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Ich habe drei Tage lang ausschließlich Helene Fischer gehört

Mein Fazit: Krankheit, Depression und ein versautes Liebesleben. Danke, Helene.

An meinem dritten Tag als Noisey-Praktikantin wurde ich gefragt, welche Musikrichtung ich am meisten verabscheue. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: Schlager. So wurde es zu einer meiner ersten Aufgaben, drei Tage lang Helenes zartem Stimmchen zu lauschen. Ich möchte an dieser Stelle auf die sadistische Ader der Redakteure hinweisen. Es erschien mir anfangs wie ein schlechter Scherz, ein diabolischer Stresstest für Praktikanten. Was hatte ich falsch gemacht? Ich hatte mich doch wirklich bemüht, nett zu sein. Die drei Tage sollten sich als eine Reise durch vergessen geglaubte Gefühle herausstellen.

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Dazu muss ich kurz die Gründe für meine Aversion erklären. Hinter meiner Schlagerallergie steht eine Art Kindheitstrauma. Als ich noch ein kleiner und willenloser Zwerg war, hat mich meine Kärntner Großmutter regelmäßig dazu gezwungen, mir Musikantenstadl anzusehen. Schon damals wurde ich unruhig und wollte nicht aufhören zu weinen, wenn Hansi Hinterseer, der damalige Schwarm aller in Kärnten ansässigen 60 plus-Hausfrauen, sein gefaketes Koks-Lächeln aufsetzte und "Lieb mich nochmal" in die Kamera trällerte. Weil ich nicht brav war, musste ich am nächsten Tag in die Kirche. Seither stellen sich mir die Nackenhaare auf, wenn ich Schlagermusik höre. Schlager hat für mich etwas schrecklich unauthentisches und aufgesetztes. Wer zur Hölle lächelt JEDE SEKUNDE. Das grenzt doch an Wahnsinn. Und noch schlimmer: Wer bezahlt für so etwas?

Ich bin also zugegebenermaßen recht voreingenommen an die Sache rangegangen. Es fiel mir anfangs schwer, einen plausiblen Grund dafür zu finden, warum so viele Leute auf Schlagermusik abfahren. 1,6 Millionen Likes auf Facebook. 850.000 Fans bei ihrer Farbenspiel-Torunee. Bei einem Ticketumsatz von rund 38,4. Millionen Euro. Der beachtliche 38. Platz in einem internationalen Ranking der erfolgreichsten Künstler. Das alles sind Errungenschaften, die sich Helene, eigentlich ja geborene Jelena Petrowna Fischer aus Sibirien, auf ihre Fahnen heften kann. Das Goldlöckchen ist zurzeit verdammt nochmal die bestbezahlteste Sängerin im deutschsprachigen Raum. Helene Fischer ist ein Phänomen und hat eine eigene Subkultur erschaffen, weil sie so viele Leute anspricht. Wirklich. Wer es wagt sie zu kritisieren, kann mit einem Shitstorm von ihren Fans rechnen. Nachdem ich mich drei Tage lang mit ihr beschäftigt habe, konnte ich tatsächlich Antworten auf meine Frage finden, warum sie so viele Leute begeistern kann.

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Tag 1

Foto via Flickr I Abhijay Achatz I CC BY 2.0

Nach einem zweistündigen Hit-Medley kann ich nur noch wie gelähmt auf meinen PC starren. Ich bin wahnsinnig frustriert, weil ich noch zwei Tage vor mir habe. Rein melodisch betrachtet, kann ich wirklich nichts gegen Helenes Songs sagen. Auch wenn sie nicht ganz meinen Geschmack treffen, sind Hits wie "Atemlos" dennoch sehr eingängig. Aber die Lyrics. Die tun verdammt weh. Wirklich fast jeder ihrer Songs handelt von Liebe. Sehr schnulzig und schmalzig. Ich finde, die Texte lassen sie wirklich nicht gerade emanzipiert wirken und sie verkörpert den Idealtyp von einem braven, von Sehnsucht erfüllten Mädchen, gapaart mit ein bisschen Bitchness (durch die sexy Bühnenutfits). Nach dem ersten zwei-Stunden-Medley begann ich mich aber langsam mit ihren Texten zu identifizieren. Ich fühle mich plötzlich wieder, als wäre ich ein 15-jähriges Hormonbündel und begann mich zu fragen, ob mich überhaupt jemand liebt. Als ich am Abend einkaufen gehe, summe ich gedankenverloren "Mitten im Paradies". Ich bemerke, wie hoch das Ohrwurmpotenzial von Helenes Songs ist. Das liegt bestimmt an den anspruchslosen Texten und den eingängigen Rythmen, die leicht zu merken sind. Und weil sie auf Deutsch geschrieben sind, bleiben sie noch leichter hängen und brennen sich, ob man will oder nicht, in alle Gehirnwindungen.

Tag 2

Ich wache mit Lyrics im Kopf auf. Als ich in der Redaktion wieder einen dreistündigen Ausschnitt aus Helenes Farbenspiel-Tournee aufdrehe, beginne ich mein Leben revue passieren zu lassen. Das ist einer der Momente, in denen man sich denkt: Verdammt, was zum Teufel mach ich hier eigentlich? Ich achte heute auch auf ihre Bühnenperformance. Helene hat eigentlich eine echt gute Figur und weiß, wie sie mit dem Publikum umgeht. Im Stadion stehen geschätzte 10.000 Menschen und erinneren mich an eine Herde Schafe, die paralysiert auf ihren Hirten starren.

Die Textinhalte verstören mich. Sie erinnern mich alle irgendwie an Kinderlieder. Sie sind übertrieben gefühlsgeladen und kitschig. Dann überrascht mich Helene und beginnt "Biene Maja" zu singen. Die Leute grölen lauthals mit. Vielleicht fühlen sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Es ist irgendwie berührend zu sehen, wie 10.000 Menschen zu "Biene Maja" abgehen. Auf einer Fremdschäm-Skala, würde sich das Gefühl, das ich hatte, jedoch nicht mal einordnen lassen. Ich bin deprimiert. Was zur Hölle ist mit der Menschheit los? Oder bin ich schon so abgestumpft? Ich kann so viel Gefühlsduselei nicht mehr ertragen.

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Am Nachmittag fühle ich mich, als würde mir irgendetwas meine ganze Lebensfreude aussaugen. Am Abend habe ich dann einen depressionsartigen Gefühlszusammenbruch und fühle mich verzweifelt. Ich weine mich – zum ersten Mal seit Jahren – wieder mal in den Schlaf und weiß nicht, warum. Dann jedoch die aufmunternden Worte Jelenas in meinem Kopf: "Morgen Früh küss ich dich wach".

Tag 3

Ich wache auf und fühle mich beschissen. Mein Hals tut weh und ich fühle mich fiebrig. Zum Frühstück drehe ich "Ich will immer dieses Fieber spüren" von Helene auf und fühle mich gleich ein wenig besser. Helene hat auch schon einmal Fieber gehabt. Helene versteht mich. Ich erwische mich, wie ich zum Beat tanze. Ihre Lieder sind fast alle gleich, aber sie sind irgendwie beruhigend und einlullend. Ich fühle mich verletzlich und angreifbar, aber Helene hilft mir, mich sicher zu fühlen. "Es ist so wie fliegen ohne Flügel" Ich kann schon viele Texte auswendig und singe mit. Die Welt da draußen ist böse und kalt. Ihre Songs helfen mir, in eine heile Parallelwelt zu flüchten, in der alle händchenhaltend über wunderschöne Blumenwiesen hüpfen.

Ich sehe mir nochmal einen Ausschnitt aus ihrer Torunee an. Da wirbelt sie herum auf der Bühne, lacht viel und ist sehr süß. Wie eine Elfe, die auf der Erde wandelt, um den Menschen Gefühle zu vermitteln. Warum sind wir alle bloß so abgestumpft? Hach Helene, du bist irgendwie toll. Trotz Krankheit bin heute recht gut gelaunt und wenn Menschen mit mir reden, antworte ich häufig singend mit weisen Zitaten von Helene. Einer meiner Lieblinge: "Keiner ist feeeeehlerfrei..was ist denn schoooooon dabei". Spätestens jetzt bemerke ich, wie sehr mein Gehirn gewaschen wurde.

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Am Abend besucht mich mein neuer Freund und ich zwinge ihn, sich ein Medley mit mir anzuhören. Nach fünf Minuten singt Jelena von einer Ewigkeit im Paradies. Peinliches Schweigen tritt ein und wir können uns nicht mehr in die Augen schauen, ohne, dass es unangenehm ist. Spätestens nach dem Satz "Lust pulsiert auf meiner Haut" ist jeglicher Rest-Sexualtrieb endgültig abgetötet. Er sagt, wenn ich nochmal so etwas Abgespacetes machen will, soll ich ihm Bescheid sagen und er bleibt zuhause.

Foto via Flickr I Marco Verch I CC BY 2.0

Mein Fazit: Krankheit, Depression und ein versautes Liebesleben. Danke, Helene.

Nach diesen drei Tagen, die ich mit Helene verbracht habe, muss ich aber zugeben, dass sie ein Allroundtalent ist. Sie ist schön, witzig, charmant und irgendwie sympathisch, weil sie sehr menschlich wirkt. Außerdem performt sie ziemlich gut und das auch noch in sehr knappen Outfits. Ihre Stimme ist vielleicht nicht so einzigartig, aber sie ist angenehm. Außerdem erfrischt Jelena mit zahlreichen Showeinlagen, tanzt unter anderem selber sehr oft.

Sie weiß auch, dass sie einen persönlichen Draht zu ihren Fans aufbauen muss. Deshalb hat sie für ihre Farbenspiel-Tournee beispielsweise eine eigene App für ihre Fans programmieren lassen. Dabei leuchtet das Phone in verschiedenen Farben, wenn man ihre Musik hört. Natürlich auf den Beat abgestimmt. OK. Das ist schon sehr übertrieben. Aber es scheint zu funktionieren. Helene muss ja auch von irgendwas leben. Diese Kombi ist sicherlich ihr Erfolgsrezept. Sie versucht mit einfachen Texten und Melodien und einer durchdachten Bühnenperformance die breite Masse anzusprechen und schafft es. Irgendwie hat man das Gefühl, Helene würde einen verstehen.

Nach den drei Tagen war ich über mich selbst überrascht. Zwar konnte sie mich immer noch nicht für Schlager begeistern, aber ich werde definitiv mitgrölen, wenn ich das nächste Mal irgendwo "Atemlos" höre. Auch wenn ihre Lyrics mich eigentlich immer noch zum Kotzen bringen, kann ich sie mittlerweile auswendig. Jelena hat sich trotzdem meinen Respekt verdient, weil sie eine sneaky Businessfrau ist. Trotzdem haben die Effekte auf mein Leben mich davon überzeugt, diesem Genre weiterhin fern zu bleiben. Auch wenn ihre Songs mich aufgeheitert haben, haben sie mich doch zuerst in eine mittlere Depression gestürzt und mich krank gemacht. Das ist genauso, wie entführt zu werden und dann seinem Entführer dankbar zu sein, wenn er einen freilässst. Auch jetzt, Tage später, kann ich Helenes Lyrics nicht aus meinem Kopf verbannen. Ich werde wohl noch einige Wochenden und einige Liter Wein brauchen, um dieses Stockholm Syndrom zu verarbeiten.

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