein neues Leben an. Ich kam in die Middle School und musste mich zum ersten Mal um mich selbst kümmern. Ich musste meinen Bruder morgens wecken, duschen, etwas essen und es rechtzeitig zur Schule schaffen. Nach der Schule aß ich Doritos, trank Pepsi und schaute die Phil Donahue Show; später machte ich uns in der Mikrowelle Hacksteak-Fertiggerichte. Wenigstens hatten wir immer eine gute Auswahl Fertigessen in der Küche. Mom war gut im Einkaufen – das war ihre Art, sich um uns zu kümmern.


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Wann immer Mom ein paar Tage wegfuhr, nahm sie uns vorher mit in den Plattenladen "Sound City" und kaufte uns, was wir wollten. Larry und ich suchten uns Poster und Platten aus und Ausgaben von Hit Parader, CREEM, MAD Magazine und Monster Mag. Sie hörte auf zu versuchen, uns eine Schlafenszeit vorzuschreiben, also blieben wir lange auf und schauten Saturday Night Live und Monsterfilme. Dabei entdeckte ich KISS. Popkultur als elterliche Buße.

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Außer meinem Bruder hatte ich kaum Freunde, aber wir spielten oft mit Jessica von gegenüber in unserer Sackgasse. Sie war das Mädchen, das mir bestätigte, dass ich wohl lesbischer war, als mir beliebte. Mit zehn oder elf brauchte ich eine Gleichaltrige, mit der ich darüber reden konnte, was Seltsames mit unseren Körpern passierte, und Jessica war gleich alt. Selbst wenn sie nicht meine Nachbarin gewesen wäre oder wenn ich Susan besser hätte leiden können, ich hätte trotzdem noch mit Jessica abhängen wollen. Sie hatte Brüste und eine wilde große Schwester, die Partys mit Musik von Heart schmiss, wenn die Eltern verreist waren. Die Familie kam aus Texas und hatte einen mysteriösen Dad, der früher als Grenzschützer an der mexikanischen Grenze gearbeitet hatte. Als er dann auf die kanadische Grenze umstieg, zogen sie von Texas nach Washington.

Jessicas Mom sprach mit texanischem Dialekt und hatte, wie meine Eltern, regionale Namen für Alltagsgegenstände – Staubsauger nannte sie "Feger". Wenn sie Jessica aus dem Garten reinrief, dann immer mit beiden Vornamen: "Jessica Marie!" Als ob da noch eine andere Jessica in der Nähe wäre, die sich nicht angesprochen fühlen soll.

Ihr Dad hatte einen Stapel Hustler-Magazine in der Garage, die er gar nicht erst versuchte zu verstecken, und einen Haufen Waffen und Munition, die er nicht wegsperrte. Wann immer ich da war, erwartete ich, dass ich mich vielleicht so fühlen würde, als sei ich in Gefahr. Dadurch wurde es aufregend. Einmal spielten wir Verstecken und Jessica und ich küssten uns dabei. Ich glaube, sie wollte damit nur für die Jungs aus der Schule üben, aber für mich war es überirdisch. Es passierte ein paar Mal und hörte irgendwann auf, womit es für mich zur Tortur wurde, wenn ich bei ihr im Garten übernachtete und mein Schlafsack nah an ihrem lag. Als die Schule im Herbst wieder anfing, war Jessica beschäftigter und ich sah sie seltener. Damit hatte ich schon gerechnet.

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In jenem Herbst wurde Larry zu meinem ersten Drogenkumpel. Wir liebten es, wie Musik sich anhörte, wenn wir Gras geraucht hatten – als würden wir in der Acht-Spur-Kassette mitschwimmen. Damit war die Sache für mich erledigt: Ich brauchte das tägliche Ritual aus Drogenmissbrauch und Rock 'n' Roll. Wodka mit Cola in meinem Looney-Tunes-Sammelglas mit dem tasmanischen Teufel passte am besten zu dem schwindelerregenden Phaser-Breakdown in "Whole Lotta Love" von Led Zeppelin. Zum Glück trafen diese beiden Dinge in meinem Leben aufeinander, als ich noch jung war. Keine Drogen nehmen ist doch Musikverschwendung!

Larry und ich besuchten unseren Vater und stellten fest, dass er weiterhin ganz offen eine Frau aus den AA-Treffen datete – sie hatte zwei kleine Kinder, und man erwartete von uns, dass wir mit ihnen rumhingen. Wir waren ziemlich angewidert, aber was konnten wir schon tun? Er war glücklich. Teile seiner Persönlichkeit wirkten fröhlicher und optimistischer, wenn er eine neue Freundin hatte. Er hörte ABBA! Er trug als Aftershave Jovan Musk! Er fing an, in Schafslederjacke und Cowboyhut rumzulaufen. Unser Vater, der aus Brooklyn kam, hörte auf einmal am liebsten schwedische Popmusik und kleidete sich wie jemand aus Oklahoma. Larry und ich waren uns einig: Es war am besten, wenn wir einfach den Frieden wahrten und uns durch ein paar unangenehme Stunden am Esstisch quälten. Sein neues, entspanntes Verhältnis zu Regeln und Ausgangssperren war uns das wert.

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Wir wohnten lieber bei unserer Mutter, weil wir dort meist sturmfrei hatten. Die Freuden des Daseins als Schlüsselkind! Aber nach nur neun Monaten sorgten sich Nachbarn derart über Moms Abwesenheit, dass sie unsere Vernachlässigung dem Jugendamt meldeten. Eines Tages nach der Schule klopfte eine fremde Frau bei uns und fragte, wo unsere Mutter sei und ob sie uns an den Wochenenden oft allein lasse. Und sie hatte noch mehr Fragen: "Was frühstückt ihr?", "Wie kommt ihr zur Schule?" Ich wusste instinktiv, dass unsere Mom in Schwierigkeiten steckte und dass ich für sie lügen sollte, doch meine Ausreden ("Sie geht arbeiten, aber wir sehen sie ständig") waren nicht überzeugend. Ich fühlte mich von den Nachbarn verraten und beobachtet. Wer von euch Wichsern hat die Cops gerufen?

Dad musste aus Seattle zurückkommen, um sich um uns zu kümmern. Und damit war auch Susan zurück. Mom zog in eine Wohnung in der Nähe. Susan hatte jetzt eine Art städtische Welterfahrenheit, die Larry und mir neue schlechte Einflüsse garantierte. Mit 13 trug ich schon offen Zigarettenschachteln bei mir – davon profitierte die ganze Familie, wenn jemandem mal die Zigaretten ausgingen. Damals war die Rauchkultur anders; ich weiß sogar noch, dass ich mir in dem Alter mit Dad im Supermarkt eine anzündete. Dad hatte das Extrazimmer als Dunkelkammer für seine Fotografie genutzt, aber jetzt baute er es für Susan zu einem winzigen Studio-Apartment mit separatem Eingang um.

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Bei ihm ging es viel strenger zu als bei Mom, was mir missfiel. Am Kühlschrank hing eine Tabelle, auf der stand, wer wann welche Aufgabe zu erledigen hatte. Alle bekamen wöchentlich eine Sache zugeteilt – Abwasch, Teppiche saugen, Abendessen kochen. Zeug, dass eine Mom oder Ehefrau eigentlich sonst tat. (Zumindest gab mir Dad 20 Dollar die Woche für Zigaretten.) Vielleicht wollte er seine Strenge kompensieren, als er mir ein volles Drumset kaufte.

Patty Schemel musste sich in der Schulband ein paar Drum-Parts erkämpfen. 1982 | Foto: Terry Schemel

Mit 13 meldete ich mich für das Jazz-Ensemble der Schule an. Unser Band-Lehrer empfahl mir die Klarinette oder Flöte, denn das waren die Mädchen-Instrumente. Auf den Drums durfte ich für das Jahreskonzert zwar eine sanfte Version eines Karen-Carpenter-Songs spielen, aber alle echten Schlagzeug-Parts gingen an den anderen Drummer, Jason. Im folgenden Jahr ging ich zur Marschkappelle. Ich hatte auf einer gemieteten Snare geübt und gelernt, "Yesterday" von den Beatles zu spielen. Ich legte immer einen Übungsdämpfer aus Gummi auf das Fell. Dann spielte ich die erste Scheibe von Cars wieder und wieder auf verschiedenen Teilen der Drum, selbst auf dem Rand, und tat dabei so, als hätte ich ein volles Kit vor mir. Als ich dann mein vollständiges Drumset hatte, konnte ich die ganze Zeit üben und mein Repertoire erweitern. "Riff Raff" von AC/DC war einer der ersten Songs, die ich mir beibrachte. Ich hatte ihn auf einer Platte – If You Want Blood You’ve Got It – und jeden Tag legte ich die Nadel auf, spielte den Song immer wieder und hielt ihn zwischendurch an. Das Drumset stand direkt neben meinem Bett, und ich übte immer, wenn ich zu Hause war.

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Vielleicht kam es von der Scheidung meiner Eltern, oder vielleicht fühlte ich mich seltsam und defekt bei der Vorstellung, dass ich lesbisch sein könnte. Vielleicht war es auch was Genetisches. Jedenfalls hatte ich all diese Aggression, und die brauchte ein Ventil. Wut machte mich auch ein bisschen gefährlich. Es gefiel mir, dass ich ein Instrument spielen konnte, das angeblich nichts für Mädchen war, dass ich mir vorstellen konnte, jemand anders zu sein. Beim Musikmachen konnte ich meinen Körper verlassen. Und ich liebte die Tatsache, dass Schlagzeug spielen wehtut.

Drummen ist ein Kampfsport wie Boxen. Es ist nichts für Warmduscher. Um die nötige Ausdauer zu entwickeln, muss man sich beibringen, unter Schmerzen weiterzuspielen. Das können Frauen besonders gut. Ich unterrichte im Moment einen Jungen, und in letzter Zeit haben wir viel mit Double Bass gearbeitet. Er bekam vor Kurzem seine erste große Blase und war überrascht, wie sehr das schmerzt. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, als ich sagte, er müsse sie aufstechen – der einzige Weg nach vorn ist mehr Hornhaut. Deine Hände müssen wie Leder sein. Aber das ist nur der erste Schritt, und gar nicht mal der wirklich schmerzhafte. Wenn ich spiele, dann schlage ich auf diese Teile so hart ein, wie ich kann. Dabei kommt es nicht selten vor, dass man mit dem Finger an den Rim schlägt oder alte Blasen und Wunden aufgehen. Manche Leute machen sich Tape um die Finger und kühlen ihre Knöchel mit Eis, aber ich lasse lieber das Blut fließen.

Auszug aus 'Hit So Hard: A Memoir' von Patty Schemel. © 2017. Das Buch ist bei Da Capo Press/Hachette Book Group, Inc. erschienen.

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