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HipHop

Kanye Wests 'Graduation' machte ihn zum ersten Rockstar des Rap

Das dritte Album der Ikone gab dem HipHop-Genre eine neue Richtung und einen größeren Platz in der Popkultur.
Screenshot von YouTube aus dem Video "Kanye West - Stronger" von KanyeWestVEVO

2007 sah es so aus, als hätte Conscious Rap eine echte Chance, den Sprung ins neue Jahrtausend zu schaffen. Kanye West belegte das mit Humor und einer fast perfekten Auswahl an Soul-Samples. Gleichzeitig schien es innerhalb der HipHop-Kultur immer mehr Künstlern wichtig zu sein, wie ihre Pendants aus der Rock-Welt aufzutreten. Lil Wayne und Jim Jones verhalfen punk-affinen Marken wie Affliction, True Religion und Ed Hardy in der Hood zu Beliebtheit – und geizten dabei nicht mit Portemonnaie-Ketten. Pharrel und N.E.R.D fuhren unbeirrt weiter auf ihrer Schiene aus Rap, Alt-Rock und Pop. Ebenfalls 2007 brachten die Shop Boyz aus Atlanta ihren einzigen Hit "Party Like a Rockstar" heraus, der es auf Platz zwei der Billboard Hot 100 schaffte und der meistverkaufte Klingelton des Jahres war.

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Kurz zuvor unterstützte Kanye als Opener U2 auf der internationalen Vertigo Tour und die Rolling Stones auf der A Big Bang Tour. Damals sah Kanye, wie Bono und Jagger ganze Stadien auf eine Art mitrissen, wie es Rap noch nicht konnte. "Ich lasse meine Super-Raps los, und da steht eine 50-jährige weiße Lady und denkt sich: 'Wann kommen endlich die Rolling Stones?'", erzählte Kanye 2007 in einem MTV-Interview.

Derartige Überlegungen hatte Ye im Hinterkopf, als er an seinem dritten Album Graduation arbeitete. Während die meisten anderen HipHopper nur oberflächlich mit der Rock-Ästhetik spielten und ein paar Gitarrenriffs in ihre Tracks bauten, feilte Kanye an einem stadientauglichen Update des Genres, das HipHop größer, besser und lauter machen sollte. Er positionierte sich als der erste richtige Rockstar des Rap und gab damit die Richtung vor, in die sich das Genre heute noch entwickelt.


Noisey-Video: "Don't Call It Road Rap – Die Welt des britischen Gangster-Raps"


Auf seinen ersten beiden Platten, College Dropout und Late Registration, zeigte er sich als gesellschaftskritisches Großmaul, das mit seinen Ansichten zu Rassismus und Homophobie nicht hinterm Berg hält. Doch er wurde nicht nur zum Sprachrohr für weniger Laute, sondern erlangte auch den Überflieger-Status, den er sich vorgestellt und heraufbeschworen hatte, seit er Anfang 20 seine ersten Beats für Jay-Z produziert hatte. Wenige Menschen standen bisher vor dem Dilemma, dem Kanye sich gegenübersah: Weiterhin eine komplexe Retter-Figur sein für alle, die sich einen neuen Tupac wünschen, oder zum weltweit angehimmelten Titanen werden, der die Popkultur formt?

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Graduation stellt das Embryonalstadium von Kanyes Ikonen-Status dar. Die Erwartung, er müsse eine Art Reinkarnation früherer Größen werden, warf er entschieden über Bord. Auf "Can't Tell Me Nothing" wird diese Haltung besonders deutlich, Kanye bespricht seinen Aufstieg zu bisher ungeahnten Höhen. Und den feierte er auch schamlos, deckte sich mit mehr Bling und Louis Vuitton ein denn je und benahm sich wie ein Arschloch – trotz wachsender öffentlicher Kritik und den Versuchen seiner Mutter, in wieder auf den Boden zu holen. Schon auf Late Registration gab es Symptome dieser Ruhmkrankheit – auf "Addiction" fragte er sich, weshalb Nüchternheit so unbefriedigend ist, wenn man unbegrenzten Ruhm und Zugang zu Drogen hat. Songs wie "Bring Me Down" bauten sein Ego auf, West lobte sich selbst für sein Durchhaltevermögen angesichts des vielen Hates. Doch Graduation lebte von seinem Willen, sich weiterzuentwickeln – auf der Stelle treten wäre nicht besonders Kanye von ihm. Im Daft-Punk-Samplefest "Stronger" fasst er diese Dringlichkeit zusammen: "N-now th-that that don't kill me / Can only make me stronger / I need you to hurry up now / 'Cause I can't wait much longer".

Und genau deshalb klingt Graduation so groß, deshalb ist das Album lyrisch so minimalistisch und hat so viele Sing-Along-Hooks. Kanye machte sich auf dem gesamten Album das Können hauptsächlich europäischer Rock-Größen zunutze und lernte gleichzeitig von ihnen. Für den warmen, harmonischen Hook-Einstieg des Opener-Tracks "Good Morning" samplete er das "Oooh" aus Elton Johns "Someone Saved My Life Tonight" (1975). Eine Zeile aus Steely Dans "Kid Charlemagne" wurde zum Hook von "Champion" – ein Track, dessen rabiates Synth-Intro maßgeschneidert wirkt für aufwändige Licht-Action und Nebelfontänen auf Stadionbühnen. Der "Sing Swan Song" der deutschen Krautrocker Can lieferte die Basis für den angeschwipsten Flow der Mos-Def-Kollaboration "Drunk and Hot Girls". Doch der bereits erwähnte Track "Stronger" war wohl das herausragende Stück in dieser Sammlung. Aufbauend auf dem Hit "Harder, Better, Faster, Stronger" des französischen House-Duos Daft Punk landete Kanye seinen bis dahin größten internationalen Erfolg. Die Synth-Lastigkeit dieses Hits hat ihn seither begleitet. Sein viertes Album 808s & Heartbreak samplete Bands wie die englischen New Waver Depeche Mode. Für "Power" vom fünften Album My Beautiful Dark Twisted Fantasy bediente er sich bei den Prog-Rock-Legenden King Crimson. Das sechste Album Yeezus erweiterte Kanyes Sound um Industrial- und Goth-Rap. Für den Track "FML" vom siebten Album The Life of Pablo verwendete er Vocals von der britischen Post-Punk-Band Section 25.

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Auch inhaltlich war Graduation ein Umbruch, denn Kanye konzentrierte sich weniger auf die komplexen Probleme des Lebens als Afroamerikaner und dafür mehr darauf, wie er selbst tickt. Damit wandelte er sich vom schlagfertigen Kommentator der ersten beiden Alben zu einer nahbaren Identifikationsfigur. "Homecoming" bespricht ein Problem, das Kreative nur zu gut kennen, wenn sie nicht gerade aus einer Weltmetropole kommen. Die Ode an Chicago beschreibt seine Schuldgefühle, weil er die Stadt verlassen musste, um seine Träume zu verwirklichen. In "Champion" bespricht er die komplizierte Beziehung zu seinem Vater, der sich zwar von Kanyes Mutter trennte, aber weiterhin für ihn sorgte. Der Jay-Z gewidmete Track "Big Brother" ist nicht der erste Bromance-Song im Rap, aber er ist wohl trotzdem das gründlichste Rap-Tribut von Mann zu Mann, das es bisher gibt. Kanye geht darauf ein, wie Jay ihn schon inspiriert hat, aber auch darauf, dass er sich manchmal unfair übergangen fühlte. In gewisser Hinsicht bereitete das den Weg für die sehr öffentliche Beziehung der beiden, wie wir sie heute kennen.

Es war aber nicht nur Kanye Wests Musik, die 2007 zum Ye-Jahr machte. Er und 50 Cent lieferten sich einen organisierten Konflikt, der das jeweils dritte Album der beiden ins Rampenlicht rückte. Bis dahin surfte 50 noch auf der Obergangsta-Thug-Life-Welle, die er 2003 mit seinem gefeierten Debut Get Rich or Die Tryin' gestartet hatte. Die Gegenüberstellung mit Kanye konnte 50 allerdings nur vergleichsweise überholt und irrelevant wirken lassen, denn West war sozial progressiv eingestellt, kam aus der Mittelschicht, sprach sich gegen Homophobie aus – und trug für 2007 ziemlich enganliegende Kleidung.

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Kanye gewann den Battle: Er verkaufte in der ersten Woche fast 300.000 Exemplare mehr als 50. Doch eine Anspielung auf 50s kometenhaften Aufstieg von 2003 ließ er sich nicht nehmen; in "Good Life" heißt es: "50 told me go 'head and switch the style up / And if they hate, then let 'em hate and watch the money pile up". Der Gangsta-Style hat sich von diesem Showdown bis heute nicht erholt, dieses Jahrzehnt gibt es aus diesem Rap-Genre in den USA nur zwei Platin-Alben ( Islah von Kevin Gates und Dreams Worth More Than Money von Meek Mill). Wenn überhaupt hat der Street-HipHop die Wandlung mitgemacht, die Kanye mit Graduation vollzog: 50 Cent baute sich absichtlich das Image eines unzerstörbaren, gefühllosen Roboters auf, während heute die Fans auf Künstler wie Gates und Meek abfahren, weil die sich nicht schämen, rhythmisch Verflossenen nachzutrauern oder andere Gefühle offenzulegen.

Die Gangstas und Kanye hätten sich den kommerziellen Zenith des HipHop sicher auch teilen können, aber Wests Erfolg hat innerhalb wie außerhalb der Musikindustrie eine schwarze Identität ins Rampenlicht gerückt, die über das "Vom Dealer zum Rapstar"-Klischee hinausgeht. Pharrell und Lupe Fiasco trugen zu dieser Art Sichtbarkeit ebenfalls bei, aber ihnen fehlte das Feuer und der Schneid, die 50 Cent und früher auch Tupac so anziehend machten. Kanye West wurde zum Bindeglied zwischen diesen beiden Welten; er bewunderte japanische Künstler und interessierte sich für Möbeldesign, aber er besprach trotzdem weiter Themen, die ihm wichtig waren, und riss die Klappe auf, um uns an seine Großartigkeit zu erinnern. "Everything I'm not made me everything I am" heißt es im Hook der Selbstlob-Hymne "Everything I Am" auf Graduation – ein Spruch, der sich unzählige Jugendliche auf ihr MySpace-Profil schrieben. Heute sind einige dieser Jugendlichen die größten Stars des Rap, und sie bringen die Lektionen mit, die Kanye ihnen mit dem Genre-Mix des dritten Albums beigebracht hat.

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Viele solche junge Rapper, die nicht ins übliche HipHop-Klischee passen, haben sich eine "Nicht-Rapper"-Identität gegeben. In manchen Fällen scheinen sie damit eher konservative Fans provozieren zu wollen, aber andere rücken sich damit in die Nähe des Rock 'n' Roll, wo es weniger machohaft zugeht und das Ausdrücken von Emotionen zur Musik gehört. Doch die meisten, die sich dieses Anti-Rappertum auf die Fahne schrieben, wurden eher zu Lil-Wayne-Abklatschen mit viel Autotune. Wayne hat einen Gastauftritt in dem konventionellsten Rap-Track auf Graduation, "Barry Bonds", was besser nicht passen könnte. Ein Treffen der beiden großen exzentrischen Rockstar-Rapper unserer Zeit.

Rückblickend ist Graduation der Meilenstein in der Kanye-Saga, an dem unsere größte Ikone anfing, sich in seinem Ausnahmestatus zu verlieren. Das Artwork zum Album zeigte West als sein inzwischen berühmtes Teddybär-Alter-Ego, das in unbekannte Höhen katapultiert wird. Er schoss durch die Karrieregrenzen eines amerikanischen Rapstars und landete in einer einsamen Sphäre, die vor ihm niemand betreten hatte. Bald darauf verlor er seine Mutter und wandelte sich zu der chaotischen und kontroversen Figur, die wir heute kennen.

Ich erinnere mich an eine Autofahrt im letzten Highschool-Jahr, mit einem guten Homeboy von mir. Der Soundtrack zu unserer Fahrt war Graduation, aber ich hatte bis dahin hauptsächlich Street Rap gehört. Als "Can't Tell Me Nothing" kam, drehte mein Kumpel auf, bis die Boxen fast explodierten. Mitten im Hook drückte er Pause und sagte: "Das ist genau das, was ich meiner Mutter sage, wenn ich dann auf der Bühne stehe: 'Ich hab' Geld und du kannst mir 'nen Scheiß erzählen. Geh mir verdammt nochmal aus dem Weg!"

In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich den ansteckenden Optimismus und die selbstlobende Ausgelassenheit dieser Platte feiern sollte. Dass Kanye gerade zu einer offeneren und abenteuerlustigeren Version von mir sprach, die ich noch werden konnte. Wenn ich mir die heutige Landschaft der Rapper, Künstler und Denker ansehe, wird deutlich, dass Kanye nicht nur mich damit ansprach. Er sprach zu mir, meinem Kumpel und der gesamten nächsten Generation.

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