So landet man 2017 einen Nummer-eins-Hit
Screenshot von YouTube aus dem Video "DJ Khaled - Wild Thoughts ft. Rihanna, Bryson Tiller" von DJKhaledVEVO

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So landet man 2017 einen Nummer-eins-Hit

Vor 30 Jahren wurde die perfekte Hit-Formel entdeckt. Aber gilt die heute noch?

1988 veröffentlichten die Musikindustrie-Trolle The KLF Das Handbuch – Der schnelle Weg zum Nr. 1 Hit. Dieser versprach nicht weniger, als jeden – unabhängig von Talent – an die Spitze der Charts zu katapultieren. Auch dich. Du musst dich dafür nur an ihre "goldenen Regeln" halten. Bill Drummond und Jimmy Cauty, die beiden Köpfe hinter The KLF, hatten kurz davor als Timelords mit "Doctorin' the Tardis" bereits bewiesen, wovon sie sprechen.

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Auch wenn KLF gleich ihren ganzen Back-Katalog löschten und ihre Platten aus dem Verkauf nahmen, als sie sich 1992 mit einem gigantischen Knall aus dem Musikgeschäft verabschiedeten, hat "Doctorin' the Tardis" zum Glück auf YouTube überlebt. Wie ihr an dem Song seht, konntet ihr 1988 vermeintlich unpassende Elemente – die Titelmelodie von Doctor Who und "Rock and Roll" des inzwischen überführten Pädophilen Garry Glitter – miteinander kombinieren, für das Video mit einem 1968er Ford Galaxie Polizeiwagen durch die britische Pampa heizen und – Voila! – ein Nummer-eins-Hit. Und es kommt noch besser. Ein Jahr später bewies die österreichische Formation Edelweiss, dass das Handbuch durchaus ernst zunehmen war. Sie verkauften 5 Millionen Kopien ihrer Hitsingle "Bring Me Edelweiss" , für das sie "SOS" von ABBA mit etwas Gejodel vermischten. Sie hatten sich dabei penibel an die deutsche Übersetzung des Handbuchs gehalten.

Aber kann man auch 2017 noch mit den "goldenen Regeln" einen Hit landen? In den 29 Jahren seit das Handbuch erschienen ist, hat sich Popmusik stark verändert – sowohl hinsichtlich der Verfügbarkeit für den Konsumenten, als auch der Wahrnehmung von Authentizität, die damals aus unerfindlichen Gründen anscheinend sehr wichtig war. Aber vielleicht sind die modernen Mechaniken des Popgeschäfts am Ende doch gar nicht so anders? Wir haben mit analytischem Sachverstand die größten Hits dieses Jahres unter die Lupe genommen und mit den wichtigsten Ratschlägen aus dem Buch verglichen.

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Damals: "Schau dir jede Woche aufmerksam Top of the Pops an und lerne davon."

Heute: Top Of The Pops gibt es nicht mehr. Was machst du also? Du folgst unfassbar vielen Instagram-Accounts, um dich inspirieren zu lassen. Dadurch dürftest du den passenden Look für die Bühne und abseits der Bühne schon finden. Schließlich ist Instagram ein durch und durch ehrliches Tool, das wirklich alle Facetten eines Künstlers repräsentiert – solange dieser nicht plötzlich aus Promogründen alle Bilder löscht und mit Schlangenfotos ersetzt. Alternativ kannst du dir natürlich auch alte Top of the Pops-Auftritte bei YouTube anschauen und so einen Vintage-Look aus den 80ern oder 90ern zusammenklauen.

Damals: "Du musst pleite sein und von der Stütze leben."

Heute: Wenn du 2017 pleite bist und keinen anständigen Job hast, dann bist du dank Kunst + Krempel-Bingewatching vielleicht Experte für antike Vasen, deine Chancen auf einen Nummer-eins-Hit bleiben allerdings bei null. 1988 galt ein Arbeiterschicht-Background für das Popstardasein als Voraussetzung, sowie das Kunststudium in den 70ern. Heute sind es vor allem vier Worte, die Briten einen Platz an der Spitze sichern: Sylvia Young Theatre School. Adele, Amy Winehouse und Rita Ora waren alle da. Die frischgekürte Nummer eins, Dua Lipa, ist auch eine ehemalige Schülerin.

The KLF gingen damals noch davon aus, dass du nicht arbeiten oder studieren und dich gleichzeitig voll deinem Projekt widmen kannst. Clean Bandit hingegen, die dieses Jahr schon einen Nummer-eins-Hit hatten, haben sich am Jesus College in Cambridge kennengelernt. Selbst so ein bodenständiger Jedermann wie Ed Sheeran (Vater Kunstkurator, die Mutter Schmuckdesignerin) hat beinahe ein Auge verloren, als Prinzessin Beatrice ironisch James Blunt zum Ritter schlagen wollte. Die 2017er Version von "Du musst pleite sein und von der Stütze leben" heißt dann wohl "Du musst sehr reich und unfassbar wohlhabend sein."

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Damals: "Wenn du deinen Tee ausgetrunken und aus dem Fenster geschaut hast (um dich zu vergewissern, dass die Welt noch steht), musst du dich für eins der vielen Studios entscheiden."

Heute: Auf Aufnahmestudios kannst du buchstäblich scheißen. Wenn du dich gerne von einem alten, in der Bedeutungslosigkeit versunkenen Industriefurz, der bei K2's "Der Berg ruft" die Knöpfchen gedreht hat, rumkommandieren lässt, nur zu. Wenn du jemandem 90 Euro die Stunde in den Rachen wirfst, damit er den Aufnahme-Knopf und danach wiederholt den Stop-Knopf drückt, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass du unfassbar reich, sehr wohlhabend und offensichtlich sehr minderbemittelt bist. Wenn du nicht gerade Geld zu verbrennen hast, besorg dir einen Computer, etwas Software und mach dich selbst ans Werk. FFS.

Damals: "Er braucht einen Groove, der sich durch die ganze Platte zieht und den die aktuelle Singles-kaufende Generation unwiderstehlich findet."

Heute: Puuuh. Wo soll ich anfangen? Das Äquivalent der "Singles-kaufenden Generation" von heute sind wahrscheinlich Leue, die die RapCaviar Spotify-Playlist abonniert haben und Merch, dafür aber keine Platten kaufen. 2017 müsste man das wohl so formulieren: "Klau Grooves von alten Platten und verkauf sie als deine eigenen. Lass dich nur nicht dabei erwischen." Es sei denn, du bist Robin Thicke. Wenn du Robin Thicke bist, dann kostet dich dieser Spaß 7,3 Millionen US-Dollar.

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Damals: "Er muss aus einem Intro, eine Strophe, einem Refrain, einer zweiten Strophe, einem zweiten Refrain, einem Breakdown, einem doppelten Refrain und einem Outro bestehen."

Heute: Dua Lipas "New Rules" führt obige Formel – wie sie so viele andere Songs in der Post-Max-Martin-Ära – ad Absurdum, indem es überhaupt keinen Refrain hat. Hallo, wir haben 2017! Heute können Songs in dem Format "Hook nach Hook mit einer Art Chorus" die Charts dominieren. Tatsächlich lässt die Frage, ob Nummer-eins-Hits in den letzten 15 Jahren mehr oder weniger formelhaft geworden sind, gar nicht mal so leicht beantworten. Wer zur Hölle weiß schon, was in den letzten 15 Jahren alles in den Charts war?

Damals: "Lyrics: Du brauchst ein paar, aber nicht viele …"

Heute: "So, rockabye baby, rockabye, I'm gonna rock you / Rockabye baby, don't you cry, somebody's got you", singt Anne-Marie im Refrain von "Rockabye Baby", einem Track der Elite-Uni-Absolventen Clean Bandit über das Dasein als arme Single-Mutter. Sean Paul haut dazu noch ein paar Bars raus, aber insgesamt besticht der Song durch seine Einfachheit. Aus einer textlichen Perspektive ist der vielleicht überraschendste Hit des Jahres "Despacito". Nichtenglische Hits waren in den 80ern extrem selten, heutzutage gibt es immer mal wieder welche. Das liegt natürlich auch am Internet. Luis Fonsi kann die meisten YouTube-Besuche aller Zeiten verbuchen, K-Pop-Sensation Psy ist inzwischen auf Platz drei verdrängt. Was hier an dieser Stelle aber auch gesagt werden muss: Fonsi ist kein Cervantes. Eine Übersetzung seiner Hit-Lyrics gefällig? "Ich will dich mit Küssen ausziehen, langsam … Spring auf! Spring auf!" Na ja, wenn es funktioniert, dann funktioniert es.

Damals: "Wir empfehlen, dich nicht um Instrumentals zu bemühen, solange du nicht Jimi Hendrix dafür gewinnen kannst"

Heute: In den 1970ern lebten Bands in der Annahme, dass das Publikum nichts lieber will als einen Lead-Gitarristen, der mindestens sechs Minuten mit verzerrtem Gesicht auf seinem Instrument rumnudelt und dabei aufdringlich seinen Schritt nach vorne presst. Punk räumte mit diesem ganzen Schwachsinn eigentlich auf, aber in den 80ern war es immer noch unerlässlich, einen berühmten Musiker etwas Sternenstaub auf deine Platte rieseln zu lassen, wenn du selbst noch nicht bekannt genug warst. Siehe zum Beispiel: Stevie Wonder und seine Mundharmonika auf berühmten Platten von Chaka Khan, Eurythmics, Elton John und vielen mehr.

Heutzutage sind Popstars weitaus weniger darauf angewiesen, sich Eddie Van Halen ins Studio zu holen, damit er dem Track mit seiner Axt noch einmal gehörig den Arsch aufreißt – siehe Michael Jackson mit "Beat It". Nichtsdestotrotz lesen sich die Listen von Gastsängern und -Rappern moderner Hits wie Spielfilmbesetzungen. Nimm nur DJ Khaleds "I'm The One", in dem er Justin Bieber, Quavo, Chance the Rapper, Lil Wayne und einen extravagant plärrenden Vocoder in ein und denselben Track gequetscht hat. Für einen Chartstürmer musst du heutzutage also so viele Künstler wie möglich in einen Track packen – und mindestens einer von ihnen sollte Justin Bieber sein. DJ Khaled erfindet seine eigenen goldenen Regeln und wird zu einem "wandelnden Meme" – einer echten Internetsensation. Er beweist außerdem eindringlich, dass du auch 2017 kein Talent brauchst.

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