Warum wir viel öfters unsere Spotify-Bubbles tauschen sollten

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Warum wir viel öfters unsere Spotify-Bubbles tauschen sollten

Mit Spotify ist es einfach, faul zu werden, was die Musiksuche angeht. Ab und zu Algorithmen zu tauschen, kann ganz schön inspirierend sein.

Header: Grafik von Samantha Tobisch.

Hallo, ich heiße Fredi und ich hatte ein Problem. Offenbar war ich der letzte Mensch, der keinen Spotify-Account hatte. Ich hatte zwar einen anderen Musikstreaming-Dienst, habe ihn aber auch kaum verwendet, da ich einfach ein Gewohnheitsmensch bin und mir ein YouTube-Converter und -Account sowie mein Soundcloud-Account ganz lange gereicht haben, um Musik zu hören.

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Anfang des Jahres legte ich mir nun auch Spotify zu. Immerhin war Spotify auch 2016 Marktsieger – nicht zuletzt wegen persönlich zugeschnittener Empfehlungen für die User. Ich wusste schon, dass Spotify der neue Bösewicht der Musikindustrie ist und Künstler in eine Abhängigkeit bringt, die jeden Knebelvertrag übersteigt. Wenn Taylor Swift sich entscheidet, ihre Alben nicht auf Spotify zu stellen, dann kann sie das machen, weil sie Swifty ist und ihr Album von ihren vielen Fans so oder so gekauft und gehört wird. So viele Fans, wie Swift sie hat, haben aber wenige Künstler.

Wenn sich ein aufstrebender nationaler Künstlergegen Spotify und den Bezahlungsmechanismus auflehnen will, dann sudert er vielleicht seinen besten Kumpel voll und unterschreibt nebenbei. Spotify ist mittlerweile so groß, dass sich Künstler wahrscheinlich mehr schaden, wenn sie nicht auf der Plattform vertreten sind. 89 Millionen Nutzer verzeichnet Spotify im Jahr 2015 – das sind 50 Prozent mehr als 2014. Davon zahlen 28 Millionen dem Marktsieger Geld. Der Rest zahlt kein Geld an Spotify und nimmt Werbeunterbrechungen in Kauf. Spotify hat zwar schon Konkurrenten – Apple Music oder Deezer – aber ist nach wie vor ungeschlagen auf Platz eins.

Anderseits beklagen sich Musiker nicht erst seit Spotify über sinkende Einnahmen: Immerhin gab es in den 00er Jahren ein Piraterie-Boom – das Internet stellt also nicht nur die Presse vor neue Herausforderungen, sondern eben auch die Musikszene.

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So oder so, Musikstreaming-Dienste sind unter anderem deshalb erfolgreich, weil sie sich wie Facebook deinen Geschmack merken und dir eine schöne Blase basteln – auch bekannt als Algorithmus. Wenn du auf Spotify deine Mixes oder das Radio hörst, sollst du dem System sagen, was dir gefällt und was nicht. Aufgrund all deiner Plays bekommst du deinen "Mix der Woche". Spotify stellt dir eigene Mixtapes zusammen und unter jeder Playlist hat man Track-Vorschläge. Das war eine neue Welt für mich.

Und seitdem ich Spotify habe, sind nun zwei Monate vergangen und meine erste Begeisterung istverschwunden: Ich wurde nämlich musikfaul. Mein Musikhören beschränkte sich auf "Mein Mix der Woche", Playlist-Vorschläge und den Release-Radar. Ich habe das System mit meinem Musikgeschmack gefüttert und alles, was mir vorgeschlagen wird, fällt auch unter meinen Geschmack. Das macht es so schwer, da auszubrechen: Man kann Lieder nebenbei laufen lassen, muss wenig tun und findet scheinbar "neues" Zeug. Mein einziges Investment war, sich auf Montag ("Dein Mix der Woche") und auf Freitag ("Release Radar") zu freuen.

Aber mein Musikgeschmack ist doch breiter, als Spotify es von mir glaubt: Mein momentaner Mix der Woche ist schon wieder voll mit Trap. Mein Release-Radar zeigt mir fast ausschließlich Trap und Rap. Und in meinen Playlistvorschlägen scheint es so, als würde ich auch nur Trap und Rap hören. Dabei höre ich noch viel Techno, viel D'n'B, viel Deutschrap, Indie und Jazz. Obwohl ich diese Musikrichtungen genauso auf Spotify streame, bekomme ich wenige bis gar keine Vorschläge für diese Genres. Und so sind diese in den letzten zwei Monaten langsam verkommen und ich habe mich zu einem Trap-Head entwickelt, der neue Künstler aus Südamerika mit 2000 Views auf YouTube kennt.

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Jede Musikempfehlung in "Dein Mix der Woche" basiert zum einen auf den Songs, die der Nutzer aktuell gerne hört, sowie auf dem, was andere Nutzer mit ähnlichen musikalischen Vorlieben in Playlists speichern und häufig streamen. Jeder Nutzer erhält auf diese Weise eine einzigartige und circa zwei Stunden lange Playlist mit neuen Entdeckungen. Da sich der Musikgeschmack über die Zeit weiterentwickelt, passt sich auch Dein Mix der Woche wöchentlich an. Je mehr Musik der Nutzer streamt, desto genauer und passender werden die Empfehlungen.

Spotify zu "Dein Mix der Woche"

Deshalb wurde es Zeit, mal aus meiner Blase auszubrechen: Wenn ich so ein Nischenwissen von Spotify im Bereich des Traps bekomme, wie geht es nur meinen Kollegen, die ganz andere Dinge hören? Ich habe also Samantha, Isabella und Benji nach ihren "Mix der Woche" gefragt – alle drei hören ganz andere Musik als ich und alle drei finden nicht, dass der "Mix der Woche" ihren kompletten Musikgeschmack covert. Ich wollte herausfinden, wie Nischenmusik in ihrem Bereich klingt und ob sich mein Mix der Woche tatsächlich an die neuen Plays anpasst.

Isabella hört Dark-Wave, Industrial und EBM

Bis zu ihrer Spotify-Bubble hatte ich nur eine vage Vorstellung von diesen Musikrichtungen. Also eigentlich wenig bis keine. Das Schöne an dem Experiment: Ich habe Musik gehört, nach der ich nicht mal aktiv suchen würde, weil ich wirklich gar keine Berührungspunkte habe. Nachdem ich zwei Stunden Isabellas Mix gehört habe, habe ich mir auch ihren Release-Radar schicken lassen. Mir gefielen mehr Lieder als ihr selbst. Keinen einzigen Künstler von ihrer Liste habe ich namentlich gekannt, keinen Track schon mal gehört – was meine Theorie bestätigt, dass wir auf Spotify alle Nischenhörer und -Experten werden. Und wir deshalb viel öfters tauschen sollten.

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Benji hört Indie, HipHop und Elektro

Falls ich davor wenig Vorstellung von "Benjis" Indie hatte (der sich irgendwie stark von meinem unterscheidet), habe ich sie jetzt ziemlich sicher. Bei seinem Mix habe ich drei Künstler gekannt, aber sie überhaupt nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Elektro und HipHop waren kaum vertreten. Auch hier wieder: Es waren keine Lieder dabei, auf die ich auch bei einer aktiven Suche gestoßen wäre, die ich aber trotzdem gut fand. Das Algorithmus-Problem hat eben nicht Spotify erfunden – das kennen wir schon von der YouTube- und Soundcloud-Autoplay-Funktion – aber eben perfektioniert. Ab seinem Mix habe ich mir vorgenommen, jede Woche nach einem neuen Mix der Woche meiner Freunde zu fragen. Nischentracks eines Genres sind oft wirklich nicer, als die berühmten Vertreter-Tracks. Spotify weiß das, ich nun auch.

Samantha hört Pop, Melancholic und Techno

Lustigerweise hatte sie auch ein Lied von the Kilimanjaro Darkjazz Ensemble in ihrer Playlist – dasselbe wie Isabella, obwohl beide eher unterschiedliche Musik hören. Auch auffällig: Alle drei waren viel kritischer mit ihrem Mix der Woche, als ich beim Hören derselben. Umgekehrt habe ich einem Freund meinen Mix geschickt und auch sofort dazu gesagt: "Diese Woche ist für mich nichts dabei." Entweder wir werden alle sehr verwöhnt – im Zwei-Wochen-Takt – oder man ist einfach in "seinem" Geschmack automatisch kritischer. Auch richtig cool: In ihrer Playlist war ein russischer Song – meine Blase ist endgültig geplatzt.

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Fazit

Es ist eh logisch, aber durch dieses Experiment wurde es mir noch viel bewusster: Man ist neuer Musik gegenüber nicht so kritisch, wenn man mit dem Genre/Sound nicht bewandert ist. Offen in ein neues Feld einzutauchen, macht nicht nur Spaß, es bringt auch wirklich etwas. Ich habe in allen drei Playlisten Lieder für mich gefunden – obwohl ich mir am Anfang des Experiments sicher war, dass ich Isabellas Mix nicht aushalten werde, Benjis Tracks immer weiterskippe und Samanthas nach drei Lieder schließe. Es war echt nicht so, obwohl alle drei keine großen Fans von ihrem "Mix der Woche" sind.

Ich muss mich aktiver auf die Suche nach neuer Musik, aber auch nach neuen Strömungen machen. Es ist sehr einfach, mit einem Spotify-Account faul zu werden – aber man führt dann, im wahrsten Sinne des Wortes, ein eintöniges Leben. Und ich bin wohl nicht die Einzige, die Spotify eher mit ein bis zwei Genres füttert. Natürlich könnte ich wie Benji auf Blogs zurückgreifen. Oder wie Sam auf Serien-Musik. Aber ich glaube, dass es mehr Sinn macht, wenn ich meinen Spotify-Algorithmus mit fremden "Mix der Woche" füttere. Zumindest ist eine Woche später in meinem "Mix der Woche" ein russischer Rap-Song vertreten und zwei Indie-Songs, was ich einfach mal dem Experiment zuschreibe.

Außerdem erkundet man so neue Seiten an seinen Mitmenschen. Immerhin ist der Musikgeschmack das beste Psychogramm. Und so spare ich mir die Nischensuche, da ich mit dem "Mix der Woche" gleich mitten im Genre bin. Halt ein Genre, das Spotify aussucht und nicht der Mensch direkt. "DEIN Mix der Woche" ist halt eine Lüge. Es sollte eher "Unser Mix der Woche für dich" heißen.

Fredi hat Twitter: @schla_wienerin