Das würde mit euch passieren, wenn ihr immer im Festival-Partymodus leben würdet
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Festival Guide

Das würde mit euch passieren, wenn ihr immer im Festival-Partymodus leben würdet

Die drei Tage Vollgas auf dem Festival sind pures Leben. Eine Neuropsychologin hat uns erklärt, warum es trotzdem gut für unser Hirn ist, dass Festivals ein Ende haben.

Dieser Artikel ist Teil des VICE Guides für Festivals, alle Texte findet ihr hier.

Ja, Feiern ist super, aber seid ihr schon mal von einem Festival nach Hause gekommen, habt warm geduscht und die Stille eures Zimmers genossen? Genau, so fühlt sich der Himmel an. Oder eben die Dankbarkeit, die warm und wallend durch eure Adern fließt, weil ihr euren Körper die letzten drei Tage eher wie ein durchnässtes Zelt als einen Tempel behandelt habt.

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Bei dem ganzen Spaß, den so ein Festival mit sich bringt, vergisst man, dass man gerade mehr trinkt, als für ein Nilpferd gut wäre, dass man den Schlafrhythmus eines überarbeiteten Investmentbankers übernommen hat und dessen Konsumverhalten gleich mit. Dabei prasselt dann noch ständig Lärm auf euch ein – kein Wunder, dass die Ohren später im stillen Zimmer erst mal klingeln.

Aber was würde eigentlich passieren, wenn man den Festival-Lifestyle einfach länger als das übliche Wochenende leben würde? Wenn sich die Kombination aus Dauerspaß, Rausch, Schlafmangel, schlechter Ernährung und Konzertlärm auf mehrere Wochen ausweiten würde? Wir haben uns mit der Neuropsychologin Dr. Andrea Diebel in ihrer Praxis in Berlin-Moabit getroffen und sie gefragt, welche Folgen unsere Festival-Eskapaden fürs Gehirn haben.

Noisey: Festival-Alltag bedeutet neben unregelmäßigem Schlaf für viele auch Alkohol trinken und Drogen nehmen. Ab wann schadet das dem Gehirn?
Dr. Andrea Diebel: In niedriger Dosierung wirkt Alkohol erst einmal wie eine leichte Stimulanz, dann enthemmt es ein bisschen und die soziale Interaktion wird leichter. Man fühlt sich gut, die Stimmung ist gehoben. Aber wenn der Promillegrad steigt, überwiegen die beruhigenden Effekte von Alkohol, er wirkt dämpfend. Das liegt daran, dass es in bestimmte Neurotransmittersysteme eingreift und so eher müde macht. Irgendwann kommt es dann zu einer Vergiftung, die bei vier oder fünf Promille auch zum Tod führen kann.

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Mittelfristig würde man sagen, dass Leute, die über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten Alkohol in größeren Mengen konsumieren, eine Alkoholkonsum-Störung aufweisen, die zu Entzugserscheinungen führen kann. Diese Störung hat allerdings diagnostische Kriterien, die erfüllt sein müssen. Langfristig schädigt Alkohol auch innere Organe und das Gehirn.


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Welche Bereiche des Gehirns werden konkret beschädigt?
Bei langfristigem Alkoholkonsum in größeren Mengen ist vor allem das Frontalhirn betroffen. Auch wichtige Gedächtnisstrukturen wie der Hippocampus werden bei einem solchen langfristigen Alkoholkonsum beschädigt. Im Extremfall kommt es zum sogenannten Korsakow-Syndrom, das durch schwere Gedächtnisstörungen gekennzeichnet ist. Menschen können sich Dinge nicht mehr merken und bei schweren Verlaufsformen auch mit der Zeit nicht mehr auf alte Gedächtnisinhalte zurückgreifen.

Was bedeutet "langfristiger Alkoholkonsum" genau?
Monate- bis jahrelanger Alkoholmissbrauch. Das Korsakow-Syndrom entsteht meist erst nach mehreren Jahren oder Jahrzehnten des intensiven Trinkens.

Gibt es Entzugserscheinungen, die nach wenigen Tagen starkem Alkoholkonsum auftreten?
Zunächst mal kommt es zu einem Kater, das kennt ja wahrscheinlich jeder. Kopfschmerzen, Übelkeit und unter Umständen Erbrechen. Trinkt man über einen längeren Zeitraum 60 Gramm Alkohol und mehr, können Entzugssymptome auftreten. Ein Entzugssyndrom hat drei Stadien. Nach ein paar Stunden Alkoholentzug ist das Gehirn, das die ganze Zeit gedämpft wurde, auf einmal erregt. Es entsteht ein Tremor, man fängt also an zu zittern, unter Umständen bricht man oder schwitzt stark. Nach 15 bis 30 Stunden kann es zu Krampfanfällen des Gehirns oder zum Delirium Tremens kommen. Das wäre die schwerste Form des Entzugs.

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[Anmerkung der Redaktion: Die BZgA hält für Frauen einen täglichen Konsum von über 12,5 Gramm Alkohol für gesundheitsschädlich, für Männer gilt das Doppelte. Zur Einschätzung: 330 ml Bier enthalten ca. 12,7 Gramm, 100 ml Wein ca. 8,8 Gramm]

Wie machen sich Krampfanfälle des Gehirns bemerkbar?
Einen Krampfanfall oder epileptischen Anfall kann man sich vorstellen wie ein Blitzgewitter im Gehirn, also eine unkontrollierte elektrische Aktivität. Das ist allerdings nach wenigen Tagen nicht realistisch, da handelt es sich dann eher um eine chronische Abhängigkeit.

Ab wann wäre man abhängig?
Das hängt von mehreren Faktoren ab und passiert eher über Jahre, dass Menschen abhängig werden. Hier spielt die Disposition eine Rolle, also wie der Stoffwechsel funktioniert, wie die soziale Situation aussieht. Zum Kontrollverlust kommt es beim einen nach Monaten, beim anderen nach Jahren. Auch für die Abhängigkeit von Substanzen gibt es Diagnosekriterien.

Ab wann ist die Kombination von Alkohol, Drogen und Schlafmangel gefährlich?
Insbesondere bei Amphetaminen ist es ja so, dass wenig geschlafen wird. Schlafmangel hat neuropsychologisch verschiedene Auswirkungen. Bei starker Müdigkeit sind Aufmerksamkeitsfunktionen beeinträchtigt, es kommt zum Kurzschlaf, man ist erhöht ablenkbar, die Reaktionsbereitschaft nimmt ab. Schlafentzug über einen längeren Zeitraum führt zu Gedächtnisproblemen und vor allem zu sogenannten exekutiven Funktionsstörungen. Das ist alles, was mit Handlungsplanung und Problemlösung zu tun hat. Ein Bereich, der unter Alkoholeinfluss sowieso schon Probleme macht.

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Welche Personen sind anfällig, einen schnellen Kontrollverlust zu erleiden?
Generell anfällig für psychische Störungen sind Personen mit einer psychischen, organischen oder lebensgeschichtlich erworbenen Anfälligkeit für eine Krankheit, zum Beispiel für Schizophrenie oder eine bipolare Störung. Wenn sie Drogen konsumieren, besonders in Kombination mit weiteren Mitteln, ist die Gefahr hoch, dass die Krankheit ausbricht oder die Person einen Schub bekommt. Leute, die vorher schon viele verschiedene Substanzen regelmäßig konsumiert haben, erreichen dann vielleicht einen Punkt, an dem es kippt – oder es kommt zu einer Toleranz. Ist man es gewohnt, Alkohol zu trinken, hat man erhöhte Leberenzyme und kann den Alkohol so besser abbauen.

Wie wirken unruhiger Schlaf und Schlafmangel auf das Gehirn?
Es gibt neuropsychologische Defizite, die bei Schlafmangel auch kurzfristig auftreten können. Die Gedächtnis-Enkodierung und -Konsolidierung können irgendwann gestört sein. Das bedeutet, dass es schwer fällt, Informationen aufzunehmen und abzuspeichern. Bei Schlafmangel sind vor allem Aufmerksamkeitsstörungen zu erwarten und später auch Gedächtnis- und exekutive Störungen.

Wie geht der Körper mit der Lautstärke auf Festivals um? Kann das Gehirn den Lärm irgendwann nicht mehr ertragen?
Man muss unterscheiden zwischen Lärm, der für einen selbst kontrollierbar ist, und nicht kontrollierbarem Lärm, der Stress erzeugt. Eine Stressreaktion ist eigentlich evolutionsbiologisch sinnvoll, weil diese Vorgänge dabei helfen, zu flüchten oder gegen etwas anzukämpfen. In der Natur flacht diese Reaktion nach der Stresssituation wieder ab, der Organismus kann sich erholen. Wenn man lange diesen Stresshormonen ausgesetzt ist, verändern sich Immunsystem und Gehirn. Man schläft schlechter und schüttet einen erhöhten Pegel an Stresshormonen aus. Wenn man auf einem Festival ist, hört man sich aber im besten Fall Musik an, die euphorisierend wirkt, die man gut findet. Das wird dann nicht als Lärm empfunden.

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Was passiert eigentlich, wenn man zu viele Glückshormone ausgeschüttet hat, gerade beim Serotonin. Kann der Körper nicht nachkommen, Serotonin zu bilden?
Wenn viele Glückshormone ausgeschüttet wurden und der Zustand dann vorüber ist, bemerkt man den Unterschied bezüglich der Stimmung vielleicht deutlicher. Insbesondere wenn die Wirkung aufputschender Drogen vorüber ist.

Auch das kommt auf die Substanz an, die konsumiert wurde. Man kann pauschal nicht sagen, dass der Körper nicht nachkommt, Serotonin zu bilden. Ein Mangel an Serotonin kann jedoch auf Dauer zu Depressionen führen. Vor allem bei Personen, die dafür anfällig sind. Auch bei Amphetaminen kann es zur Depression kommen, da sich der Hirnstoffwechsel dabei nachhaltig verändern kann. Verschiedene Drogen zielen auf verschiedene Neurotransmittersysteme im Gehirn ab.

Können dabei Wahnzustände entstehen und wird man so wahnsinnig?
Wahnvorstellungen und Halluzinationen können vor allem bei Halluzinogenen wie LSD oder Pilzen entstehen. Bei Mischkonsum und Schlafmangel wirken besonders viele Reize negativ und können sich auch gegenseitig verstärken. Es gibt besonders gefährdete Personengruppen, zum Beispiel wenn bereits eine psychische Erkrankung besteht.

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Unterm Strich: Solltet ihr also gerade planen, 365 Tage lang einen Festival-Lifestyle zu leben, solltet ihr euch das vielleicht (dringend) nochmal überlegen.

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