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Noisey Blog

Lou Reed—Keine Grabinschriften

Lou Reed hat uns erschaffen und mit uns meine ich uns alle, jedes Arschloch in diesem Zimmer.

Der Himmel hat keinen neuen Engel dazubekommen und die Himmels-Band kein neues Bandmitglied, weil es keinen Himmel gibt und weil Lou Reed kein Engel war, und selbst wenn es den Himmel gäbe und Gott gewillt wäre, über Luo Reeds zahlreiche und vielfältige Verstöße hinwegzusehen, wird man Reed niemals dabei erwischen, wie er mit den Spießern zusammenspielt, aus denen sich im Moment das beschissene Himmelsfest zusammensetzt.

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Es ist schwer, über Lou Reed zu schreiben, ohne dabei in ein Klagelied über die Zartheit unserer Kultur á la Clint Eastwood zu verfallen. Natürlich ist unsere Kultur nicht zart, und früher war nicht alles besser—das ist die ahistorische Sentimentalität, der sich Reed, absichtliche Missverständnisse wie „Sweet Jane“ und „Rock and Roll“ beiseite, verschrieben hat—aber es ist wirklich schwer, sich vorzustellen, dass heute noch irgendjemand, der so kontrovers, unliebsam und absolut störrisch wie Reed ist, seinen Weg nach oben finden könnte. Klar, wer weiß schon, wie zimperlich die Popkultur ohne ihn heutzutage gewesen wäre … Also vielleicht würde er trotzdem kommen, um alles zu sprengen, um die Degradierung in ihrer Schönheit zu zeigen, einen Streit anzufangen mit der Lester-Bangs-Version dieser hypothetischen Velvet-Underground-losen Parallelwelt, in der jeder weiße Idiot immernoch lange Haare hätte und Sonnenbrillen ausschließlich draußen getragen würden, bei Sonnenschein.

Lou Reed war der Sänger von Velvet Unterground, ein Vorbild für Tausende New Yorker. Er starb mit 71 Jahren. Lou Reed braucht keine Mythologie, die um ihn herum aufgebaut wird. Zuerst einmal, ist der tot—wenn es ihn vorher also nicht interessiert hat, dann ist das jetzt doppelt der Fall. Klar, Thomas Lynch, ein weiterer Poet, würde sagen, dass Trauern nichts für die Toten ist, sondern für die Lebenden. Also sollte jedem vergeben werden, der die letzten zehn Jahre eher damit verbracht hat „Lou Reed ist grantig“-Scherze zu reißen, als sich White Light/White Heat anzuhören. Und falls du dir doch ein Lou-Reed-Album nach „Songs for Drella“ gekauft hast, dann herzlichen Glückwunsch—du bist ein besserer Mensch als ich. Jeder kann Lou Reed lobpreisen (immerhin hat er uns mehr oder weniger erschaffen), aber es ist an denen, die er tatsächlich geliebt hat, ihn zu beerdigen—wir reden nur über ihn, wie der New Yorker Klatsch und Tratsch für den er so viel Verachtung vorgab.

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Wenn ich sage, Lou Reed hat uns „erschaffen,“ meine ich nicht nur „weißen Mittelständler, die harte Drogen und die Gesellschaft Transsexueller genießen“, sondern ich spreche von UNS, in Großbuchstaben, jedes Arschloch in diesem Zimmer. Dieser Mythos des Erschaffens (ich weiß, dass ich gesagt habe, Reed braucht keine Mythologie, aber ich rede viel wenn der Tag lang ist) rankt sich natürlich nicht um Reed allein. Er ist einer von vielen, wie zum Beispiel Elvis und Tina Turner und James Baldwin und Madonna oder Smokey Robinson, die diesen Tonklumpen formen; die uns mit ihrem schieren Talent und ihrer fast schon beängstigenden Willenskraft dazu gebracht haben, in unseren besten Momenten roh, genervt, albern, gleichermaßen romantisch und böse zu sein—mit anderen Worten lebendig. Du magst deine eigene Ruhmeshalle haben, wie gut für dich, aber Lou Reed verdient durch seinen puren Einfluss schon die Aufnahme darin. Reed war sowohl früh als auch strange genug, um wenigstens ein bisschen Einfluss nicht nur auf Gitarrenpop, sondern auch auf HipHop, Noise und, natürlich auch am schädlichsten, auf den Indie zu haben.

Lasst es mich offen sagen, damit es aus dem Weg geräumt ist und ich um die revisionistische Kurve komme: Lulu war vollkommen okay. Beim Release wurde auf allen Ebenen so dick aufgetragen, dass jemand wie ich, der weder viel Metallica noch Lou Reed hört, sich gar nicht die Mühe gemacht hat, dieses gemeinsame Werk zu hören. Es lief bei mir alles unter „Schau mal wie schrecklich DAS ist“-Witzen und offen gestanden, habe ich diesen Witz selbst nie ganz verstanden. Es hat sich nur gut angehört. Ein Pack merkwürdiger Menschen, die älter wurden, und einfach nur noch das gemacht haben, worauf sie Bock hatten. Ich hätte es nicht bei meiner Beschneidung hören wollen, aber es war auch nicht unbedingt schlecht. Die Leute sind einfach kleine Babys, wenn es um Kunst geht.

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Lou Reed war ein Poet. Das ist schade, weil es bedeutet, dass er nach Velvet Underground so ziemlich mit dem Singen im traditionellen Sinne aufgehört hat. So cool sein Sprechgesang die nächsten 40 Jahre auch war, er hatte eine liebenswerte, fragile Singstimme. Egal ob er über harte Drogen (und wenn wir eine Sache von Reed gelernt haben, dann diese: Wenn man schon Drogen nimmt, sollte man wenigstens harte Drogen nehmen) oder sexuelle Vorlieben sang, der Straßen-Jive wurde immer von seinem vorzüglichem, kühlen Tenor getragen. Bei ihm, ähnlich wie bei Bob Dylan, wurde die „Poesie“ des Rock'n'Roll (später HipHop) sein Ding, obwohl Genres wie diese den Glanz der Kultur brauchen, um wichtig zu werden. Scheiß drauf, Poesie ist großartig, aber Rock'n'Roll und HipHop sind es auch und keins der beiden muss sich vor vermeindlich „höheren“ kulturellen Kräften rechtfertigen. Schon wieder, nicht Lou’s Fehler. Leute, die Wellen machen, können für jeden Tsunami verantwortlich gemacht werden.

Was ist meine persönliche Verbindung zu Lou Reeds Musik? Wen interessiert’s? Mein Leben als Fan ist absolut langweilig. Wenn du „gerührt“ werden willst, dann schau dich anderweitig um. Lou Reed hat uns kein Testament hinterlassen, dem wir folgen sollen. Erzähl die Geschichte der Kids aus dem Hinterzimmer; selbst wenn du sie falsch verstanden hast und hier und da mal explodierst, oder mit den Freaks liebäugelst, ist das okay—ihre Geschichte ist interessanter als deine. Du musst auch nicht deren reale Namen verwenden „Jane“ oder „Holly“ oder „Candy“ gehen genauso. Oder, besser noch, du denkst dir einfach alles komplett aus, so wie das meiste von White Light/White Heat. Du musst es auf eine Weise machen, dass die Leute denken du würdest die Wahrheit erzählen, oder wenn du verdammt talentiert bist (Viel Glück!) so, dass die Zuhörer denken du würdest ihre Geschichte erzählen. Oder die Geschichte einer Stadt. Oder die Geschichte von Rock'n'Roll.

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Lou Reed ist tot. Das ist traurig. Und an alle, die in die „Nicht so traurig oder wichtig wie…“-Brigade eintreten wollen: Ja er war nur ein Musiker, und das Leiden von Millionen ist real. Aber er hatte realen Einfluss. Lou Reed, und das ist noch leerste aller Phrasen „hat das Leben der Menschen verändert“. Und die Welt ist nun einmal furchtbar traurig. Du kannst mehr als hundert Sorgen gleichzeitig im Kopf haben, ohne geschwächt zu sein. Kummer höhlt nicht aus, er ist alles. Also trauere um den zu früh verstorbenen Lou Reed: Poet, Künstler, unglaubliches Arschloch und Songwriter, einer der wenigen der die Bürden, die das Leben uns mitgibt erleichtern konnte.

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