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Ich war am Argovia-Fäscht und wollte sterben!

Das Argovia-Fäscht ist eins der seltsamsten Festivals der Welt. Hier schreit man gerne mal „Sieg Heil“ oder will für eine Zigi Brüste schütteln. Ein Festivalbericht aus der Schweizer Provinz.
Alle Fotos von Emanuel Niederhauser

Eins vorweg: Wir sind Aargauer. Wir reden so, wie man da so redet. Also „Bahnhofsbuffet Olten"-Dialekt. (Olten liegt im Nachbarkanton, ich weiss.) Der Fotograf darf den Aargau fotografieren. Ich darf über den Aargau und über das Promofestival von Radio Argovia schreiben.

Ans Argovia-Fäscht gingen auch 2014 um die 70 000 Versicherungsangestellte, ETH-Studenten und 16-Jährige mit 18+-Bändchen. Das Lineup war für 20 Franken Eintritt ganz okay. Das Lineup und die Musik waren aber auch allen egal. (Ausser der Auftritt von DJ Antoine.)

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Das Argovia-Fäscht findet im „Gaggo usse“ statt, damit für den Shuttlebus vom nächsten grösseren Ort (Fahrtzeit zirka 10 Minuten) zwanzig Franken verlangt werden kann. Wir und das intelligentere Fünftel der Besucher fuhren also mit dem Regiozug nach Birr und liefen die halbe Stunde auf das Birrfeld. Der Harndrang überkam schon manchen und der Harndrang schien—noch vor Sex—der Haupttrieb des Abends gewesen zu sein.

Am Eingang gab man uns keine 18+-Bändchen. Das sei schon okay. Es lag wohl an den Bärten. Drinnen sahen wir jedenfalls viele Bubis, die über dem 16/17-Bändchen auch noch ein 18er trugen. Das waren meistens auch die mit den superlangen gelben Drinks. Die kosteten schlappe 70 Franken.

Alternativ konnte man aus Kondomen und Kübeln schlürfen. Wir blieben beim Dosen-Feldschlösschen („Chlises Land mit eme grosse Bier“) und verzichteten auf die Drinks aus einem grossen Kanton mit wenig Niveau.

Auf der Bühne spielten Pegasus. Da kann man nichts sagen. Am Schiesstand schossen wir uns beide eine Rose. Da kann man auch nichts sagen. Auf der Coyote Ugly-Bar tanzte eine mindestens 40-Jährige an der Polostange. Was will man da sagen? Was will man für beeindruckende Assoziationssaltos schlagen, an einem Festival, das vor allem aus Atzenmusik-Zelten, Grillspiessen und Toitoi-Pissoirs besteht?

Und so drehten wir unsere Halbrunden über das Gelände, kippten Bier um Bier, hörten erst bei Fettes Brot wieder so halb hin und trafen auf Menschen, die sich so kleiden, dass ein 70 Franken-Trinktrichter ein ideales Accessoire ist. Manchmal hatten wir Mitleid: So etwa mit dem Typen, der sich wegen einer Wette mit Edding vollschmieren liess und Toilettenpapier wie eine Federboa trug.

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Manchmal waren wir aber auch einfach schockiert: Als ein Laster mit einem Tank voll Toitoi-Inhalt kurz stoppte, sprang eine Gruppe Vollidioten drauf, hängte sich dran (Junge, hast du dir verdammt nochmal überlegt, was passiert, wenn ein Tank voll Kacke auf dich fällt???!) und—das ist kein Witz, das Foto nicht gestellt: Sie schrien: „Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!“

Der dazugehörige Gruss durfte nicht fehlen. Die politische Überzeugung war sicher nicht da, die Geste seit neustem ja legal, aber trotzdem war es verwirrend.

Etwas später kam eine Frau auf uns zu: „Döf ich en Zigi ha?“ „Ja eh, wennd sini Hand küssisch?“ „Eimol Brüscht schüttle derfür isch okay?“ Das waren die Gespräche des Abends.

König Boris von Fettes Brot sagte dann auch: „Ich habe gehört, heute Abend sind viele Jungfrauen da!“ Auch das mag sein, denn schamlos waren zwar alle, aber für Sex wohl zu verladen.

Die Musik war allen egal? Nicht beim Auftritt von DJ Antoine. Wir wollten eigentlich ein Bier holen, aber wir kamen nicht mehr aus der Menge. DJ Antoine rief „Muusig us de Schwiiz!“ und alle sind durchgedreht. DJ Antoine rief „C'mon, clap your hands.“ und alle sind durchgedreht. DJ Antoine rief „Jump!“ und alle sind gehüpft wie Super Mario auf Ecstasy.

DJ Antoine hatte nicht besonders viel zu tun am Mischpult. Präsenz hat er aber definitiv gehabt. Jede Hand, jeder Laserhandschuh und jedes Smartphone war ihm ergeben.

Für den Nachhauseweg wollten wir uns an einem Stand namens „7Sieche“ einen Hamburger holen. „Es hat nur noch Vegi. 2 Fr.“ Der Vegiburger bestand dann aus Brot, Ketchup und einem Salatblatt. Die Schuld des Argovia-Fäschts? Wir torkelten eine halbe Stunde lang zum Bahnhof zurück. Der Selecta-Automat schluckte fünf Franken ohne was auszugeben. Die Schuld des Argovia-Fäschts?

Der SBB-Automat frustrierte die ganze Schlange aus angeblichen 18-Jährigen, weil er drei Minuten bevor der Nachtzug abfuhr plötzlich „momentan nicht zur Verfügung stand“ und eine Minute vor der Abfahrt wieder funktionierte. Die Schuld des Argovia-Fäschts?

Wir waren froh, dass der Zug uns aus dem Agglokanton mit 600 000 Einwohnern brachte. In eine Stadt. Vom Bahnhof zum Nachtlager passierten wir eine Kunsthochschule und mehrere besetzte Häuser. Wenn es ihn gäbe, würden wir unseren Aargauer Pass gerne abgeben. Noch nicht mal aus politischen Gründen.