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Zmittag uf Skype

Kann Gewalt ein legitimes politisches Mittel sein, Tommy Vercetti?

Die gewaltvollen Ausschreitungen in Bern sorgen schweizweit für Aufruhr. Unser Redaktor Uğur Gültekin und Rapper Tommy Vercetti versuchen das Phänomen der Gewalt unter die Lupe zu nehmen.
Foto: Facebook 

In unserer Reihe "Zmittag uf Skype" diskutieren Rapper Tommy Vercetti und unser Redaktor Uğur Gültekin via Skype über Themen, die aktuell in der Schweiz debattiert werden. Sie haben es sich dabei zum Ziel gesetzt, nicht nur die Debatte und das gewählte Thema an sich, sondern auch sich selbst kritisch zu reflektieren. Tommy bezeichnet sich selbstironisch als "schöngeistigen Marxisten". Er stellte sich letztes Jahr zur Wahl als Stadtrat der Stadt Bern, wo er auf der Liste der PdA (Partei der Arbeit) klar linke Positionen einnahm.

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In Bern kam es vergangene Woche zu heftigen Zusammenstössen zwischen der Polizei und den Teilnehmern einer unbewilligten Demonstration. Die Situation war nach der Räumung des besetzten Hauses an der Effingerstrasse 29 eskaliert und mündete in tagelangen Strassenschlachten, bei denen beide Seiten Gewalt anwendeten und etwa ein Dutzend Menschen verletzt wurden. Es kam zu schweren Sachbeschädigungen durch die Demonstranten und zu Wasserwerfer- und Gummischroteinsätzen durch die Sicherheitkräfte des Kanton Berns. Die Demonstranten forderten eine radikale Verschiebung der Besitzverhältnisse im Bezug auf Wohneigentum und sahen sich legitimiert auch auf Gewalt zurückgreifen zu dürfen, weil ansonsten kein Diskurs über ihr Anliegen entstanden wäre. Die Polizei hingegen argumentierte, sie versuche Sicherheit und Ordnung zu bewahren und würde lediglich auf die gewalttätigen Aktionen der Demonstranten reagieren.

Tommy Vercetti und ich haben über die Ausschreitungen an sich, die Forderungen der Demonstranten, die Rolle der Polizei und über Gewalt als politisches Mittel gesprochen.

Uğur: Was hältst du von den Ausschreitungen von letzter Woche in Bern?
Tommy Vercetti: Zuerst muss gesagt werden, dass ich nicht dabei war und keine Informationen aus erster Hand besitze. Ich lief schon vor 15 Jahren mit friedlichen Anti-WEF-Umzügen in Wasserwerfer, und am nächsten Tag stand in den Zeitungen, die Polizei hätte auf einen gewalttätigen Mob reagiert, deshalb bin ich da vorsichtig. Abgesehen davon, würde ich etwas provokativ sagen: Ich finde sie interessant und notwendig.

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Das heisst du kannst dich mit den Inhalten und Forderungen der Demonstranten irgendwo identifizieren?
Das kann ich ganz klar: Etwas so Grundsätzliches und Lebensnotwendiges wie Wohnraum ist – obwohl ein Menschenrecht – keineswegs garantiert, sondern in erster Linie ein Objekt von Spekulation und Profitvermehrung. Wohnraum steht leer, um Preise hochzuhalten, während Familien zusammengepfercht auf 30 Quadratmeter leben müssen oder an den Mieten zugrunde gehen. Die Gruppe Partenza hat in einem Facebook-Post gründlich und korrekt darauf verwiesen, dass das ein essentieller und damit auch "normaler" Teil des Kapitalismus bilde, und es entsprechend naiv sei, sich darüber aufzuregen – aber das macht es natürlich nicht besser.

Interessant und notwendig finde ich die Forderungen schlicht deshalb, weil wir uns in einer Zuspitzung kapitalistischer Widersprüche befinden, die sich überall bemerkbar macht – und sie soll und muss sich auch von linker Seite auf der Strasse bemerkbar machen. Auf Glanton Gang rappe ich: "iri Gwalt isch subtil, iri Gwalt het Stil – ir Strass wird si sichtbar, aber trifft nid ires Ziel." Was auf der Strasse brennt, wurde an der Börse, in den Chefetagen gezündet – auch wenn das Feuer nicht konstruktiv sein mag, es wird zumindest gesehen.

Es gab Stimmen, die die Zusammensetzung, das Motiv und die soziale Herkunft der Demonstranten kritisierten. Es war von "Möchtegern-Revolutionären" und "Wohlstandsverwahrlosten" die Rede.
Das ist doch ein lächerliches Argument, das weitergedacht dazu führen würde, dass sich jemand Privilegiertes zu gar nichts mehr äussern und für gar nichts mehr einsetzen dürfte. Du bist Schweizer Mittelklasse? Ok, dann rede nicht über Hunger, Gewalt, Elend oder Krieg. Das würde dazu führen, dass sich gar niemand mehr für etwas einsetzt, weil die Betroffenen meist mit Überleben beschäftigt sind. Gerade in dieser Hinsicht würde es mich interessieren, was du, der aus einer kurdischen Familie mit viel politischer und sicher auch leidvoller Erfahrung stammt, von den Ausschreitungen hältst?

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Das Bedürfnis nach günstigem Wohnraum – aber auch nicht-kommerziellen Räumen für Kunst und Kultur – sind Anliegen mit denen ich mehr als nur sympathisiere. Diese sehr wichtigen Anliegen werden meiner Meinung nach von der Politik weitgehend ignoriert oder nicht mit genügend Priorität behandelt. Ich bin in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit drei anderen Menschen aufgewachsen und weiss darum aus eigener Erfahrung, wie einengend solche Verhältnisse in verschiedener Hinsicht sein können. Nicht nur darum begrüsse ich es, wenn über diese Anliegen ein Diskurs entsteht, der hoffentlich auch zu Veränderung führt. In der ganzen Debatte, ist das für mich der allerwichtigste Punkt: Wie können möglichst viele Menschen in zumutbaren und bezahlbaren Verhältnissen leben und wohnen? Wenn ich mir die Ausschreitungen von letzter Woche ansehe, stellt sich für mich aber auch folgende Frage: Wer kämpft hier eigentlich gegen wen? Sollten die Polizisten nicht auf der Seite der Demonstranten sein? Wen und was schützen sie?
Ich glaube, das ist eine der zentralen Fragen überhaupt. Die Rolle der Polizei ist – zumindest moralisch – ein einziges grosses Dilemma. Einerseits verpflichtet sich der Polizist, die Befehle des Staates auszuführen, Privateigentum zu schützen und kriminelle Handlungen wenn nötig mit Gewalt zu unterbinden. Andererseits ist jeder Polizist eine Privatperson, ein Mensch, hat Gefühle, eine Familie, und gehört bezüglich seiner Einkommens- und Arbeitsverhältnisse zur Arbeiterklasse: Er leidet also selbst unter dem knappen Wohnraum, und falls er Mieter ist, auch unter dem Druck, monatlich die Miete bezahlen zu müssen.

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Aber das Dilemma geht noch weiter: Er befolgt die Befehle des Staates ja davon ausgehend, dass diese demokratisch legitimiert sind. Also auf von der Allgemeinheit beschlossenen Gesetzen beruhen. Dies wird natürlich durch den Kapitalismus in höchstem Masse in Frage gestellt: Erstens weil die Gesetze selbst diesem dienen, zweitens weil sie auf unzählige Weise umgangen werden können. Und genau da fragt sich, wie demokratisch legitimiert es ist, wenn Polizisten das eine Prozent der Reichen mit Gewalt gegen den Rest schützen.

Die Linke muss sich nun sehr gut überlegen, wie sie damit umgeht. Die Polizisten sind als Menschen und als Lohnabhängige ein Teil von uns.

Warum unterscheiden wir so stark zwischen eben dieser demokratisch legitimierten Gewalt in Form von Wasserwerfern und Gummischrot und der Gewaltanwendung der Demonstranten? Welche Unterschiede erkennst du hierbei?
Eben, die Gewalt scheint zuerst mal demokratisch legitimiert: Die Befehle kommen von Personen, die wir gewählt und von Gesetzen, die wir bestimmt haben. Zweitens wird sie eben immer als Reaktion dargestellt: Die Polizisten reagieren nur auf die Gewalt der Demonstranten. Sie fangen nicht an, um das mal kindisch auszudrücken. Es fragt aber niemand nach grundsätzlichen Rechten wie dem Demonstrationsrecht, es fragt niemand nach der Rolle der Polizei in zunehmend autoritären Staaten, und es fragt niemand nach der strukturellen Gewalt, die all dieser Gewalt vorausgeht: Also welchen konkreten körperlichen und psychischen Schaden tragen Menschen davon, die aufeinander gepfercht leben, die dauerndem finanziellen Druck ausgesetzt sind, die vielleicht sogar kein Obdach haben? Und wir reden hier nicht nur über das von der Rechten verharmloste Burn-Out, wir reden über häusliche Gewalt, Alkoholismus, Kindesmisshandlung, zerfallende Familien, verwahrloste Kinder, körperliche Langzeitschäden et cetera.

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Du sagst diese Art von Gewalt "scheint" demokratisch legitimiert zu sein. Ist sie denn das nicht effektiv?
Die Staatsgewalt ist legitimiert im Rahmen der bestehenden Demokratie. Eine ganz andere Frage ist, was diese tatsächlich leisten kann. Erstens haben Verhältnisse und Gesetze eine Geschichte, sie sind nicht vom Himmel gefallen: Als in der Verfassung der Schutz des Privateigentums verankerte wurde, hatten manche schon ein riesiges Privateigentum angehäuft. Diese Bevölkerungsschichten stellten sicher, dass eben genau dies in die Vefassung reingeschrieben wurde. Zweitens ist der wichtigste Bereich der Gesellschaft – die Wirtschaft – völlig undemokratisch. Klar können wir ein paar Gesetzchen zu Umwelt und Konsumentenschutz bestimmen, aber in einem Unternehmen bestimmen die Besitzer, was läuft. Sie können Millionen anhäufen und die Arbeiter bluten lassen, und die Polizei muss dann diese Millionen gegen die Arbeiter schützen – selbst wenn das, wie im Falle von Bill Gates, das Vermögen eines Mann gegen einen Viertel der Weltbevölkerung bedeuten würde. Das ist ja nun wirklich sehr begrenzt demokratisch.

Warum sympathisieren auch grosse Teile der Bevölkerung mit der Machtausübung des Staates und halten die Gewalt der Demonstranten für undemokratisch, destruktiv und verurteilen sie?
Die Polizei hat in der Schweiz – auch zu Recht, muss man sagen – immer noch einen sehr guten Ruf. Sie wendet eben nur als Reaktion Gewalt an und ist in erster Linie da, um uns zu schützen. Demonstranten bedeuten Lärm, Chaos, brennende Autos – es leuchtet ein, dass das beunruhigt. Die sehr sensible Frage, die sich auch jeder Polizist stellen muss, wäre: Wann kippt es? Wann schütze ich Verbrechen und schlage auf meine Mitmenschen ein? Und diese Frage gehört leider nicht nur in die Ära totalitärer Systeme oder in die Dritte Welt, sie gehört auch ins Europa von heute.

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Inwiefern glaubst du, kann und darf Gewalt als Mittel für politische Kämpfe herbeigezogen werden?
Medien und Politik profitieren von der Unschärfe des Gewaltbegriffs: Sie nutzen seine skandalöse und erschreckende Wirkung im Sinne körperlicher Gewalt, sprechen aber hinsichtlich der Demonstranten meist von Gewalt gegen Dinge, also Sachbeschädigung. Ich finde Gewalt in drei Momenten legitim:

Erstens: Als Selbstverteidigung und Widerstand in einer lebensbedrohlichen Situation: Ich finde es richtig, dass es bewaffneten Widerstand gegen Franco und Hitler gab, und ich finde es richtig, dass sich die Black Panthers gegenüber der US-Polizei bewaffneten, die wahllos Schwarze erschossen (und dies noch heute tun).

Zweitens: Nicht-körperliche Gewalt (also nur gegen Dinge) als kommunikativer und symbolischer Akt: Es gibt immer wieder Momente, in denen die parlamentarischen und herkömmlichen Wege versagen und in diesen Momenten braucht es zivilen Ungehorsam, um sich Gehör zu verschaffen. Ich werde nie eine eingeschlagene UBS-Scheibe verurteilen, solange die UBS in Kriegsmaterial investiert und mit Nahrungsmitteln spekuliert (plus eine neue Scheibe ist wenigstens eine realwirtschaftliche Investition).

Drittens, und diesen wichtigen Hinweis verdanke ich Janosch Abel, mit dem ich hochpolitische Babyspaziergänge mache: Es gibt eine Art politische Arbeitsteilung, zu der auch Militanz gehört. Um es kurz und salopp zu sagen: Die SP Bern ist stolz, in einer nazi-freien Stadt zu leben, aber sie verurteilt die militante Antifa, die die Nazis aus der Stadt geprügelt hat. Der Faschismus darf keinen Raum haben und sich nirgends wohl fühlen. Diese Drecksarbeit besorgen die "Chaoten" – und dafür bin ich dankbar, auch wenn sie vielleicht Freude an der Gewalt  haben oder den Kick suchen, oder was da noch für hobby-psychologische Erklärungen vorliegen.

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